Die letzte Asche
Noch fünf Tage später dampfte die Asche. Der Geruch verbrannten Holzes umschmeichelte Sabacos Nase, während er die Stelle des Brandes durchstreifte wie ein Raubtier, das noch einmal über die abgenagten Gebeine leckte, um den Nachhall der Jagd zu spüren. Die Vigiles rissen mit schwerem Gerät die letzten Mauern um, damit die Trümmer niemanden erschlugen. Hier war nichts mehr zu reparieren und zu retten. Diese Insula war Geschichte. Der Centurio der Vigiles, der den klangvollen Namen Wolf trug, ein germanischstämmiger Haudegen, sah Sabaco finster nach. Doch was sollte er tun? Es gab keine Beweise, nur einen jungen Mann, der seine Freude an der Inspektion von Tatorten fand. An einer ruhigen Stelle, an der niemand arbeitete, ließ Sabaco sich nieder. Warme Kohlestückchen knisterten unter seinen Beinen. Seine Finger gruben sich genussvoll in das brüchige Schwarz, bargen eine Handvoll Asche. Sabaco zerrieb die Krümel zwischen den Fingern. Dann rieb er seine Hände langsam damit ein, als handele es sich um eine wohltuende Salbe.
Vertraute Schritte nahten und Ocella hockte sich zu ihm, die Brauen in Sorge verzogen. Gegensätzlicher hätte der Ausdruck in ihren Gesichtern nicht sein können. Sabaco hob den Blick und sah den Bruder vollkommen entspannt und sehr glücklich an. Ocella war inzwischen kein Kind mehr, doch das änderte nichts daran, dass Sabaco ihn hütete wie seinen Augapfel.
Es gab keinen anderen Menschen, für denen er auch nur annähernd so tief empfand. So gehörte er auch zu den wenigen, die in diesem Alter noch nie eine feste Liebschaft eingegangen waren. Was sein Körper trieb, war von seinen Gefühlen vollständig entkoppelt, bisweilen empfand er beim Akt sogar Ekel und Wut, als würden diese dreckigen Huren (die keineswegs immer Huren waren) es darauf abgesehen haben, Ocella ein Stück von der ihm zustehenden Liebe zu rauben. So kam es vor, dass Sabaco die Frauen, die sich ihm hingaben, würgte oder, wenn sie den Fehler machten, beim Akt zu sprechen, schlug, damit sie schwiegen. Sie waren Fleisch. Und Sabaco interagierte nicht mit Fleisch, er benutzte es. So hatte er sich auch angewöhnt, sie umzudrehen, um ihre Gesichter nicht sehen zu müssen.
Mit seinem Zeigefinger malte er Ocella zärtlich einen schwarzen Strich von der Stirn bis zur Nasenspitze. Der ließ die Neckerei über sich ergehen, blieb aber ernst.
"Das war ein bisschen viel diesmal, Sabo. Meinst du nicht?"
"Oh ja. So gut ist es mir noch nie gelungen. Die Nacht loderte so hell, man konnte normal sehen, als wäre es Tag gewesen. Es hatte etwas von einem besonders intensiven Sonnenaufgang. Die Funken fielen auf die Straßen wie brennender Regen. Wunderschön. Ich werde ein Gedicht darüber schreiben, ich spüre es schon in mir reifen. Wusstest du, dass man Tinte aus Asche macht? Die Geschichte dieser Welt wurde seit jeher in Asche geschrieben."
Ocella sah ihn eindringlich an, was putzig aussah mit dem Strich auf der Nase. "Es sind Menschen gestorben, Sabo. Eine römische Familie mit drei Kindern."
Sabaco zuckte mit den muskulösen Schultern. Da er sie nicht kannte, waren sie ihm gleichgültig. "Es sterben jeden Tag Menschen, Kleiner. Seit wann muss ich dir das erklären? Hätten die Götter gewollt, dass sie leben, hätten sie ihnen geholfen." Doch seine Stimme klang nicht so sicher wie sonst. Ihm gefiel Ocellas Tonfall nicht und sein Blick wirkte befremdlich. "Sag mal, was willst du eigentlich gerade von mir?", grollte Sabaco misstrauisch.
