Beiträge von Publius Matinius Sabaco

    "Ich kann nicht sagen, ob ich meinen Sohn wirklich liebe. Es liegen viel Zeit und viel Raum zwischen uns. Bis ich ihn das erste Mal sah, hielt ich ihn für einen Bastard. Sein offizieller Vater, der ihn auch aufzog, ist ein Germane namens Catualda aus dem Osten, ein Harier. So einer von denen, die nachts angreifen, sich schwarz kleiden und ihre Gesichter und Oberkörper mit Asche beschmieren. Wie Schatten brechen sie der Dunkelheit über einen herein, sie sind extrem unangenehm und wohl mit den Vandalen verwandt. Keine Ahnung, wie es so einen nach Hispania verschlug, aber so war es. Ich glaube nicht, dass mein Sohn weiß, dass es mich gibt. Falls doch, kann seine Mutter ihm nichts Gutes von mir berichten. Er würde seinen leiblichen Vater für das halten, was er ist, für einen -"


    Sabacos Mund schloss sich mit einem Klacken seiner Zähne. Verdammter Wein. Er starrte Nero an, versuchte in dessen Gesicht zu lesen, wie viel er aus seinen bisherigen Informationen zu kombinieren vermochte. Der Gubernator kannte die große Brandnarbe an seiner Flanke. Nein. Die Fakten lagen zu weit auseinander, um eine mögliche Verbindung zwischen ihnen zu vermuten. Sabaco sah weg und schüttelte den Kopf.


    "Trotzdem würde ich gern sehen, wie er heute aussieht und erfahren, wie es ihm geht, wie er sich so macht. Ihm anonym etwas Geld zukommen lassen, damit er sich mal einen Wunsch erfüllen kann, den er vielleicht schon lange hegt. Ich wäre ihm gern ein besserer Vater gewesen oder überhaupt ein Vater. Doch dafür ist nicht jeder gemacht. Der größte Gefallen, den ich meinem Sohn und seiner Mutter erweisen konnte, war, mich aus ihrem Leben zu verabschieden und nie mehr zurückzukommen."


    Er war froh, dass Nero es sich anders überlegte und nun mit ihm die Stadt unsicher machen wollte. Ablenkung brauchte er dringend. Dass Nero ihn mit dem kleinen Bruder ködern wollte, ließ Sabaco wieder grinsen.


    "Ocella hat gerade eine schwere Verletzung überstanden, er benötigt noch Ruhe, bevor ich ihn wieder durch Mogontiacum schleifen kann. Aber vielleicht sehen wir etwas, das ich ihm kaufen werde.


    Deine Seeschlange hätte nicht gewollt, dass du den Rest deiner Tage in einem Officium versauerst und immer bleicher, faltiger und kahler wirst. Im Moment erinnerst du an einen Grottenolm. Aber das kriegen wir wieder hin, wir haben ja schon angefangen, dich an die Sonne zu gewöhnen und jetzt stürzen wir uns ins Nachtleben. Worauf hast du Lust, wie hast du dich früher amüsiert? Das holen wir jetzt nach. Auf geht's."

    Ein Muskel arbeitete an Sabacos Wange, während er das Mienenspiel des Gubernators beobachtete und ihn nicht aus den Augen ließ. Aus seiner Zeit bei der Legio, die er mit einem wahren Zuckerstückchen von einem Ausbilder hatte durchleben müssen, war er es gewohnt, dass ihm in solchen Momenten vor versammelter Mannschaft der Kopf abgerissen wurde. Zu seiner Überraschung folgte jedoch eine ruhige und durchaus wohlwollende Erklärung. Er richtete sich weiter auf und entspannte sich.


    "In der Nähe des Kriegshafens gibt es ein Sacellum des Merkur und eine Jupitersäule. Zu beidem gehört aber keine Priester, das sind nur den Göttern geweihte Orte, die jeder benutzen kann. Ein Heiligtum der Magna Mater befindet sich in der Stadt. Sonst ist mir in Mogontiacum kein Tempel bekannt."


    Der einzige von Priestern bemannte Tempel musste natürlich ausgerechnet diesen Kult beherbergen! Kurz dachte er an Zmertorix und fragte sich, ob er tatsächlich einen Eunuchen in Damenkleidern an seinem Schiff herumfummeln lassen sollte. Waren Frauen nicht auf Schiffen verboten? Gestresst stemmte er eine Hand in die Hüfte, die Stirn von Sorgenfalten zerklüftet, als Ansgar den rettenden Hinweis gab.


    "Der Coronarius, na klar", freute Sabaco sich. "Terentius Ruga wird bald eintreffen. Bis dahin putzen und wienern wir die Keto, bis sie glänzt! An die Arbeit!"

