Beiträge von Aglaia

    Aglaia achtete nicht darauf, ob sich Livianus auch ordentlich schämte, sie war viel zu beschäftigt mit sich selbst. Erst, als er auf einmal neben ihr saß und ihre Hand nahm, sah sie zu ihm. Und war erst einmal perplex. Sie sollte mitkommen? Nach Germania?


    Aglaia konnte erst einmal nichts antworten. Ihre Gedanken kreisten. In Germania war es kalt, und barbarisch, und überhaupt, gab es dort irgendwas, das sich als Leben bezeichnen lassen konnte? Theater oder so etwas? Mode? Menschen, mit denen man sich unterhalten konnte? Reiche Männer?!
    Aber was war denn die Alternative? Hier bleiben, ohne irgendetwas, wieder auf null? Nein, schlimmer, immerhin hatten einige Leute schon mitbekommen, dass sie mit Livianus angebandelt hatte. Sie hatte hierfür schon zu viel investiert, um wieder ganz bei null anzufangen.
    Aber sie konnte sich nicht einfach so an einen Mann binden, den sie kaum kannte und von dem sie vollkommen abhängig wäre. Einen zweiten Lucius sollte und durfte es so nicht geben. Am Ende stand sie wieder ohne alles da. Und noch dazu im kalten Germanien!
    Und genau da kam Aglaia eine Idee. Warum eigentlich nicht? Mehr als versuchen, kann ich es nicht...


    Aber da ruderte Livianus schon wieder zurück und nahm seine Hand fort! Männer! Konnten die nicht einmal bei der Sache bleiben? Aber gut, dann war noch einmal schauspielerisches Talent gefragt.
    “Ach, Livianus, das ist... ich würde gerne bei dir bleiben, nur...“ Ein verlegener Blick zur Seite, ein Biss auf die Unterlippe, ein wenig fahrige Bewegungen, als sie doch noch einmal seine Hand ergriff und seufzte. “Ich meine, du... ach, das klingt so furchtbar, wenn ich das so sage. Ich möchte nicht, dass du es falsch verstehst! Aber, ich habe dir ja erzählt, wie es mir nach dem Tod von Lucius ergangen ist. Ich stand da mit nichts! Selbst für das Kleid heute, da... ich musste zu einem Geldverleiher gehen, damit ich es mir leisten konnte, mich für dich hübsch zu machen. Und... und wenn ich mit dir nach Germania gehe, dann... Ach, das klingt wirklich schrecklich! Aber, ich meine, wir kennen uns ja wirklich kaum. Was ist, wenn du mich verlässt? Oder wenn du stirbst? Es ist ja auch nicht ganz ungefährlich! Und dann stehe ich wieder vor dem nichts, und fernab von allem, was ich kenne, ohne jegliche Freunde und ohne die Chance, nach Rom zurückzukehren.“
    Das klang jetzt ja schon fast wie eine Absage. Nach einem gefühlten, weiteren Zögern, ergriff Aglaia Livianus' Hand fester und zog sie mehr zu sich. “Ich will nicht, dass du das falsch verstehst oder denkst, ich will dir nur das Geld aus der Tasche ziehen. Aber... ich würde wirklich gern mit dir mitkommen. Nur bräuchte ich eben die Sicherheit, auch zurückkehren zu können, wenn es... doch nicht so gut zwischen uns läuft, oder etwas passiert.
    Wenn du mir also... ach, ich will dich gar nicht darum bitten... es klingt so gierig und schrecklich. Ich verstehe es, wenn du nein sagst. Aber, als Idee... wenn du mir Geld geben würdest, dann könnte ich es anlegen, dann könnte ich die Rückreise damit zur Not bezahlen. Ich könnte auch meine Schulden bezahlen und hätte hier keine Verpflichtungen mehr. Und vielleicht könnte ich auch das ein oder andere warme Kleidungsstück kaufen...“

    Natürlich ließ Aglaia die Hand jetzt nicht los, aber sie sah ganz betreten darauf, während ihr Daumen sachte über Livianus' Handrücken streichelte und ihre Finger fest mit den seinen verschränkt waren.

    Das war doch jetzt bitte ein Witz?
    Sprachlos schaute Aglaia Livianus an. Konnten die Götter wirklich so grausam sein? Ihr erst mit dieser saftigen Karotte vor der Nase herumzuwedeln, und sie dann im allerletzten Moment doch noch wegziehen? Warum? Warum sie? Das war ungerecht! Sie hatte sich verdammtnocheins angestrengt, um so weit zu kommen, war gewisse Risiken damit eingegangen, und jetzt das? Das war nicht fair!
    Große Zuneigung war ja schön und gut, aber wenn er erst mal im kalten Norden war, würde er schon bald gänzlich durchgefroren sein, inklusive seiner Gefühle, die er vielleicht haben mochte. Er würde sie schlicht und ergreifend vergessen, und überhaupt, was sollte sie denn in der Zwischenzeit machen? Sie konnte ja kaum auf ihn warten, bis er irgendwann einmal zurückkam. Falls er denn überhaupt zurückkam. Nein, das war nicht gerecht.


    Eine Träne rann Aglaias Wange herab, und diese war sogar echt. Bei so viel Ungerechtigkeit in der Welt, da konnte ein Mensch doch nur noch heulen. Und vor allen Dingen: Hätte Livianus das denn nicht bitte vorher sagen können? Am besten schon gestern? Dann hätte sie vielleicht noch etwas mit dem jungen Helvetier retten können, um so erstmal wenigstens einigermaßen über die Runden zu kommen. Nein, das war nicht fair.
    “Ich... ich verstehe“, sagte sie schließlich, nachdem der erste Schock sich gelegt hatte. Damenhaft tupfte sie die Tränen hinfort und nahm danach noch einen Schluck Wein, um sich noch ein wenig zu stärken. Sollte Livianus ruhig ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er sah, in welch verzweifelte Lage er sie damit brachte. Sollte er ruhig ihre Tränen sehen und wie sie mit ihrer Fassung kämpfte.

    Oh je, so verklemmt!
    “Und du meinst, die Sklaven tuscheln weniger, wenn sie nichts sehen?“ lachte Aglaia Decimus Livianus an. Wenn die decimischen Sklaven zu Tratsch neigten, würden sie diesen erzählen, egal was sie tatsächlich gesehen hatten und was sie sich nur ausdachten oder hörten. Einen wirklichen Unterschied machte das doch wirklich nicht mehr. Und es brachte Decimus Livianus um ein paar sehr interessante Erfahrungen. Nunja, an seiner Offenheit würde Aglaia vielleicht noch arbeiten müssen. Ein gewisses Maß an Diskretion war ja schön und gut, aber man musste seine Sexualität ja nun nicht nur im Dunkeln und unter der Bettdecke hinter einer verschlossenen Türe um Mitternacht ausleben.


