O welch Bedauern schwang in den Worten des Patrons! Die Jahre zogen vorüber, das Alter zeichnete seine Spuren am Körper, doch der Geist war von den Widrigkeiten eher geschärft worden wie ein Dolch durch den Wetzstein. Die Erwähnung vom Tode des Bruders quittierte Ravilla mit einem bedauerndem Nicken, doch unterbrach er nicht den Fluss der Worte durch einen Einwurf. Das Antlitz der geliebten Schwester erschien vor seinem inneren Auge, einem gedanklichen Götzenbild gleich, an dem er nicht rühren durfte noch konnte, denn sie weilte in Achaia und würde nicht wiederkehren. Von dieser Hoffnung hatte Ravilla Abschied genommen, denn Seius Victor war ein äußerst strenger Vater, der seinen Kindern keinen Fehltritt verzieh.
"Du hast mitnichten mich ennuyiert, verehrter Patron." Ravillas schwarz umrahmte Augen waren ernst auf die braunen Iriden des älteren Mannes gerichtet, die in der Sonne mal rötlich, mal golden schimmerten. Keine andere Augenfarbe vermochte die Sonne so deutlich sichtbar einzufangen. "Ich schätze die Konversation mit dir und die gemeinsam verbrachte Zeit. Oft ist sie allzu schnell vorbei, und so sollten wir sie ausgiebig genießen. Die Götter sind launisch, der weltliche Hunger der Menschen groß. Beides mag viel zu verändern, mal zum Guten, mal zum Schlechten.
Du wirkst nicht glücklich mit deinem Amt", zog Ravilla das Resümee am Ende der Ausführungen, "da es zu sehr verhaftet an irdischen Bedürfnissen ist und dem Ideal, nach dem du strebst, nicht gerecht wird. Oder wird das Ideal durch dieses aus strukturellen Belangen geschaffene Amt vielleicht sogar beleidigt in deinen Augen? Gäbe es denn einen Weg, der dieses Bedürfnis zu erfüllen geeignet wäre?
Ich, mein lieber Flavius Gracchus, hungere nach Unsterblichkeit. Nicht jene der verderblichen Hülle, in welcher wir zu Lebzeiten wandeln, sondern nach jener Unsterblichkeit, welche durch große Taten geboren wird und in Tinte und Stein der Ewigkeit trotzt. Die Götter gaben mir zwei gesunde Hände, um tätig zu werden, und einen klaren Verstand, um sie weise zu nutzen. Siehe: Der Name Lucius Aelius Seianus ist auch heute noch jedem ein Begriff. Er ist untrennbar mit meiner Gens verbunden, Schatten und Ikone. Ich möchte, dass wenn der Name Seius fällt, eines Tages zuerst an Seius Ravilla gedacht wird und erst danach an den Gefallenen."
Unausgesprochen blieb die tiefe Überzeugung der Seii, dass jener Vorfahre unschuldig im Schlund des Tullianums gerichtet worden war. Ravillas Streben war kein Reinwaschen, da es keine Besudelung gab, sie war eine anvisierte Überlagerung von altem, verblasstem Glanz mit einer neuen, strahlenden Sonne am Himmel ihrer Gens.
"Indem ich dem Volk und dem Senat von Rom diene, mag ich dieses Ziel erreichen. Manch Heerführer schrieb das Lied seines Rumes in Blut. Ich aber möchte Gutes tun", schloss Ravilla. Ein Ideal, noch fern jener wohlformulierten Worte. Vielleicht war er bestimmt, die gleiche Desillusionierung zu erfahren, die auch der Patron hatte erleiden müssen, wenn er feststellte, dass sein anvisierter Weg sich als unmöglich gangbar erweisen würde.
Die Hummel, ein besonders großes Exemplar, gelb und schwarz geringelt mit weißem Ende, suchte zwischen den Steinen brummend wohl nach einem Eingang, der für ein Nest sich eignen würde.