Caesoninus hatte eine beachtliche Rede gehalten und so klatschte Tiberius auch gebührenden Beifall.
Er erwiderte den Klapps auf die Schulter und grinste. "Dank dir."
Dann konzentrierte er sich wieder auf die Rede. Es war ein erhebendes Gefühl auf die Plattform zu steigen. Die Lautstärke der Menge, die er hinter der Rostra nur gedämpft gehört oder in seiner Konzentration einfach nicht wahrgenommen hatte, war nun dabei, ihn zu überwältigen. Er blinzelte, als die Aufregung wie eine Welle über ihn herein brach. Zum Glück hatte er keine Zeit, groß herum zu hampeln. Tiberius atmete tief ein und aus, gab sich einen Ruck und marschierte festen Schrittes zum Rand der Rostra damit ihn alle sehen konnten. Dort angekommen blickte er kurz herum. Das Forum war durchaus voll geworden.
Tiberius nutzte die Zeit, die das Publikum brauchte, um etwas zur Ruhe zu kommen, um auch die "Richterbank" mit einem respektvollen Nicken zur Kenntnis zu nehmen und wandte sich dann aber wieder dem großen Publikum auf dem Platz zu. Er hörte der Menge kurz zu, die nun, da der nächste Redner oben stand, zügig leiser wurde. Trotzdem konnte er etwas von der Stimmung einfangen. Leicht, fast volksfestartig. Die Leute waren hier um eine gute Zeit zu haben und sich in ihrer eigenen römischen Größe bestätigen zu lassen. Hervorragend.
Schließlich begann er zu reden.
"Quiriten. Es ist mir heute eine ganz besondere Ehre vor euch zu sprechen und ich danke dem gewesenen Konsul und ehrenwerten Pontifex pro magistro Flavius Gracchus dafür, dass er uns hier zusammen gerufen hat, um Roma, unsere Stadt, gebührend zu ehren."
Tiberius hatte die schon etwas altertümliche Anrede "Quiriten" für die Römer als solche mit Bedacht gewählt. Sie sollte gleich von Anfang an den "traditionelle" Ästhetik, die er in der Rede haben wollte, etablieren. Ansonsten hielt er die Einleitung bewusst kurz. Die Leute wollten keine Lobrede auf die Honorationen der Stadt hören, sondern auf Rom selbst.
Er achtete auch darauf laut und deutlich zu reden. Unter freiem Himmel trug die Stimme nicht besonders weit. Er hatte das in den letzten Tagen höchstpersönlich ausprobiert, um eine Ahnung davon zu bekommen, wo er mit der Lautstärke hin musste. dabei hatte er herausgefunden, dass es weniger die Lautstärke das Problem war, sondern die Deutlichkeit der Worte. Es hatte ihn einige Zeit gekostet, um heraus zu finden, wo die goldene Mitte zwischen Nuscheln und überdeutlicher Gesichtsakrobatik lag.
Er fuhr fort.
"Und da bräuchte ich hier gar nicht allzu viele Worte zu machen. Wir alle kennen doch die Größe unseres Gemeinwesens und unserer großartigen Stadt. Schauen wir uns doch nur einmal um. Wir sind von den Göttern schon dadurch besonders gesegnet, dass wir von uns behaupten können, in der Sicherheit dieser Mauern zu sein und zwischen ihren Gebäuden zu gehen.
Es findet sich nirgendwo auf der Welt ein Ort, der sich mit dieser Stadt messen könnte. Keine andere Stadt nennen so viele ihre Heimat. Nirgendwo sonst werdet ihr so viel Pracht und Anmut in den Gebäuden finden und nirgendwo einfallsreichere Bauwerke, die uns das Leben so erleichtern. Von den Straßen, die täglich die Last des Reiches auf ihren Steinen tragen, zu den Aquädukten, die unsere Stadt mit ihrem Wasser am Leben erhalten. Händler aller Länder spülen die Reichtümer der Welt Tag für Tag zu diesem Ort. Unser Reichtum ist ohne Beispiel auf dem ganzen Erdkreis."