    Endlich kam das Essen, und Aglaia schnappte sich sogleich eine kleine Köstlichkeit und führte den kleinen Happen in einer sinnlichen Bewegung zum Mund. Hach, das war so gut! Eine weitere Sklavin kam noch mit einem Kleid, auf das Aglaia einen kritischen Blick warf. Ein doch ziemlich verschlossener Stil, etwas hausbacken und schon ein paar Jahre älter. Aber gute Qualität, und offensichtlich für Decimus Livianus irgendwie wertvoll. Vermutlich ein Kleid seiner verstorbenen Frau, wenn man die Feinheit des Gewebes bedachte. Da sie ja nicht undankbar erscheinen wollte und man einem geschenkten Gaul bekanntermaßen nicht ins Maul sehen sollte, lächelte Aglaia ihrem Liebhaber dankbar zu. Sie selbst hatte weniger Berührungsängste mit den Sklaven und zögerte so keine Sekunde, sich ihr Seidenkleid über den Kopf auszuziehen und sich dabei von der Sklavin helfen zu lassen. Keck zwinkerte sie so nackt, wie die Götter sie erschaffen hatten, einmal Decimus Livianus zu. Sie ließ sich auch noch ein Handtuch anreichen, um sich abzutrocken und auch die letzten Überbleibsel des Liebesaktes von ihren Schenkeln zu wischen, ehe sie sich in das neue Kleid helfen ließ. Zufrieden stellte Aglaia dabei fest, dass sie entweder einen Hauch schlanker war als die letzte Frau, die dieses Kleid getragen hatte, oder diese hatte ihre Kleider gerne etwas lockerer getragen.


    Neu eingewandet ließ sich Aglaia also wieder auf ihrer Liege nieder und fischte nach dem nächsten Häppchen, als Livianus auf einmal ziemlich ernste Töne anschlug. Er musste ihr etwas gestehen? Etwas 'Unerquickliches'?
    “Du machst mir Angst, Livianus“, gestand sie freimütig und meinte es ernst. Was kam jetzt? Würde er wieder heiraten und wollte seine neue Frau nicht mit einer Geliebten verärgern? War er pleite?
    Die Vertraulichkeit, ihn einfach beim Cognomen anzusprechen, nahm sich Aglaia zu diesem Zeitpunkt heraus. Sehr viel intimer konnten sie zu diesem Zeitpunkt wohl nicht sein, und ihn mit 'Decimus' oder 'Consular' anzureden, wäre total förmlicher Unsinn gewesen.

    Also, wenn das Decimus Livianus nun nicht restlos überzeugt hatte, wusste Aglaia nun aber auch nicht mehr. Wobei, eigentlich wusste sie schon noch einige Steigerungsmöglichkeiten an und für sich, aber nach allem, was sie bislang über Decimus Livianus erfahren hatte, würde er wohl eher erschreckt wirken, wenn sie ihn ans Bett fesseln und ein wenig bestrafen würde. Oder wenn sie eine weitere Frau, oder – und hierbei würde er wahrscheinlich umkippen – einen weiteren Mann hinzubitten würde. Nein, auf der Liste der sittsamen Möglichkeiten war dies schon ziemlich an der Grenze.
    Und immerhin hatte sie gerade für ihn ein wirklich atemberaubendes Kleid vermutlich ruiniert! Spätestens, als Decimus Livianus sie an sich drückte und mit verschwitzten Armen festhielt, war es wohl um die Seide geschehen. Auch ihr eigener Körper ließ den Stoff überall auf ihrem Körper wie eine zweite Haut kleben. Dazu noch die Flecken, die ihre sportliche Einlage soeben zweifelsfrei hinterlassen hatte... nein, einen Rücktausch konnte sie wohl vergessen. Daher musste das hier jetzt funktionieren.


    Als Decimus Livianus wieder genug Blut für Sprachbildung und genug Atem zur Aussprache gesammelt hatte, bestätigte er aber auch Aglaias Hoffnungen sofort. Und noch einmal ihre Theorie, dass er doch bislang ein äußerst braves Leben geführt hatte. Das würde wohl nichts mit Orgien, wenn ihn selbst die Sklaven schon störten.
    Aglaia löste sich leicht von ihrem verschwitzten Liebhaber und schob sich eine an ihrer Stirn klebende Strähne aus dem Gesicht. “Ich mache mit dir alles, was du willst“, sagte sie noch immer etwas heiser lächelnd und löste ihrer beider Körperkontakt, um nach ihrem Weinbecher zu greifen und einen Schluck zu trinken. Das brauchte sie jetzt. “Und ich hoffe, die Sklaven kommen gleich mit etwas zu essen wieder. Ich gebe zu, das hat mich ein wenig hungrig gemacht.“
    Noch einmal trank Aglaia ein wenig und reichte auch Livianus seinen Trinkbecher, ehe sie sich wieder zu ihm setzte und kuschelnd an ihn lehnte. Gedankenverloren lächelte sie vor sich hin. Er mochte denken, dass sie in Erinnerung an das eben geschehene schwelgte, aber eigentlich erlaubte Aglaia sich, ihre eigene Zukunft einmal mehr rosig zu sehen. Sie musste es nur noch schaffen, Decimus Livianus davon zu überzeugen, sie wahlweise direkt hier bei ihm wohnen zu lassen, oder aber ihr eine kleine Wohnung zu finanzieren, die etwas mehr Flair hätte als ihre jetzige. Nach einem kurzen Augenblick sah sie dann aber doch wieder zu Decimus Livianus und lächelte ihn fragend an. “Und du hast es wirklich noch nie im Tablinum getan?“

    Sie hatte ihn richtig eingeschätzt!
    Venus, sei gepriesen!, schoss es Aglaia durch den Kopf, als Livianus sich erst zärtlich und sachte näherte und sie schließlich sogar küsste. Von sich aus! Ohne eine explizite Animation dazu! Sehr viel besser konnte es gar nicht laufen. Jetzt galt es, den Erfolg zu zementieren. Auch wenn das hieß, dass sie noch länger auf das Essen warten musste.


