Hatte Sabaco schon zuvor verwirrt gewirkt, so war sein Geist nun ein einziges Wirrwarr. Als Nero sich an ihn drückte, bettete Sabaco den Kopf auf seiner Glatze, die sich kalt anfühlte bei diesem Wetter. Sie mussten beizeiten irgendwo rein, damit Nero sich nicht unterkühlte.
"Gemeinsam sind wir unausstehlich - auch wenn wir noch nie Gelegenheit hatten, unsere Unausstehlichkeit gemeinsam unter Beweis zu stellen. Dass du mich gegen einen anderen Mann verteidigen wolltest, ist so was wie eine Uraufführung in meinem Leben. Sonst ist es anders herum und ich muss mit den Fäusten dafür sorgen, dass Störfaktoren auf Distanz bleiben. Am meisten regt es mich auf, dass ich dann jedes Mal als Übeltäter hingestellt werde."
Der Gedanke, nun selbst verteidigt zu werden, schmeichelte ihm. Mehr noch aber versprach er ihm Erlösung in seinem endlosen wie aussichtslosen Kampf gegen den Verlust. Jeden dieser Kämpfe hatte er verloren, jeden einzelnen, wie hart er auch versucht hatte, zu halten, was ihm gehörte. Hier nun hielt er einen Mann in den Armen - hielt ihn ein Mann in den Armen - der anbot, den Kampf auszutragen, der Sabaco zerfraß und ihn Jahr für Jahr mehr zerstörte. Es war Notwendigkeit, bisweilen Betäubung, manchmal auch der Wunsch einer intensiven, beinahe spirituellen Sinneserfahrung. Doch eines war dieser Kampf nicht: freiwillig. Nero versprach ihm das Ende, er versprach ihm ... Frieden. Sabaco hob den Kopf und suchte für einige Zeit die Lüge in Neros Augen. Er fand keine.
"Du hast fast die gleichen Worte benutzt, wie ich sie verwende, wenn ich versuche, zu erklären, was ich mir wünsche." Was er verlangte. "Was ich ... mir wünsche", wiederholte er, "ist die Auflösung von Ich und Du, von der trennenden Dualität. Die Verschmelzung zu einem universellen Wir, das keine Kompromisse kennt. Ganzheit, Einheit. Das klingt schön, nicht wahr? Aber du weißt aus eigener Erfahrung, dass darin auch ein Risiko liegt. Der Schmerz, wenn ein Wir auseinandergerissen wird, ist vernichtend. Diese Wunde ist letal, man stirbt nicht sofort, doch blutet Tag um Tag ein Stück mehr aus. Wenn einer ... geht. Du hast recht, ich bin ein dicker, fetter alles verschlingender Seehund. Und ich will dich mit Haut und Haar, damit das nicht passiert."
Der zweite Kuss ging von Sabaco aus und er war gierig, erinnerte an ein nagendes Etwas. Nero bekam Sabacos zerklüftete Zähne zu spüren, die an seinem Mund fraßen, seine Zunge, die von ihm kostete und die ihn scheinbar schlucken wollte. Sabaco wusste nicht, wie er ihm anders zeigen sollte, wie er empfand, was Nero erwartete, falls er das ernst meinte, wenn Nero Sabaco wirklich wollte. Außer Atem verbiss er sich danach in Neros Hals, nicht so fest, dass er ihn verletzte, doch stark genug, um ihn durch diesen Biss an Ort und Stelle zu halten, um wieder zu sich zu kommen. Er hatte sich gerade ziemlich angeheizt und musste kurz abkühlen.
"Mein Bruder Avianus", sagte er schließlich, "und du, ihr hättet euch nicht geschlagen. Ich wäre dazwischengegangen. Da passe ich schon auf. Ich habe ihn in den Hintern getreten, weil ich ihn mag. Er ist mein Bruder. Ich musste es tun." Sabaco grinste schief. Wenn Nero selbst Brüder hatte, würde er das verstehen. Wenn nicht, war es müßig, das zu erklären. Wobei ihm auffiel, dass er Ocella nie grob behandelt hatte, nicht einmal im Spaß ... die brüderlichen Scherze hatten nur Avianus getroffen. "Ich küsse auch nicht jeden, Nero. Ich küsse nur aus tiefer Zuneigung."
Er hatte den alten Grottenolm aus seiner dunklen, einsamen Höhle zurück ans Leben gezogen. Sabaco hatte die Initiative ergriffen mit seiner Dienstplan-Optimierungs-Offensive. Nun erhielt er die Antwort ... das Ja auf die Frage, die er niemals mit Worten gestellt hatte und von der er nicht erwartet hatte, dass Nero sie überhaupt wahrnahm. Er hatte sie nicht nur wahrgenommen, sondern auch verstanden. Und nun standen sie hier, Arm in Arm in der Kälte.
"Meinst du das mit uns wirklich ernst?", fragte Sabaco leise. "Und was machen wir damit? Du bist mein Vorgesetzter ..."