"Ich will, dass du aufhörst, bevor es zu spät ist! Sei einmal in deinem Leben vernünftig. Wenn dir die Menschen schon gleichgültig sind, die du umgebracht hast, solltest du zumindest dir selbst gegenüber nicht gleichgültig nicht sein. Eines Tages wird man dich erwischen."
Nun voll tiefstem Argwohn kniff Sabaco die Augen zusammen. "Ich habe niemanden umgebracht, sie sind gestorben. Du setzt mir gerade den Dolch auf die Brust. Du willst mich an den Wolf verpfeifen, wenn ich nicht deinem Willen nachkomme. Ist es das? Du willst mich an die Vigiles verraten!"
Sie erhoben sich gleichzeitig, unter ihren Sandalen knisterte die Asche. In der Ferne rumpelten die Steine einer abgerissenen Mauer, die Vigiles riefen sich irgendwas zu - weit genug entfernt, und doch bedrohlich nahe. Die Brüder starrten sich gegenseitig in die Augen, beide entschlossen, sich zu verteidigen, doch zögernd, in dem Streit fortzufahren. Keiner von beiden fühlte sich wohl mit dieser Konfrontation. Zwar war es nicht das erste Mal, dass Ocella sein Missfallen an den Brandstiftungen äußerte, aber noch nie hatte er sich so gegen seinen großen Bruder gestellt.
"Ich will dich nicht verraten, sondern uns retten", sprach Ocella betont ruhig. "Dich und mich. Das Feuer ist für dich längst kein Werkzeug mehr, sondern zu reinem Selbstzweck mutiert. Du liebst das Feuer, weil es dir irgendetwas gibt, das ich nicht verstehe. Was haben Flammen und Tod uns mit diesem Brand eingebracht? Oder das das letzte Mal? Überhaupt nichts, Sabo. Keinerlei praktischen Nutzen. Dafür aber viel Leid über anständige Römer. Dich bringt das Feuer in Lebensgefahr und mich auch, denn ich war dein Komplize. Das ist nun vorbei. Wir enden beide auf dem Scheiterhaufen, wenn wir so weitermachen. Lass es enden, Sabo!"
Die Stimme des kleinen Bruders war ruhig, aber eindringlich. Ocella wirkte ... fremd. Völlig fremd! So als würde ein anderer durch ihn sprechen. Plötzlich begriff Sabaco. In seinem Hirn gellten alle Alarmglocken gleichzeitig. Gefahr. Höchste Gefahr!
"Es ist dieser Germanicus Varro, den ich aus dir sprechen höre", keuchte er, blickte sich gehetzt um, sah aber nichts Verdächtiges. "Dieser missgünstige alte Sack, mit dem du die letzten Tage ausreiten warst. Vaters Bekannter. Nicht wahr? Da haben die Hoppapferdchen scheinbar ausgereicht. Sprich, Ocella: Seit wann bist du käuflich?"
"Und seit wann hast du vor, mich mit dir in den Tod zu reißen?!", schnauzte Ocella zurück. "Varro wollte dich auch mit auf den Ausritt nehmen, er hatte das für uns beide geplant, weil er es gut mit uns meint! Du warst es, der nicht mitkommen wollte, weil du ihn aus irgendeinem Grund nicht leiden kannst. Jetzt hörst du mir zu. Was du mit deinem Leben anstellst, ist deine Sache. Aber ich unterstütze dich nicht länger darin, uns beide zugrunde zu richten! Hör - damit - auf!"
Sabacos Blick war lauernd. Ocella hatte nicht bestritten, dass Varro es gewesen war, der ihn bezirzt hatte. Der Mann rutschte schlagartig in die Kategorie 'Feind' und bestand nur noch aus schlechten Eigenschaften. Vor Eifersucht drehte sich Sabaco schier der Magen um, seine Hände schnappten zu Fäusten zusammen.