    Sanft erwiderte Aglaia also den Kuss, ehe sich ihre Lippen den seinen unter einem Erschauern des restlichen Körpers öffneten. Ihre Hände fuhren zu seiner Brust, blieben dort, erst sanft, dann sich fester haltend, während auch der Kuss immer mehr an Leidenschaft zunahm.
    Aglaia suchte seine Hand und führte sie erst zu ihrer Brust. Kurze Zeit später führte sie sie noch tiefer, um Decimus Livianus zu beweisen, wie bereit und willens sie hierfür war. Von da an brauchte es nur wenig nonverbale Überzeugungskunst, ihn dazu zu bringen, sich zurück zu lehnen und auf den Rücken zu legen. Ihr Kleid und seine Tunika wurden nur so weit heraufgeschoben, wie es eben nötig war, und die nächste Zeit war damit gefüllt, dass Aglaia sehr anschaulich noch einmal vorführte, wie sie die Andeutungen zum Reiten eines kräftigen Pferdes am gestrigen Tag gemeint hatte.
    Ihr Körper verbog sich, erbebte, mehrfach. Das ein oder andere Mal davon benötigte sogar keinerlei Schauspiel. Auch sein Körper unter ihr verhielt sich in ähnlicher Weise. Und erst, als Aglaia vollständig sicher war, dass Decimus Livianus nicht auch nur zu einem einzigen, weiteren Stoß mehr in der Lage wäre, legte sie sich schwer atmend und ein wenig heiser auf seine Brust und ließ ihre beiden Körper ein wenig zur Ruhe kommen.


    Sie hatte Hunger wie eine Bärin nach dem Winterschlaf, dennoch blieb sie einfach kuschelnd liegen, ohne auch nur ein einziges, weiteres Wort zu sagen. Dies war sein Haus, sein Reich und er solle ruhig denken, dass sie auch ganz und gar sein wäre. Da war es auch an ihm, das erste Wort wieder zu finden.

    Etwas schneller, als Aglaia gehofft hatte, kam die Frage nach ihrer Vorgeschichte. Gerne hätte sie zunächst etwas gegessen, ihr Magen knurrte schon fast nach den zahlreichen Entbehrungen der letzten Zeit. Aber Decimus Livianus sprach diesen Punkt direkt nach dem Trankopfer an die Götter an, und Aglaia hatte wohl keine Ausweichmöglichkeit.


    Sie nippte also einmal an ihrem Wein. “Ja...“ Sie setzte sich wieder auf und stellte den Becher beiseite. “Ja, ich habe es versprochen.“
    Natürlich hatte sie ihre Geschichte schon lange vorbereitet und auswendig im Kopf. Aber zu einem vernünftigen Vortrag gehörte es ja auch dazu, ein paar Gefühle beim Publikum auszulösen und ihnen vorzuzeigen. In diesem Fall war es am angemessensten, das ganze mit einer gewissen Tragik und Traurigkeit zu verbinden. Nach allem, was sie erfahren hatte, war Decimus Livianus durchaus als Romantiker einzuordnen, und solche hatten eine Schwäche für möglichst tragische Geschichten.
    Sie atmete also noch einmal durch und ließ ihren Blick wie in weite Ferne schweifen. “Ich sagte dir ja bereits, dass ich die letzten fünfzehn Jahre in einer villa rustica bei Casinum gelebt habe. Der Grund dafür....“ Wieder ein fast wehmütiges Seufzen und ein trauriger Blick zu Boden. “Sein Name war Lucius. Ich möchte nicht, dass du schlecht von ihm oder seiner Familie denkst, also möchte ich seinen vollen Namen lieber nicht nennen.“ Am Ende kannte Decimus Livianus ihn sonst noch und hatte Verbindungen zu der Familie, die er aus Neugier reaktivieren würde! Nein, dieses Risiko wollte Aglaia nicht eingehen. Außerdem hatte es so noch etwas tragischeres und geheimnisvolleres. “Er war schon ein wenig älter, aber im Herzen noch jung, und gefangen in einer arrangierten Ehe, die er nicht lösen konnte wegen den vielen Verwicklungen zwischen ihrer beider Familien. Aber er verliebte sich in mich, und ich mich auch in ihn.“ Der erste Teil stimmte, der zweite nicht.


    Aglaia stand auf, als könne sie die Anspannung durch die Erinnerung nicht im Sitzen ertragen, und ging ein paar Schritte, ihren Körper auf die ihr eigene Art wiegend und immer darauf bedacht, möglichst vorteilhaft dabei zum Blickfeld von Decimus Livianus zu stehen. “Heiraten konnten wir schon allein aufgrund des Standesunterschiedes nicht, aber das war uns egal, auch das Alter... einfach alles. Er ließ mich in sein Haus bei Casinum einziehen und las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Und ich kümmerte mich um ihn.“ In der Zwischenzeit war Aglaia weit genug herumgekommen, um nun direkt bei Livianus auf seiner Liege Platz zu nehmen, in diesem kleinen Bereich vor seinem Becken, so dass er einen guten Blick auf ihre Seitenansicht hatte.
    “Auch als er krank wurde, war ich Tag und Nacht für ihn da.“ Eine glatte Lüge. Wann immer Lucius krank war, hatte sie ihn überzeugt, dass er ihr doch nicht zumuten konnte, sich anzustecken. Und er war häufig ohnehin noch im Rom und nicht in Casinum.
    “Und dann... dann kam der Tag...“ Eine einsame, gekonnte Träne rollte über Aglaias Wange, die von schlanken, zitternden Fingern weggewischt wurde. “Lucius ist in meinen Armen gestorben. Ganz plötzlich.“ Vielmehr zwischen ihren Schenkeln und nachdem er zuviel Potenzmittel genommen hatte, um es überhaupt einmal wieder mit Aglaia treiben zu können. Und es war dazu noch tiefste Nacht.
    “Ich konnte noch nicht einmal wirklich um ihn trauern, denn sofort waren seine Verwandten da und die Familie seiner Frau. An den Haaren haben sie mich hinausgezerrt und hinausgeworfen aus dem Heim, das ich fünfzehn Jahre lang bewohnt habe. Lupa haben sie mich genannt! Mich! Die ich fünfzehn Jahre treu an Lucius Seite gewesen war!“ Noch ein paar mehr Tränen, die Aglaia nicht mehr alle fortwischte. Diesen Teil ihrer Geschichte musste sie schließlich mit besonderer Überzeugung rüberbringen, um die Tragik darin auch vernünftig darzustellen. Insbesondere, da die Geschichte hier den Bereich der Wahrheit doch recht großzügig verließ.
    War sie treu gewesen? Nunja, Lucius hatte mit dem Alter nicht so gekonnt, wie er gewollt hatte, und war schon davor ein furchtbar schlechter Liebhaber gewesen. Im Gegensatz zu dem Sänger, den er ihr besorgt hatte. Oder dem Lehrling des Stoffhändlers. Oder diesem braungebrannten Reiter des Cursus Publicus... Aglaia war ja auch nur eine Frau mit Bedürfnissen! Man durfte ja nicht einrosten. Und eigentlich war seine Frau erst nach zwei Tagen erschienen, nur Aglaia war nicht schnell genug mit dem Packen fertig geworden, um von alleine zu gehen.
    “Und sie haben mich davongejagt nur mit dem, was ich bei mir trug. Auch meine Freunde erwiesen sich als Enttäuschung, denn kaum jemand wollte mir helfen. Hier und da konnte ich ein paar Nächte bleiben, aber...“
    Wieder ein tiefes Seufzen, mit dem sie sich zu fangen schien und die letzten Tränen wegwischte. “Ich bin also schließlich nach Rom zurückgekehrt, in der Hoffnung, mir hier ein Leben aufbauen zu können. Aber ich musste schon meinen Schmuck verkaufen, und zuletzt blieb mir nur noch das rote Kleid, weil ich jenes an diesem letzten Tag getragen habe.