Tiberius wollte das beschreiben, was die Zuschauer auch tatsächlich sehen konnten. Straßen, Mauern und Aquädukte waren praktischerweise nicht nur Errungenschaften der römischen Zivilisation, sondern auch Dinge die die Leute sehen, anfassen, "benutzen" konnten. Seine Rede sollte an dieser Stelle gezielt plastische Inhalte haben. Und eine Referenz zum Reichtum der Stadt ging natürlich immer.
Aber nun war es Zeit für die Antithese:
"Und doch, Quiriten, mag in so manchem unter uns gelegentlich Zweifel an unserer Größe aufkommen. Berichtet man uns nicht, die Barbaren des Nordens seien größer und stärker, als wir es gewöhnlich sind? Sagt man nicht, dass die Griechen geistreicher und intelligenter seien als wir? Manche behaupten, die Pyramiden in Aegyptus seien die größten Bauwerke, die jemals Menschen zustande gebracht haben. Und wer weiß, welche Pracht und Größe in den Ländern des Fernen Ostens auf den ausdauernden Reisenden warten? Können wir uns also wirklich hier versammeln und proklamieren, Roma sei das Beste und Größte, was die Menschheit je erschaffen hat und wir die besten und größten, die diese Stadt rechtmäßig ihr Eigen nennen? Oder haben wir uns nur die guten Eigenschaften anderer zu Nutze gemacht? Die Kraft und Schnelligkeit der Barbaren, die uns als Sklaven unsere Bauwunder verwirklichen? Und die Philosophie und Architektur und sogar die Mythen, von denen die Griechen behaupten, sie gehörten eigentlich ihnen?"
Einfach die ganze Zeit unreflektiert zu rufen, "Wir sind toll!" hätte es für Tiberius nicht getan. Er trug das natürlich mit einem etwas ironischen Tonfall und hochgezogenen Augenbrauen vor, so wie er vor Gericht eine interessante aber letztlich abwegige Idee der Gegenseite abhandeln würde. Das Publikum sollte mit diesen Fragen vor allem zum Denken über seine Worte angeregt werden, um dann aber zu dem Schluss zu kommen, den Tiberius ihnen nun anbieten würde:
"Diesen Zweifeln, Quiriten, können wir selbstbewusst und mit Gewissheit entgegen treten. Wir können uns unseres Platzes in der Geschichte als größtes Gemeinwesen der Welt sicher sein. Denn es sind nicht die Kraft unserer Arme oder die Gewitztheit unseres Geistes allein, die uns besonders machen. Diese können bestenfalls Mittel zum Zweck sein. Kraft allein garantiert weder Erfolg im Frieden noch im Krieg und der schlaue und gewitzte Geist allein ist besonders anfällig für die Korruption der niederen Gelüste."
Das trug er nun im Gegensatz zum vorherigen Abschnitt mit besonderer Entschiedenheit. Klare Gesten und ein schärferer Tonfall. Der Zweck war klar. Barbarische Kraftmeierei und östliche Dekadenz taten es nicht.
"Nein, Quiriten, was uns ausmacht, ist die uns eigene Tugend, die uns von unseren Vorvätern vermacht wurde, und die wir gemeinhin Virtus nennen. Wir finden sie in den Beispielen, die uns unsere Geschichte überliefert. Wir finden sie in der Kraft und dem Mut, die der Gründer Romulus uns zeigte, als er die Widrigkeiten der alten Zeit überwand und diese Stadt gründete.
Wir finden sie in dem Pflichtgefühl, das Cincinnatus uns so trefflich vorführte, als er der Versuchung der Gier, der Ruhmsucht und der Korruption der Macht widerstand und nach getaner Pflicht zu seiner Arbeit an der Scholle zurückkehrte, so wie es geziemte.