"Du scheinst dir ja neuerdings seeehr viel selbst zu bedeuten, Brüderchen. Ich wusste gar nicht, dass ich dich zu so einem Egoisten erzogen habe. Wobei ... das habe ich auch nicht. Das sind die giftigen Einflüsterungen von deinem neuen Freund. Was, wenn ich Nein sage zu deiner Forderung? Marschierst du dann zum Wolf, und lieferst mich ihm aus, um deine eigene Haut vor der Justiz zu retten? Ein Geständnis kann da viel bewirken. Sei Zeuge, damit man mich dran kriegt. Deine Drohungen bewirken bei mir nichts. Du brauchst auch nicht zu versuchen, mich ein zweites Mal zu einem Gespräch mit Varro zu zwingen. Mit dem bin ich durch. Meine Antwort lautet Nein, Nein und nochmals Nein!"
Die letzten Worte hatte Sabaco gebrüllt. Ocella wurde es zu viel. Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. Wie konnte Sabaco es auch wagen, so vom heiligen Varro zu sprechen! Irgendwann würde der Kleine sich schon wieder beruhigen - Varro würde am nächsten Tag ohnehin abreisen und sein Gift wieder mit in den heimischen Pferdestall nehmen. Sabaco stand in seinem Aschehaufen, sah seinem kleinen Bruder nach und ließ ihn ziehen. Ocella würde die Nacht irgendwo anders verbringen und bei Sonnenaufgang wieder zu ihm zurückkehren, in der Hand etwas zu Essen, um es mit ihm zu teilen. Sabaco würde annehmen und sie würden gemeinsam frühstücken. Danach wäre alles wie früher.
Doch Ocella kam am nächsten Morgen nicht.
Mit der Hilflosigkeit eines verirrten Welpen stand Sabaco völlig allein an ihrem Grillplatz am Strand, wo er geschlafen hatte und wo sein Bruder ihn normalerweise nun mit dem Frühstück aufgesucht hätte. Dass Ocella nicht erschienen war, warf ihn völlig aus der Bahn. Stundenlang wartete er am selben Platz, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Gegen Vormittag irrte er dann durch die Straßen, schaute in jede Taberna, rannte schließlich der Länge nach von Osten nach Westen über den gesamten Strand von Tarraco. Fragte Passanten, suchte überall, rief, schrie den Namen seines kleinen Bruders, drehte fast durch und riss sich die Haare aus. Für ihn kam nur eine schreckliche Gewalttat infrage. Als seine Suche erfolglos blieb, sprintete er nach Hause, um die Familie zu informieren, dass ihr jüngster Sohn verschwunden war, damit sie die Vigiles informieren und eine breitgefächerte Suche einleiten konnten.
Doch zu Hause erwartete ihn etwas völlig anderes als besorgte Eltern und viele Dinge schienen im Haus zu fehlen. Als er das leere, aufgeräumte Bett sah, zersplitterte seine Welt in tausend Scherben, der Sinn seines Lebens verflüchtigte sich wie Rauch, der vom Wind erfasst und davongetragen wurde. Der kleine Bruder hatte Varro samt sehr viel Gepäck in die Fremde begleitet. So, wie es aussah, war keine zeitnahe Rückkehr geplant. Wo das Gestüt lag, verriet Sabaco niemand.
Die folgende Gedächtnislücke musste einige Stunden betragen, denn die Dunkelheit kroch von Osten her über Tarraco. Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet und es schüttete warmen Sommerregen. Vollkommen hilflos fand Sabaco sich allein am menschenleeren Strand wieder vor der kalten Feuerstelle, wo er mit Ocella und den Freunden regelmäßig gegrillt und getrunken hatte. Ocella war alles gewesen. Ohne Ocella war alles nichts. Sabacos Tunika klebte nass an seinem Körper. Bei dem Wetter war niemand hier und es würde auch niemand kommen. Der Regen spülte die Asche aus der Feuerstelle fort und sie lief als kleiner schwarzer Bach hinunter zum Meer. Sabaco brach in sich zusammen und stürzte in den Sand, wo er sich in inneren Qualen zusammenkrümmte. Eingerollt wie ein Embryo lag er an dem verlassenen Platz und rührte sich lange Zeit nicht mehr.