    Sicher glitt die Keto durch die Hafeneinfahrt des Portus Militaris. Die Molen dienten als Ankerplätze, schützten aber zugleich das künstlich angelegte Hafenbecken vor der Abtragung durch die Strömung. Sabaco brauchte nichts zu sagen, die Männer wussten, was zu tun war. Nur er wusste es nicht. Das Leichenwasser musste herunter, aber wahrscheinlich musste auch noch ein Opfer her. Müde rieb er sich den Hinterkopf. Er wusste es nicht.


    "Die Keto muss noch gründlicher als sonst gereinigt werden. Kennt sich jemand mit Entsühnungen und so was aus? Muss die sofort erfolgen?"

    "Zwei. Eine für Neptun und eine für den zwiegehörnten Rhenus*", grummelte Sabaco und setzte sich hin. Ihm war nicht gut und er war dankbar, dass Nero die Seebestattung übernahm. Den Anblick, wie er die zwei eingewickelten Körper anhob und wie Getreidesäcke ins Wasser wuchtete, würde er so schnell nicht loswerden. Die Veränderung von atmendem Mensch zu reglosem, seelenlosen Fleisch - nicht greifbar, wenn man es nicht selbst gesehen hatte.


    Als die Keto den Rückweg antrat, erinnerten nur das Schweigen der Männer und der Geruch an Deck noch an die beiden Toten. Sie zogen an den baumbewachsenen Ufern vorbei und Sabaco entdeckte das erste braune Laub auf den Fluten treiben. Die Dinge schienen ihm seltsam fern und entrückt. Zug um Zug brachten die Ruderschläge die Keto und ihre Mannschaft in Richtung Mogontiacum. Sabaco empfand keine Freude. Sein Magen knurrte und seine Blase drückte. Eigentlich hatte er in Borbetomagus mit den Männern rasten wollen, damit sie etwas essen und sich die Beine vertreten konnten. Als sie an der großen Furt vorbeikamen, leuchtete kurz die Nachmittagssonne zwischen den grauen Wolken hervor, doch dann zog der Himmel wieder vollständig zu. Es waren keine Rinder mehr zu sehen und keine winkenden Bauern.


    Man roch die Stadt, bevor man sieh sah. Rund um die Uhr schickten zahllose Öfen schwarze Rauchsäulen hinauf in die Wolken. Jetzt, da es nachts kälter wurde, noch mehr als im Sommer. Pünktlich mit dem Einbruch der Dunkelheit grüßte die dunkle Mauer der Castra der Ala sie, auf der die Wachposten gelangweilt ihre Runden zogen. Das Hämmern der Schmiede in der Fabricia hörte man bis hier. Wie immer, wenn er daran vorbeikam - was bisher nur auf dem Landweg der Fall gewesen war - nahm Sabaco sich die Zeit, nach Ocella Ausschau zu halten, während die Keto sich an der 1000 pes vom Ufersaum entfernten Mauer vorbeischob. Es war aussichtslos, auf die Entfernung würde er seinen Bruder mit Helm und Rüstung nicht erkennen. Enttäuscht schaute er wieder nach vorn.


    "War das gerade ein Lächeln?" Sabacos Mundwinkel zogen sich weit auseinander und offenbarten sein klaffendes Trümmergebiss, das ihn leicht lispeln ließ. "Wusste gar nicht, dass du das kannst. Ich sage es keinem weiter." Für einen Moment hatte der Gubernator ganz anders ausgesehen als sonst, dann war es schon wieder vorbei - aber nicht ganz. Denn nachdem er das kaputte Instrument auf dem Larenschrein entdeckt hatte, glomm noch ein Schmunzeln nach. "Unser Hafen ist hier. Das ist jetzt unser Heimathafen. Ich liebe das Wort. Heimathafen. Das sagt doch alles, oder? Ich will doch sehr hoffen, dass du bis zum Ende dabei bleibst. Auf uns."


    Wie es seine Art war, stieß Sabaco nicht an, sondern drückte seinen Becher fest gegen den von Nero, ehe er ihn in einem langen Zug leerte. Der wievielte war das jetzt? Inzwischen bewegte sich der Gubernator langsam hinter seinem Ende des Tisches hin und her und wirkte ziemlich unscharf. Doch Sabaco vermochte noch weitestgehend deutlich zu sprechen.


    "Ein Navigationsgerät hilft einem nur, den Weg zu finden, wenn man das Ziel kennt. Meine Ziele sind vage. Meine Aufgabe gut erledigen, vielleicht ergibt sich die eine oder andere Beförderung. Du hast einen Plan für ein Grundstück, meintest du am Strand? Das würde nützen. Meinen Sohn ... Resultat einer ausgebrannten Liebschaft ... würde ich gern einmal von nahem sehen. Und Stilo noch einmal."


    Er blickte zur Tischplatte, als er an ihn dachte, weil der Trennungsschmerz im Laufe der Monate kein bisschen weniger geworden war. Geschrieben hatte Stilo ihm auch noch nicht, vermutlich hatte er ihn einfach vergessen. Sich in die Arbeit und sein neues Leben gestürzt. Sabaco sah wieder auf.


