Velia kam näher, um die Schätze von Pollux besser zu begutachten. Es war immerhin schon mal etwas. Sie konnten die Sachen weiterbenutzen, oder verkaufen und so ein paar Sesterze machen. Es lag bei ihnen. Sie nickte Pollux zu und näherte sich dann der Ruine. Kyriakos und seine Leute waren fleißig am Werk, um jedes Quäntchen Wert aus dem zerstörten Gebäude herauszupressen. Neugierig näherte sich Velia dem ehemaligen Eingangsbereich. Der Türstock und Teile der Wand standen noch. Ob sie daneben auf der linken Seite auf die Trümmer steigen sollte, um die Überreste der Eingangshalle hinter der blockierten Tür zu untersuchen? Während Velia ihre Kletterpartie begann, sprach sie Kyriakos an. Das letzte war eine wirklich dumme Frage, Velia verdrehte die Augen. „Es interessiert kein Schwein, wenn ein paar Gossenkinder abgekratzt sind. Verscharr sie vor den Stadtmauern, wenn sie dir wichtig sind und sonst wirf sie in den Fluss und gut ist’s.“
Hoffentlich war Kyriakos klug genug damit bis zur Nacht zu warten. Die Urbaner hätten bestimmt einige Fragen an ihn, wenn er mitten am Tag Kinderleichen durch die Straßen spazieren führen würde.
Ächzend hatte Velia jetzt die Trümmer erklettert und stand auf ihnen ein paar Fuß über dem früheren Bodenniveau der Eingangshalle. Zwischen den zahlreichen Ritzen der unter ihr liegenden Dachbalken konnte man Teile des Fußbodens erkennen. Auch von den anderen drei Mauern der Halle standen noch Teile. „Ich denke aus der Eingangshalle kommt nichts nützliches mehr, alles voller Schutt bloß.“ Aber auch kein Wunder, wo das Feuer ja hier und in einem Nebenraum seinen Ausgang gehabt und an dieser Stelle deshalb am längsten gebrannt hatte. Langsam und vorsichtig kletterte die Lupa von der südwestlichen Ecke der Eingangshalle in Richtung nordöstliche Ecke, sie wollte die Räume hinter dem Eingangsbereich näher untersuchen. Vorsichtig einerseits, weil sie kein Interesse daran hatte sich bei all den losen Ziegel- und Holzsplittern die Knöchel aufzuschlitzen, oder gar zu brechen, und andererseits, weil man vielleicht ja doch noch etwas nützliches unter sich in den zahlreichen Ritzen entdecken könnte. Doch Fehlanzeige. Fast schon bei der nordöstlichen Ecke angekommen, erregte dann doch etwas Velias Aufmerksamkeit bei der Nordwand der Eingangshalle. Etwas schwarzes und klumpiges, das nicht nach Holz, oder Ton aussah. War das eine Hand? Ein Stoffballen konnte es kaum sein, der wäre restlos verbrannt. Neugierig geworden kletterte sie näher. Zwei große Balken waren hier gegen die Wand gestürzt und bildeten jetzt eine Art kleines Zelt, oder Höhle, weshalb die Wand und der Boden darunter halbwegs frei waren. Velia war jetzt nahe genug, um zwischen den Balken hineinzusehen. Das war wirklich ein Leichnam! „Hierher! Da liegt jemand! Vielleicht ein Junge!“ rief sie die anderen herbei. Zumindest die Größe des Corpus ließ vermuten, dass es kein ausgewachsener Mensch sein mochte, denn andere Indizien dafür gab es nicht, dieser Mensch war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Velia hockte dar und sah zu dem Jungen in den kleinen Freiraum hinein. Rund um ihn war der Boden dank der beiden Balken halbwegs frei geblieben, bloß ein paar Splitter lagen herum. Es waren teils weiße Stückchen, wie von Knochen. Aber sie konnten nicht von dem Jungen stammen, der hatte seine bei sich behalten. Oder mochte es Keramik sein? Auf der Suche nach einem eventuellen Überrest eines weißen Gefäßes ließ sie ihren Blick jetzt konzentrierter durch den Hohlraum schweifen, während sie gleichzeitig auch auf Kyriakos wartete. Die Wand hinter dem Jungen war schwarz und verrußt, so wie alles im Ganymed, doch untypische Formen unter dem Ruß ließ ihren Blick daran hängen bleiben. Da glitzerte etwas weiteres auf dieser Mauer, nicht nur Ruß, etwas graues, stellenweiße auch noch höchst dunkelrotes. Das wollte sie sich näher ansehen und so kletterte sie zwischen den beiden Balken ganz hinein und hockte sich vor die Wand. Mit einer Hand strich sie vorsichtig über die Stellen, um das Ruß abzuwischen. Es sah wie Blut aus, doch was machte es so weit über dem Boden? Und so viel? Auch war die Form komisch. Sehr schmale Stellen (vllt. handbreit) nicht in Lachen- oder Spritz-, sondern in Längsform, ganz so als ob es... Striche wären. Eine sehr ungute Ahnung überkam Velia und sie rieb jetzt stärker an der Wand, um das Geheimnis freizulegen, das sie auf sich barg. Doch nur wenige weitere Handgriffe und sie war sich sicher. Man konnte jetzt deutlich einen langen handbreiten Strich erkennen von dem drei kurze nach unten abgingen. Dann links davon eine Stelle frei und dann spiegelverkehrt die gleiche Zeichnung nochmal. Das waren Flügel! Blutrote Schwingen, die da auf der Wand prangten! Velia keuchte und ein Gewicht legte sich auf ihre Brust. Dann drehte sie sich nach den zuvor entdeckten weißen Splittern um. „Kyriakos!“ rief sie ihn jetzt nochmal herbei, vllt. etwas höher und spitzer als beabsichtigt, während Velia auf die Knie sank und vor dem Jungenleichnam im Schutt herumzugraben begann. Ein paar Handstriche in der Nähe der weißen Splitter, eine letzte Bewegung, dann zog sie mit offenem Mund hörbar die Luft ein und erstarrte, ganz gebannt von dem was sie entdeckt hatte. Also doch. Sie hatte sich nicht geirrt und jetzt wusste sie ganz genau wer das Feuer gelegt hatte. „Kyriakos!“ rief Velia wieder, dann ergriff sie das gefundene Etwas und hielt es vom Boden kniend aus Kyriakos entgegen. Es waren der noch gut erkennbare Schnabel und untere Teil eines in der Hitze zersprungenen Vogelschädels! Weißer Knochen, blutbenetzt und angerußt.