    Ich wollte mich noch einmal so glücklich fühlen wie früher. Also habe ich es mir gestern noch einmal angezogen und bin dem Geräusch von Pferderennen gefolgt. Lucius liebte die Rennen.
    Und... da traf ich auf dich.“
    Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Erzählung blickte Aglaia wieder Decimus Livianus direkt an. So nah, wie sie hier beieinander saßen, konnte sie das auch sehr intensiv. Ein trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen.
    “Ich hoffe, du denkst jetzt nicht schlecht von mir, aber... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll? Gestern, da... seit langer Zeit hab ich mich da wieder lebendig gefühlt! Als Frau, und.. begehrt.“ Bei diesem Wort schaffte es Aglaia sogar, ganz sachte zu erröten. “Nicht mehr von dieser dumpfen Traurigkeit umfangen, die mich so lange nun begleitet hat. Und ich hatte wieder Hoffnung. Nicht auf die große Liebe oder eine Wendung des gesamten Schicksals. Nein, nur diese kleine Hoffnung, dass es möglich ist, doch noch einmal wirklich glücklich zu sein. Vielleicht nur kurz, vielleicht auch lang, ich weiß es nicht. Aber glücklich. Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, aber ich hoffe es sehr.“
    Und jetzt würde sich zeigen, ob ihre Einschätzung richtig war und Decimus Livianus dieser tragischen Liebesgeschichte zugetan war. In jedem Fall war es eine der schauspielerischen Höchstleistungen in ihrem Leben gewesen.

    “Oh, nicht nur fast. Vor siebzehn Jahren war ich einmal in der Villa Cloelia zu Gast auf einem kleinen Fest. Und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war es dort nicht halb so edel ausgestattet. Und natürlich war auch die Gesellschaft nicht halb so charmant.“


    Ja, dieses Haus hier war wirklich alles andere als schlecht. Aglaia fragte sich, warum die Leute es als Casa bezeichneten, wenn es doch viel eher das Wort Villa verdient hätte, oder doch zumindest Domus. Vielleicht war es ein Scherz, der sich mit der Zeit einfach überlebt hatte.


    Aglaia beobachtete genau, wie sich Decimus Livianus hinlegte. Zwischen ihnen beiden herrschte für ihren Geschmack viel zu viel Distanz. Hätte er sich einer klassischen Kline bedient, könnten sie jetzt nebeneinander liegen und sie konnte ihn sehr viel subtiler und doch gleichzeitig sehr viel direkter verführen, als es so möglich war.
    Allerdings hatte es auch einen gewissen Reiz, hier so zu liegen, da Aglaia wusste, dass er jede ihrer Bewegungen so sehen konnte wie ein Schauspiel, welches sie extra und nur für ihn aufführte. So verdrehte sie ihren Oberkörper leicht, so dass ihre Brüste kurzzeitig nach oben zeigten, und offenbarte damit eine überragende Beweglichkeit, während es einfach nur so aussah, als suche sie die bequemste Liegeposition.
    “Ich trinke, was du trinkst. Überrasche mich einfach“, flötete sie ihm strahlend entgegen und wandte sich wieder mehr ihm zu. Durch die Bewegung geriet auch der Stoff wieder in selbige und legte ihre kleinen Füße frei. Ebenso vergrößerte sich scheinbar von ihr unbemerkt leicht ihr Ausschnitt und zeigte so den Ansatz ihrer weißen Brüste.


    Während ihr also eingeschenkt wurde, beobachtete Aglaia weiterhin Decimus Livianus, wie er sie beobachtete. Es war ein sehr interessantes Spiel, und es würde noch interessanter sein, zu sehen, wie weit sie es ausdehnen konnte. “Ich muss freimütig gestehen, dass ich diesen Abend schon den ganzen Tag herbeigesehnt habe“, erzählte Aglaia unterdessen weiter und war in Gedanken schon bei der Frage, ob sie wohl ihr Getränk 'zufällig' verschütten sollte. Allerdings wäre das Kleid dann ruiniert und sie würde es nicht weiter tauschen können. Und wer wusste schon, wann Decimus Livianus bereit sein würde, ihr eine angemessene Garderobe zu bezahlen?

    Der innere Zwist, der in Decimus Livianus tobte, war in seinem Blick und seinen Gesten zu erkennen. Ein kurzes Zucken der Arme, ein unsteter Blick, ein sowohl erfreutes wie auch verlegenes Lächeln... Ja, Aglaia war sich so sicher, wie man eben sein konnte, dass Decimus Livianus heute Nacht von ihr geträumt hatte. Und in jenem Traum hatten sie wohl nicht Händchen gehalten.
    Sie trat auf Decimus Livianus zu, während ihr Kleid sich bei jedem Schritt eng an sie schmiegte. Auch wenn er die Distanz wahrte, sie war nicht hergekommen, um weiter auf Distanz zu bleiben. Als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt also, ging sie auf ihn zu und streckte ihm ihre Hände entgegen. Als er sie notgedrungen ergreifen musste, ging sie sogar noch einen Schritt weiter auf ihn zu, um ihm noch einmal einen züchtigen Kuss so nah neben seinem Mund auf die Wange zu hauchen, dass wohl nicht fiel gefehlt hätte, und ihre Lippen hätten sich berührt. Unter langen Wimpern hervor sah sie Decimus Livianus an, ohne seine Hände von sich aus schon loszulassen. “Wie hätte ich denn nicht kommen können? Ich habe es dir doch versprochen“, strahlte sie ihn an.


