Arwid, dessen Sippe ausgelöscht war und der sich keinem Stamm mehr zugehörig fühlte, weil man ihn aus seinem einstigen Leben gewaltsam herausgerissen hatte, ritt rastlos getrieben und scheinbar ziellos weiter. Unterwegs lebte er von dem, was er sich erjagen konnte. Wie gut, dass sein Vater damals noch die Möglichkeit gehabt hatte, ihn darin zu unterweisen. Die Abende und Nächte verbrachte er am Lagerfeuer, stets auf der Hut vor Wölfen und Bären, aber auch vor denen, die ihm nicht wohlgesonnen waren. Die Schatten seines vergangenen Lebens als Sklave und Gladiator suchten ihn des Nachts in seinen Träumen heim. Jede Nacht kämpfte er denselben Kampf, immer und immer wieder!
Wenn er in ein Dorf kam, das ihn willkommen hieß, blieb er meist ein zwei Tage, bevor er weiterzog. So auch drei Tage später, nachdem er Tyr geopfert und für immer dem Platz seiner Geburt den Rücken gekehrt hatte. Am Abend genoss er dort die Gesellschaft der Männer, mit denen er zusammensaß und Met trank, so konnte er der Stille der Wildnis für kurze Zeit entkommen. Genauso hatte es auch sein Vater und die beiden älteren Brüder gemacht, die damals beide schon zu Männern herangereift gewesen waren. Immer wenn er für einen kurzen Augenblick in Gedanken versank, glaubte er, sie für einen haudünnen Moment in der Runde sitzen zu sehen. Ob der Honigwein ihn bereits berauschte? Nein, Arwid ließ sich nicht täuschen. Er wusste, dass er sie in dieser Welt nicht mehr sehen würde. Sie warteten in Walhalla auf ihn. Dort würden sie eines Tages wieder vereint sein. Dies milderte ein wenig seine Melancholie, so dass er sich wieder auf das Gespräch der Männer konzentrieren konnte. Die Alten sprachen gerade davon, wie gut es ihnen doch ging, seitdem sie Frieden mit Rom geschlossen hatten. Arwid beobachtete die Runde. Sein Blick wanderte über jedes einzelne Gesicht der anwesenden Männer. In vielen spiegelte sich Zustimmung darüber, doch nicht in allen. Einige der Jüngeren schienen eine ganz andere Meinung zu haben. Doch offensichtlich hatte niemand von ihnen den Mut, dagegenzusprechen. Vielleicht war das nun seine Chance, Gleichgesinnte zu finden, die mit ihm gemeinsam für die gleiche Sache kämpfen wollten: Für die Freiheit aller Germanenstämme und für die Genugtuung aller, die mit Rom noch eine Rechnung offen hatten und auf Rache sannen.
„Ihr wähnt euch also in Sicherheit, während ihr euch von dem Tand und den Almosen Roms, blenden lasst? Ihr habt noch nicht Roms wahres Gesicht gesehen!“ Der junge Germane hatte sich erhoben, als er zu sprechen begonnen hatte, streifte seine Tunika über den Kopf und bot den anwesenden Männern seinen nackten Rücken dar. „Seht her! Das ist das wahre Gesicht Roms! Seht, was sie aus euch und euren Frauen und Kindern machen, falls es euch einmal nach Freiheit dürsten sollte!“ Ein unterschwelliges Murmeln unter den Männern machte sich breit. Teils skeptische, teils erschütternde aber auch teils erboste Blicke trafen den jungen Germanen, der sie mit einem herausfordernden Blick taxierte.
„Du bis Gast in dieser Halle, Fremder. Sag uns deinen Namen und was dir widerfahren ist, dass du so sprechen kannst!“ Einer der Alten war ebenfalls aufgestanden und hatte sich an Arwid gewandt.
Arwids Blick bewegte sich zu dem Alten hin. „Mein Name ist Arwid, Hathumars Sohn. Einst gehörte ich zum Stamm der Tenkterer. Vor über zehn Jahren, ich selbst war damals noch ein Knabe, begehrten die Meinen auf gegen Rom, denn es hatte sie nach Freiheit gedürstet. Die Soldaten kamen in unser Dorf, unsere besten Männer fielen im Kampf oder wurden ans Kreuz genagelt, sie brannten alles nieder, vergewaltigten unsere Frauen und legten all die, derer sie habhaft werden konnten, in Ketten, um sie in ihr verdammtes Reich zu verschleppen, um sie dort als Sklaven zu verkaufen. Auch mich hatten sie zum Sklaven gemacht. Doch sie begangen den Fehler, mich in der Kriegskunst zu unterweisen, allein ihres Vergnügens wegen. Ich konnte fliehen. Nun stehe ich hier, um euch zu warnen und auf!“ Das Murmeln der Männer wurde lauter, sie begannen untereinander zu diskutieren bis sich der Alte mit einem lauten „RUHE!“ wieder Gehör verschaffte. „Wir haben mit den Deinen nichts zu schaffen! Uns geht es gut, wir profitieren vom Handel mit Rom. Es wäre besser, wenn du unser Dorf nun verlässt. Heute Nacht noch. SOFORT!“ Die Stimme des Alten war schärfer geworden und seine Gesten waren unmissverständlich, dass Arwid nun gehen sollte.
„Ich beuge mich deinem Willen, alter Mann. Doch ihr anderen seid euch gewiss, ihr werdet den Tag erleben, an dem Rom euch sein wahres Gesicht offenbaren wird. Doch dann wird es zu spät sein!“ Mit diesen Worten wandte sich Arwid zum Ausgang und verließ die Halle. Hinter sich konnte er noch erahnen, wie seine Worte nun für laute Diskussionen zu sorgen begannen. Er begab sich direkt zu seinem Pferd, band es los und ritt davon. Was der junge Germane jedoch noch nicht wusste, war dass sich kurze Zeit später einige der jüngeren Männer es ihm gleichtaten, ebenfalls das Dorf verließen und ihn verfolgten.