Wir finden diese Tugend und Tapferkeit und Kriegskunst mit der der große Scipio Africanus die Karthager besiegte und dafür sorgte, dass niemand mehr die Vorherrschaft Romas über den Erdkreis anzuzweifeln wagte. Wir finden sie in unserem Recht, das jedem die Möglichkeit bietet, Gerechtigkeit zu erlangen. Wir finden sie in der Tüchtigkeit unserer Händler und der Tapferkeit unserer Soldaten, denen kein Feind je dauerhaft wird widerstehen können."
Nun kam natürlich die Synthese mit der Tiberius den Leuten die Großartigkeit ihrer eigenen Geschichte und ihrer Tugend vor Augen führen wollte. In einem gebildeten Salon mochte das alles vielleicht etwas abgedroschen sein, aber das hier war eine Volksrede und Tiberius musste Beispiele nehmen, die allgemein bekannt waren.
Während dieser Aufzählung wurde er stetig etwas lauter und schneller und erhöhte auch seine eigene Körperspannung. Hier musste die Energie sein.
Das praktische an "Tugend" war natürlich, dass es sich doch um ein metaphysisches, zwar bekanntes, im Ganzen aber eher unscharfes Konzept war. Es gab den Leuten in der Menge die Gelegenheit sich mal als "etwas Besseres" zu fühlen, und zwar als etwas Besseres im Gegensatz zu den "Barbaren" und "Dekadenten". Vor allem wollte Tiberius aber einen Nerv bei der aus nobiles bestehenden Richterbank treffen. Die würden mit dem Konzept bestens vertraut sein und sicher nichts dagegen haben, wenn man ihnen diese römischste aller Tugenden so entschieden zuschrieb.
Eines durfte aber in der Reihe des Positiven nicht fehlen.
"Und wir finden sie in der Weisheit des göttlichen Augustus, der den Staat rettete und eine nie gekannte Zeit des Wohlstands in das Gemeinwesen brachte, die der gegenwärtige Princeps mit so viel Geschick und Weisheit weiter führt. Möge er die Geschicke des Staates noch eine lange Zeit weiter lenken."
In seiner Rede keinen Bezug zum Kaiser zu machen, wäre Tiberius mindestens als unweise vorgekommen.
Nun wurde es Zeit für den Schlussakkord. Das hier war eine Volksrede auf dem Forum. Allzu langes herum monologisieren, würde die Aufmerksamkeit des Publikums ermüden und das würde auch die Richterbank zur Kenntnis nehmen.
Noch einmal kondensieren und zuspitzen. Ein Bezug auf den Segen der Götter und ein klarer Schlusspunkt. Eine ernste, eindringliche Mimik und eine starke, aber sparsame Gestik
"Solange wir diese Tugend in uns behalten, ist uns der Segen der Götter gewiss. Diese schauen mit Wohlwollen auf uns, die Rechtschaffenen, die Tapferen und Pflichterfüllten. Wir brauchen dazu keinen Pomp, keinen korrumpierenden Überfluss. Seid euch bewusst darüber, wer ihr seid und zu welcher Stadt ihr gehört und jeder unter euch, der Virtus in sich findet, kann sich seiner eigenen Größe sicher sein. Darin, Quiriten, liegt der Glanz und die Größe Romas."
Damit beendete Tiberius seine Rede, hielt aber noch einen Moment die Körperspannung aufrecht. Der Auftritt endet erst, wenn der Spieler von der Bühne ist. Bis dahin musste die Spannung da sein.
Und dann war sein Auftritt auch schon zuende. Er nickte noch einmal der Richterbank zu, trat von der Sichtkannte der Rostra zurück und stieg von der Plattform herab.
Um sich herum nahm er erst einmal nichts weiter wahr. Erst wo die Anspannung nun von ihm abfiel, merkte er, wie groß sie eigentlich gewesen war und es war kein gutes Gefühl. Etwas orientierungslos lehnte Tiberius am Fuß des Bauwerkes. Er würde erst mal Pause machen.