    Als die Nähe zwischen ihnen beiden die Situation beinahe bis zum Zerreißen angespannt hatte, erst da löste sie sich und ließ sich von einem Sklaven auf die ihr zugedachte Liege helfen. Mit fließenden Bewegungen legte sie sich hin. 'Zufällig' rutschte der leichte Stoff ihres Kleides dabei auch bis zum Knie hoch und legte wohlgeformte Schenkel wie aus Alabaster gehauen frei. Züchtig errötend bedeckte Aglaia ihr Bein wieder mit der grünen Seide und legte sich bequem durch Kissen gestützt auf die Seite. Aber so, wie der Stoff sich an ihren Körper schmiegte, hätte sie wohl ebenso gut nackt sein können.
    “Dein Heim ist wirklich wundervoll und prächtig, Decimus. Und auch du siehst heute besonders stattlich aus. Ich hoffe, dass die Wahl meiner Garderobe dem Anlass entspricht?“ Ein bisschen nach Komplimenten zu fischen konnte in diesem Moment sicher nicht schaden. Vielleicht taute Decimus Livianus ja so noch ein wenig mehr auf.

    Leider hatte Aglaia nicht genug Geld für eine Sänfte gehabt. Den ganzen, weiten Weg also hatte sie laufen müssen und dabei den Saum ihres Kleides über den Knien getragen. Für die Passanten hatte dies sicher eine gewisse Komik, für sie selbst war es aber bitterster Ernst. Der letzte Brunnen, ehe sie in die Straße mit dem Haus der Decimi einbog, wurde schließlich für eine sehr ausgiebige Fußwaschung genutzt und sie musste noch eine Weile dort sitzen bleiben, um ihre Beine wieder trocknen zu lassen, ehe sie sich wieder ihre Schuhe anziehen konnte und ihren Weg fortsetzen. Aber sie hatte die Zeit gut geplant, und so kam sie relativ pünktlich am Haus der Decimi an.


    Durch die Porta war sie auch sogleich eingelassen worden und hatte dort ihre Straßenschuhe zurückgelassen. Immerhin wusste man, was sich gehörte, und stiefelte nicht mit schmutzigen Schuhen durchs Haus. Die allermeisten vornehmen Häuser hatten ohnehin Gästepantoffeln genau zu diesem Zweck.


    Schließlich wurde Aglaia zum Tablinum geleitet. Kurz vorher blieb sie noch einmal stehen und blickte an ihrem Kleid hinab. Ein Traum aus fließender, grüner Seide mit goldenen Stickereien in Form von Eichenblättern. Zwei dieser Blätter lagen so, dass es schien, als würden sie sachte ihre Brüste anheben, während der Rest in einer verspielten Kaskade an ihrer Seite hinabfloss. Die Seide war so fein gewebt, dass sie beinahe schon durchscheinend war und im richtigen Licht wohl deutlich zu sehen wäre, dass Aglaia auf jegliche Unterkleidung verzichtet hatte. Sie blies noch einmal unauffällig und leicht in ihren Ausschnitt, um die Mädels ein wenig aufzuwecken, die auch gehorsam reagierten.
    Und dann trat sie ein, ein warmes Lächeln auf den Lippen und einen kecken Augenaufschlag dazu.

    Seine Schritte wurden langsamer, sein Gang weniger zielstrebig. Aglaia bemerkte es sehr wohl und verlangsamte ihrerseits ihre Schritte noch ein wenig mehr. Sie kannte das Spielchen, und innerlich jubilierte sie und wollte am liebsten tanzen. Decimus Livianus wollte sich offensichtlich nicht von ihr trennen. Eine Stunde allein mit ihr, und sie hatte ihm den Kopf verdreht! Auch wenn sie lange Jahre aus Rom weggewesen war, sie war immer noch eine erstklassige Hetäre! Gut, früher hätte vielleicht auch ein Augenblick und ein tiefer Blick gereicht, aber trotzdem verbuchte Aglaia die Begegnung als vollen Erfolg und musste sich mühen, möglichst traurig beim Abschied dreinzusehen und ihrem Lächeln diesen leichten, sehnsüchtigen Hauch zu geben.


    “Ja, morgen. Zum Beginn der zwölften Stunde“, bekräftigte Aglaia noch einmal und löste sich so langsam wie möglich von ihm. Ihre Hand hielt die seine noch so lange ihr Arm reichte, ehe sie schließlich sich doch von ihm wegdrehte und ging. Dreimal blickte sie fast schüchtern noch über die Schulter zurück zu ihm, als hätte sie Sehnsucht nach ihm. Eigentlich wollte sie nur wissen, ob er ihr hinterhersah und ihn in der Sicherheit ihres Interesses wiegen.


    Erst, als sie aus seinem Sichtfeld verschwunden war, erlaubte sie sich, den Triumph auf ihrem Gesicht zu zeigen. In einer Befreiungspose streckte sie ihre Arme weit von sich und wandte ihr Gesicht zur Sonne. “Große Venus, ich danke dir! Priapus, schicke ihm Träume von mir heute Nacht. Den Rest mache dann ich.“

    “Nein... nein, nein... Auf gar keinen Fall! Wer bitte trägt solche Säcke?“ Aglaia ging hierhin und dorthin. Wenn das hier die neueste Mode war, dann hatte sie während ihrer Abwesenheit wirklich nichts verpasst. Von bieder bis langweilig reichte die Spannweite. Nichts, das im Gedächtnis bleiben würde. Vielleicht war sie einfach an der falschen Ecke des Marktes? Das hier war wohl eher für die Fraktion 'Matrone, 40, ungevögelt'. Sie ging weiter.


    Die Stoffhändler hatten allerlei interessantes zu bieten. Einige Stoffe, aus denen man mit etwas Fleiß, Mühe und handwerklichem Geschickt durchaus interessante Kompositionen bilden konnte. Fleiß hatte Aglaia, und sie gab sich immer Mühe mit ihrem Auftritt. Aber sie hatte nicht das kleinste bisschen handwerkliches Geschick, und erst recht nicht die benötigte Zeit, um die Sache einfach selbst in die Hand zu nehmen. Darüber hinaus konnte sie wohl schlecht in einen Stoffballen gehüllt nach Hause gehen. Also wieder “Nein“.


    Noch ein Stand, noch die ein oder andere Enttäuschung. Schrecklich! Aglaia seufzte hörbar und sah sich um. Etwas weiter stand eine Gruppe junger Frauen mit einem rudimentären Geschmack für Stil. Sie gingen an Aglaia vorüber zu einem weiteren Stand, und sie folgte ihnen einfach einmal.
    Gackernd gingen die Mädchen zu einem Laden, über welchem ein Schild mit der Aufschrift 'Laurentius' hing. Der Hahn, der daneben gemalt war, ließ darauf schließen, dass dieser Laurentius Gallier war. Aglaia folgte.


