Zu verhindern, dass Zmertorix verloren ging, war üblicherweise kein anspruchsvolles Unterfangen. Doch heut war er ein Paradiesvogel unter vielen, gewandet in Rosa und Grün. Cimber und er hatten sich um frühzeitiges Erscheinen bemüht, denn Zmertorix wollte so weit wie möglich vorn stehen. Belohnt wurden sie mit einem Platz in der ersten Reihe. Das Menschengedränge in Rom war abartig, allein der Anlass generierte Verständnis: Die Magna Mater zu ehren am großen Trauertag, ihr beizustehen und sie nicht allein zu lassen in ihrem Schmerz, das war Grund genug selbst für jemanden, der einst als Einsiedler gelebt hatte, um sich der Mutter nahezufühlen.
Die nackten Korybanten, die den Zug anführten, waren weniger nach Zmertorix´ Geschmack: Zu jung, zu schmal, zu knabenhaft. Er bevorzugte Männer, welche diese Bezeichnung verdienten. So schenkte er ihnen nur aus musikalischem Interesse heraus Beachtung, was ihm indes hervorragend gefiel, denn Waffen und Schilde als Instrument benutzt, die sonst im Kampf um Leben und Tod benutzt wurden, wohnte eine besondere Intensität inne. Als das Gedränge dichter wurde, weil der Zug nahte, schob Zmertorix seine Hand durch Cimbers Arm, damit sie nicht auseinandergerissen wurden. Dabei nutzte er die Gelegenheit, unauffällig dessen Bizeps zu befühlen.
Der Veranstalter der diesjährigen Ludi Megalensis präsentierte sich nach den folgenden Aurigae eindrucksvoll auf seinem Wagen. Die wenigsten Ädile fühlten, was sie darboten, doch die Galloi sahen das pragmatisch: So lange er die Prozession der Mutter organisierte und finanziell unterstützte, mochte er seinen Anteil am Ruhme bekommen, ob Anhänger der Kybele, Diener anderer Götter oder vollkommen gottloser Natur. Und wie es aussah, hatte er ganze Arbeit geleistet, der Zug wirkte professionell und pompös, man hatte mit nichts gegeizt.
Als das steinerne Abbild Kybeles sie passierte, krallten die Finger von Zmertorix sich fest in Cimbers Arm und Tränen perlten sein Gesicht hinab. Er war nicht der Einzige: Die Galloi, die das Abbild tanzend, musizierend und kreischend umringten, waren außer sich vor Schmerz, zerrissen schreiend ihre bunten Kleider, geißelten sich mit Atragalpeitschen blutig oder schlitzten ihre Arme und Körper mit scharfen Steinklingen, bis ihre Körper ganz in Rot getaucht waren.* Manch Teilnehmer der Prozession erlebte heut seinen letzten Tag als Mann, andere hatten den Schnitt bereits hinter sich gebracht. Wieder andere kränkten die Mutter, indem sie sich unter voller Manneskraft stehend der Priesterschaft anschlossen. Zmertorix fand das Gesetz abstoßend, welches diesen Umstand förderte und für Römer gar verlangte, ein Gesetz, welches den Kult nicht im Mindesten verstand. Niemand wurde gegen seinen Wunsch entmannt, worin lag die Sorge?
Ein kleiner, dicklicher Eunuch im blauen Kleid stürzte plötzlich mit aufgerissenen Augen auf ihn zu, das hüftlange Haar nass vom eigenen Blut. Er hatte sich inbrünstig gegeißelt, vom Kopf bis hinab zu den Füßen und sein Kleid im ekstatischen Rausch oder durch das Geißeln selbst in Fetzen zerrissen.
"Schwester", quiekte der Eunuch und streckte die aufgeschlitzten Arme aus. In einer Hand hielt er seine Geißel, an deren scharfen Knöcheln Hautstückchen hingen.
"Leonnorios? Wie lange ist es her! Dich erkennt man überhaupt nicht wieder, meine Güte!"
"Leonnora bin ich", korrigierte der Eunuch, drückte Zmertorix zwei blutige Küsse auf die Wangen, hinterließ rote Handabdrücke auf seinen Schultern und ließ sich wieder von der tosenden Menge mitreißen. "Wir sehen uns später", konnte Leonnora noch rufen, ehe sie übergangslos wieder zu heulen begann, die Astragalpeitsche um ihren Rücken herum sausen ließ und ihre Stimme im Lärm der Musik unterging. Nicht ohne Wehmut blickte Zmertorix ihr nach.