    Und hier offenbarte sich ihr ein Universum an Schönheit! Kleider, hell und leicht, fließende Stoffe, bunte Farben und Formen! Gut, das ein oder andere Kleid sah auch aus, als wäre ein Huhn explodiert. Aber viele bestachen durch schlichte Eleganz und eine unvergleichliche Verspieltheit.
    Und dann fiel es Aglaia ins Auge! Ein Traum aus hellgrüner Seide, mit goldfarbenen Blättern bestickt, welche die Brüste wie Muscheln umfassten und an der Seite herunterliefen wie ein Efeuband. Am Saum waren kleine Kügelchen aus Gold eingefasst. Als Aglaia den Stoff berührte, um seine Qualität zu prüfen, schmiegte sich die Seide kühl in ihre Hand wie ein sanfter Kuss. Ihr Körper in diesem Kleid... es würde mehr durchscheinen lassen, als es verhüllen würde. Jede kleinste Erregung würde dem Decimus sichtbar gemacht werden, jede kleinste Bewegung betont und jeder Atemzug mitgetragen werden. Es war... perfekt!

    Sie gingen wieder Arm in Arm zur Rennbahn. Dass Decimus Livianus ihr dieses Mal ganz von selbst den Arm gereicht hatte und sie sich nicht wieder an seine Seite hatte schummeln müssen, nahm Aglaia als weiteres, positives Zeichen. Dennoch schien es ein wenig, als würde sich ihre traute Zweisamkeit für heute dem Ende zuneigen. Allerdings war dies vielleicht auch nicht das schlechteste, denn eine weitere Steigerung ihrer Zweisamkeit wäre an dieser Örtlichkeit schwierig zu bewerkstelligen, und für einen Ortswechsel hin zu privateren Gefilden war es wohl noch etwas zu früh. Sollte Decimus Livianus ruhig ein wenig Sehnsucht nach ihr entwickeln und von ihr träumen. Aglaia hoffte in diesem Punkt inzwischen auf recht eindeutige und intensive Träume, welche sie beim nächsten Abendessen dann, wenn alles gut lief, wohl Realität werden ließ.


    “Nun, da es ein Abendessen ist, würde ich sagen, zu Beginn der zwölften Stunde des Tages?“ Traditionell wurde mit Einbruch der Dämmerung gegessen. Natürlich hätte sie auch schon in der elften Stunde kommen können, so dass sie noch ein wenig mehr Zeit hatten, um sich kennen zu lernen und er ihr sein Haus zeigen konnte und dergleichen. Doch war es wiederum Taktik, so spät wie möglich zu kommen. Wäre der Abend zum Ende ihres Essens und der Gespräche nur weit genug vorangeschritten, würde es die Höflichkeit gebieten, ihr zumindest ein Gästezimmer anzubieten. Nachts war es auf den Straßen für eine allein gehende Frau gefährlich. Selbst, wenn er sich also nicht dazu durchringen könnte, sie in sein Bett zu führen, hatte sie so inmitten der Nacht noch die Möglichkeit, von sich aus einen Weg in eben jenes Bett zu suchen.

    Auch wenn es aus Kalkül geschehen war, auch für Aglaia war es ein recht erregendes Gefühl, so an den Körper von Decimus Livianus geschmiegt zu sein. Auch war sie sich ziemlich sicher, selbiges unter seiner Tunika mit ihrem Oberschenkel zu erfühlen, während er sie um die Taille gefasst hielt. Auch, als sie sich von ihm löste, bemerkte sie sehr wohl seine Hand, die so sehnsüchtig wie wohl unterbewusst an ihrer Hüfte zu ihrem Po entlangstreifte, ehe sie sich löste.
    “Zum Glück ist dir nichts passiert.“, sagte er. “Da bin ich mir nicht so sicher...“, antwortete Aglaia und ließ die Hand, die sich Momente zuvor noch an seine Schulter geklammert hatte, noch ein paar Augenblicke länger auf seiner Brust liegen, während sie ihn fast schon bedeutungsschwanger dabei anblickte.


    Innerlich feierte Aglaia. Dieser kleine, inszenierte Fehltritt hatte endlich einen messbaren Erfolg hervorgebracht. Wenn es auch nur eine kurze Reaktion gewesen sein mochte: Es war eine Reaktion! Und eine recht eindeutige noch dazu.
    Von diesem Triumph beflügelt ließ sie sich noch zu einer kleinen Steigerung hinreißen. “Ich danke dir“, wiederholte sie noch einmal geflüstert, und ehe Decimus Livianus sich noch gänzlich von ihr entfernen konnte, stellte sie sich geschickt einmal auf ihre Zehenspitzen, während ihre freie Hand – nicht die an der Brust. Die blieb schön, wo sie war – kurz zärtlich seine Wange streichelte, während sie ihm auf die andere einen Kuss hauchte. Es war kaum mehr als eine sachte Berührung ihrer Lippen auf seiner bärtigen Haut, eine kleine Geste auf dem schmalen Grad zwischen Zucht und Unzucht. Aber Aglaia war sich sicher, dass sie die Wirkung von gerade eben noch verstärken würde.


    Erst danach löste sie sich wieder, denn Decimus Livianus hatte in einem Punkt recht: Hier wuselten zu viele Sklaven umher, als dass man das Ganze sinnig vertiefen könnte. “Nun, dann sollten wir die Sklaven ihre Arbeit machen lassen“ stimmte sie also zu.

    Eigentlich ließ sich Aglaia lieber mit der Venus vergleichen als mit der Victoria. Aber das wäre wohl wirklich zu viel verlangt, nachdem Decimus Livianus sich bislang so sehr zierte, überhaupt ihr körperlich nur ein wenig von sich aus Nahe zu kommen. Also lächelte sie ihn einfach nur strahlend und geschmeichelt an und verharrte noch einen Augenblick in ihrer Pose, bis Decimus Livianus ihr eine wunderbare Gelegenheit bot.
    Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr herunter zu helfen, offensichtlich um ihr Wohlergehen besorgt. Zwar war Aglaia sicher, den Weg nach unten ebenso sicher zu finden wie den hinauf, aber das wusste Decimus Livianus ja nicht. So nahm sie mit einem dankbaren Lächeln seine Hand, als sie sich gedreht hatte. In dieser Position war sein Kopf bestenfalls auf Höher ihrer Brust, was ebenfalls etwas sehr verlockendes hatte. Also zögerte sie noch einmal kurz, als müsse sie erst den nötigen Mut für den Abstieg sammeln, während sie eigentlich Decimus Livianus nur einen Augenblick länger diesen Anblick bieten wollte.
    Ein vorsichtiger Schritt folgte, dann ein unsicheres Lächeln, und der perfekte Zeitpunkt war gekommen. Aglaia geriet ins Straucheln und fiel leicht gegen Decimus Livianus, schmiegte ihren Körper kurz an den seinen, während ihr freier Arm sich ihm um Schulter und Hals schlang in einer zärtlichen Geste. Ein dazu passendes “Huch“ entfuhr ihren Lippen, während sie beide nun doch einander endlich berührend scheinbar unfreiwillig in den Armen lagen.
    Natürlich dehnte Aglaia diesen Moment bis zum Rande der Schicklichkeit aus, ehe sie sich – nun gleich auf dem Boden – wieder ein wenig von Decimus Livianus löste. Aglaia schaffte es sogar, leicht zu erröten, während sie verlegen dreinblickend zu Decimus Livianus wieder aufblickte. “Ein Glück, dass du da warst, um mich aufzufangen. Ich danke dir“, sagte sie scheinbar verlegen ob ihrer Ungeschicklichkeit.
    Jetzt blieb nur zu hoffen, dass diese kleine Einlage auch die gewünschte Wirkung erzielte.

    Aglaia hatte nur wenig Zeit für ihre Vorbereitungen. Am heutigen Abend würde sie umwerfend aussehen müssen, und auch wenn Männer nicht die Stilsichersten waren, so würde Decimus Livianus doch bemerken, wenn sie dasselbe Kleid wie schon auf der Rennbahn anhätte.
    Ihre Körperpflege konnte sie in der Therme erledigen, genug Geld für den Haarausreißer würde sie auch zusammen bekommen und wenn sie es geschickt anstellte, fand sie sogar ein paar Tröpfchen duftende Wasser, wenn sie den Händler nur bequatscht bekam, dass sie den Duft an ihrer Haut testen wollte, ehe sie sich zum Kauf entschied.


    Das Problem war das Kleid! Das war nichts, was man mal eben so nebenbei abstauben konnte, nichts, was es umsonst gab. Ein Kleid in ordentlicher Qualität war teuer, und Aglaia konnte es sich nicht leisten. Ein Geldverleiher würde ihr kein Geld geben. Da blieb nur eins: Tauschen.


    Aglaia also machte sich auf zu einem der Stoffmärkte Roms und den dortigen Schneidern. Zuerst einmal musste sie feststellen, dass von jenen Schneidern, die sie von früher gekannt hatte, die Hälfte schon nicht mehr hier verkaufte. Ein Teil war tot, ein anderer so reich geworden, dass sie sich zurückgezogen hatten, und ein dritter Teil schlicht von der Konkurrenz übernommen worden. Das machte die Situation noch einmal ein wenig schwieriger.
    So aber schlenderte Aglaia – wieder in ihrem roten Kleid, sie wollte ja tauschen – über den Markt und suchte nach irgend etwas, das es wert wäre, darüber zu verhandeln.

    Die Schüchternheit dieses Mannes war ja geradezu zum Mäusemelken!
    Ohne sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen, sah auch Aglaia sich wieder im Raum um und vergrößerte dabei den Abstand zwischen ihr und Decimus Livianus. Er war nicht der einzige, der sich in Geduld üben musste. Anscheinend würde das Ganze hier schwieriger werden, als Aglaia gedacht hätte. Wenngleich sie nicht erfassen konnte, warum Decimus Livianus sich so sehr dagegen wehrte, ihr noch näher zu kommen. War es Schüchternheit, in der Öffentlichkeit eine Regung zu zeigen? Dass sie ihm nicht gefallen könnte, konnte sie ausschließen. Dafür zeigte er doch zu viele Anzeichen von Erregung. Vielleicht schämte er sich auch für anderes? Und vertraute Aglaia noch nicht genug, um es ihr anzuvertrauen? Vielleicht musste Aglaia die ganze Sache doch ein wenig anders angehen. Hier und jetzt allerdings gab es da wenig zu tun. Das Abendessen würde entweder den Durchbruch bringen, oder aber aufzeigen, wie weit sie voneinander entfernt waren und ob sich weiteres Engagement sich da überhaupt lohnte. Sie konnte schließlich nicht die nächsten Monate und Jahre damit verbringen, ihn zu umgarnen, während sie in dieser Bruchbude hauste und überlegen musste, wie es weiterging.


    Decimus Livianus startete einen Ablenkungsversuch mit der Frage nach dem Rennwagen. Aglaia lächelte ihn verschmitzt an und ging an ihm vorbei zu eben jenem Wagen, um ohne zu warten auch direkt darauf zu klettern. So ohne angespannte Pferde, die das Gegengewicht bildeten und den Wagen gerade hielten, war dies gar nicht so leicht. Immerhin sollte der Wagen nicht auf einmal mit ihr darauf kippen. Aber Aglaia hatte ein gutes Gleichgewicht und stand auf dem nun recht schrägen Boden dennoch sicher. Mit einer Hand hielt sie sich am Rand des Wagens fest, während sie mit ihrer Rechten so tat, als würde sie darin die Zügel halten.
    “Na, wie sehe ich aus?“ fragte sie herausfordernd von ihrer erhöhten Position aus und strahlte Decimus Livianus dabei an.

    Was wäre Aglaia jetzt gerne mit Decimus Livianus gänzlich allein!
    Noch ein wenig Neckerei, ein wenig mehr die Grenzen ausreizen, ein wenig tiefere Blicke, ein wenig mehr Spannung, und es wäre nicht mehr ungebührlich, wenn ihr das Kleid leicht von der Schulter rutschte und einen Blick freigab auf blütenweiße Schultern. Oder sogar ein wenig tiefer, und noch weit reizvollere Einblicke freilegte. Aber sie waren nicht allein! Hier und da huschten Sklaven und andere entlang, um die Tiere abzureiben, mit Decken zu wärmen und zu füttern. Und Aglaia hatte keine Ahnung, ob nicht gleich noch jemand hereinkommen würde, so wie sie selbst ja auch Momente zuvor hier hereinspaziert war.
    Zu schade, aber so war es von Anfang an nicht möglich, Decimus Livianus einfach in den nächsten Heuberg zu ziehen.


    Dennoch genoss sie die Situation und ihre Wirkung auf den Consular. Sie hörte seinen Atem, sah die Bewegungen seines Kiefers, die ihr verrieten, dass es ihn sehr wohl erregte, so nah bei ihr zu sein. Würde sie diese letzte Distanz zwischen ihnen überwinden, wer weiß, vielleicht würde sie sogar weit mehr spüren. Fast war sie versucht, es zu testen, aber noch nicht. Ein falscher Zug konnte alles zunichte machen, und Decimus Livianus schien ihr eher scheu als exhibistionistisch.
    Sie reckte ganz leicht ihren Hals, legte ihren Kopf eine Winzigkeit mehr in den Nacken. Kurz wanderte ihr Blick zu seinen Lippen, in dem vollen Bewusstsein, dass er dies mitbekommen würde. Sollte er sich dazu entscheiden, zu einem Kuss wäre es nur eine sehr kurze Distanz. “Ich werde dir alles erklären. Ich verspreche es dir. Du wirst mich bestimmt verstehen“, flüsterte sie fast.
    Es würde nicht alles wahr sein, aber nahe genug an der Wahrheit, um selbst einer Überprüfung erst einmal standzuhalten. Bei einigen Details war Aglaia sich noch nicht sicher, auf welche Weise sie sie erzählen sollte. Dazu musste sie erst noch herausfinden, ob Decimus Livianus eine eher romantische Ader hatte, oder ob er doch mehr ein Pragmatiker war. So oder so aber war Aglaia sich sicher, dass sie ihm ihre Geschichte schon schmackhaft machen konnte.

    “Ach, ich weiß so das ein oder andere. Ich würde mir nie anmaßen, mit deinen Kenntnissen konkurrieren zu können. Ich liebe einfach nur ihre Kraft und Anmut. Und es gibt wohl nur weniges, was sinnlicher ist, als das Muskelspiel unter der Haut, wenn meine Hand darüber streicht.“ Hin und wieder musste frau die Phantasie des Mannes wieder beflügeln. Und so streichelte Aglaia noch einmal mit einer sanften Bewegung, fast ausschließlich mit den Fingerspitzen, über die Schulter des Pferdes. Die Muskeln unter ihren Fingern zuckten auch gehorsam und das Pferd schnaubte einmal tief.


    Mit seinen Worten bestätigte Decimus Livianus noch einmal ihre Einschätzung von seinem Wohlstand. Aglaia war sich immer sicherer, hier eine gute Wahl zu treffen. Jetzt musste sie es nur noch schaffen, Decimus Livianus einzureden, dass diese Wahl die seine gewesen wäre. Wenn man einem Mann sagte, was er tun sollte, machte dieser immerhin fast immer schon aus Prinzip genau das Gegenteil davon. Wenn er sich aber etwas in den Kopf setzte, und mochte es noch so dumm oder widersinnig sein, man konnte sicher sein, dass er diese Idee bis zum bitteren Ende durchzog.


    Als Decimus Livianus dann wieder auf das Abendessen zu sprechen kam, lächelte Aglaia ihn an und trat wieder auf ihn zu. Einen Schritt, einen zweiten, bis sie schließlich wieder ganz dicht vor ihm stand. Auf diese Entfernung konnte sie fast die Wärme seines Körpers fühlen, und sein Duft legte sich über den der Pferde hinter ihr. “Du willst mich abholen?“ fragte sie ihn mit dunklem Timbre in der Stimme und blickte ihm unverwandt in die Augen. Erst nach einigen Herzschlägen sah sie etwas betreten nach unten auf seine breite Brust. “Ich fürchte, meine momentane Unterkunft ist wenig geeignet, um einen Consular wie dich dort willkommen zu heißen, und es würde mich sehr in Verlegenheit bringen, müsste ich dir dies offenbaren. Ich möchte nicht, dass du mich als Bettlerin siehst.“ Sie bewegte sich noch eine Winzigkeit näher zu ihm, so dass wohl kaum ein Fingerbreit zwischen ihnen noch Platz war, und blickte ihn von unten herauf wieder direkt an. “Aber ich freue mich schon sehr auf unser Abendessen. Und dein Heim ist hierfür sicherlich sehr viel geeigneter. Morgen Abend?“ Wenn er schon das Thema direkt darauf lenkte, konnte man auch Nägel mit Köpfen machen und den Termin festschreiben.

    Punkt für mich, dachte sich Aglaia, als Decimus Livianus dem Abendessen zustimmte. Dann musste sie ihn nur noch überreden, sie am besten morgen wiederzusehen. Lange genug, dass seine Phantasie schon auf Wanderschaft gehen konnte und er von ihr träumen konnte, aber noch nicht so lange, als dass wirkliche Vernunft zurückkehren würde und er es sich noch anders überlegte. Oder ihm die Verwandtschaft reinredete.


    Sie gingen also zu den Pferden, und die Stallsklaven ließen sie hinzu und machten ihnen ein wenig Platz. Decimus Livianus streichelte eines der Tiere, und Aglaia löste sich aus seinem Arm, um ihrerseits an eines der Tiere heranzutreten. Nicht dasselbe, welches er berührt hatte, sondern jenes etwas daneben. Natürlich mit einem Plan: Decimus Livianus sollte durch ihr wegtreten die Kälte an seiner Seite fühlen, die sich durch ihre fehlende Körperwärme dort ganz natürlich bildete. Und das Pferd zwei Schritte weiter rechts bot ihm einen perfekten Blick auf ihren wohlgeformten Hintern. Erst recht, als sie sich leicht zu dem Pferd nach vorne beugte und ihm sanft die Hand entgegenstreckte. Es war nicht das erste Pferd, dem Aglaia sich näherte, und sie kannte die Bewegungen, die Vertrauen schafften, und jene, die man unterlassen sollte.
    Das Tier also konnte ihre Witterung aufnehmen, ehe sie den langen, schlanken Hals streichelte bis hinunter zur Schulter. Erst dort angekommen drehte sich Aglaia wieder halb zu Decimus Livianus. Verwirrt sah sie ihn an. “Die Wagenlenker?“ Fast schon schüchtern lächelnd blickte sie zu Boden. “Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich lieber weiter mit dir allein unterhalten.“ Sollte er ruhig den Eindruck haben, dass sie mehr als nur ein wenig für ihn schwärmte.
    Als wollte Aglaia von eben jenem Eindruck ablenken, wandte sie sich wieder dem Pferd zu und streichelte es weiter, ließ ihre Finger über das kurze Fell gleiten und genoss es, wie die Muskeln unter der Haut dabei leicht zuckten. Pferde waren in der Beziehung wirklich nicht viel anders als Männer. “Das ist ein herrliches Tier. So kraftvoll, so schön. Breite Brust, schlanke Fesseln, gerader Rücken, kurze Kuppe...“ Sie streichelte auch eben jenen Rücken des Tieres einmal entlang und dann wieder zu den Schultern. “Leicht schräge Schultern, und selbst jetzt noch beben die Flanken, als wolle es weiterlaufen. Wirklich, ein herrliches Tier. Es muss ein Vermögen gekostet haben. Auch aus Hispania?“ fragte sie nach.
    Lucius war immer ein Freund der Wagenrennen gewesen, auch wenn er dort sein halbes Vermögen regelmäßig verschleuderte, weil er auf das falsche Tier setzte. Er gehörte sigar zu jenen verrückten, die vor einem Rennen bisweilen an einem Pferdeapfel schnüffelten, um herauszufinden, ob das Tier gesund war! Aglaia hatte das innerlich immer eine Spinnerei genannt. Aber das ein oder andere hatte sie aus der Zeit doch aufgeschnappt, was sie jetzt wiedergeben konnte.