    "Mehr Ziele habe ich im Moment nicht. Was sind deine?"

    Sabaco schenkte sich ebenfalls nach. Da ihm auffiel, dass er vergessen hatte, etwas Festes zu sich zu nehmen, tunkte er Brot in den Wein und biss die aufgeweichte Ecke ab.


    "Das hört sich nicht tröstlich an", brummelte er, "jeden Tag Selbstgespräche über die gleichen Dinge zu führen, weil keiner dir zuhört. Dabei sind deine Geschichten durchaus hörenswert, doch es bedarf Ohren, die bereit sind, zu hören. Da wir beschlossen haben, künftig zusammen den Feierabend zu verbringen, kannst du sie fortan mir erzählen, wenn dir danach ist. Es mag sein, dass wir beide heimatlos sind, weil wir das verloren haben, was uns Heimat war, doch zu zweit ist der Weg nicht so lang und vor allem nicht so trist."


    Sabaco nickte in Richtung des Larenschreins an der Wand. Zwischen einigen Tonfigürchen, der Kerze und der Opferschale stand auf einem zusammengefalteten Tuch das kaputte Navigationsgerät, das Nero ihm geschenkt hatte. Sabaco zwinkerte dem Gubernator zu.


    "Ich verstecke mich nicht vor mir selbst, glaub mir. Wer und was ich bin, weiß ich sehr gut. Ich bin so sehr ich selbst, wie es mir unter den gegenwärtigen Umständen möglich ist. Und wie ich es sein kann, ohne aus der Classis geworfen zu werden."

    Sabaco sah Nero noch lange an, nachdem dieser seine Ausführungen bereits beendet hatte, als ob er in dessen Gesicht die ganze Geschichte lesen wolle, die sich darunter noch verbarg. Die Augen des Gubernators wirkten nicht wirklich blau, sondern vielmehr blass wie die eines Fisches, gräulich und kalt. Die faltige Haut war wettergegerbt, auch wenn die Arbeit im Officium ihn hatte bleich werden lassen. Erst, als die Artemis neben die Keto aufschloss, wandte Sabaco den Blick von ihm ab, um zum Optio spei hinüberzusehen. Terentius Ruga war wie Nero eine Kreatur der See, genau so verwittert, genau so unergründlich. Der Optio spei wartete schweigend und beide Offiziere sahen Sabaco an.


    Stille lag über den Schiffen. Die Geräusche aus der Stadt wirkten so weit entfernt, als kämen sie aus einer anderen Welt, einer Welt des Lebens und des Lichts, während Sabaco spürte, wie sich die Dunkelheit über ihn legte. Er fröstelte, war froh über die zweite Tunika, die er unter der blauen Diensttunika trug, doch diese Kälte kroch nicht von außen über seine Haut.


    Er blickte zu den eingewickelten Körpern, sah die Konturen der Arme und suchte, wo die Gesichter lagen. Seine arbeitende Kiefermuskulatur ließ erahnen, dass einiges in ihm vorgehen musste. Sie offenbarte auch, dass diese Entscheidung ihre Zeit brauchte. Seeleute nannten eine andere Sicht auf die Dinge ihr Eigen, als der neue Suboptio es von der Legio gewohnt war. Karren rollten schwerfällig mit erdverklumpten Rädern durch seinen Geist, die Ladeflächen voll mit dem, was nach dem Gefecht übrig geblieben war. Doch Sabaco war nicht mehr bei der Legio und ein Transport für die Gefallenen nicht bei der Classis vorgesehen. Dass dies ein Scheideweg war, spürte er.


    "Gebt dem Rhenus, was des Rhenus ist", sprach er schließlich.

    Das Miasma der Toten zog in übelriechenden Schwaden über Deck. Ein Schwarm Krähen erhob sich aus einer Weide am Ufer, um mit vielstimmigem Gekreisch über sie hinwegzuziehen. Da Sabaco Krähen mochte, was für einen Angehörigen des Militärs nicht selbstverständlich war, hieß er die kleine Abwechslung willkommen. An den Gedanken, dass die Götter das Schiff mit weniger wohlwollenden Augen sehen könnten, seit zwei Tote darauf lagen, kam er nicht. Seiner Meinung nach hassten die Götter ihn ohnehin. In Sabacos Welt gab es nur die Option, die beiden Kameraden zurück an den Ort zu bringen, an den sie gehörten. Adalrich und Tiro waren davongelaufen und hatten dafür mit dem Leben bezahlt. Sabaco würde die beiden Tirones wieder nach Hause holen, in einem anderen Zustand, als er sich wünschen würde, doch nach Hause. Die Keto würde langsamer vorankommen, wenn die Männer gegen Übelkeit ankämpfen mussten, aber früher oder später würden sie alle den heimatlichen Hafen erreichen.

    Eike untersuchte die beiden geborgenen Personen trotz ihres offensichtlichen Zustands, um dem sichtlich aufgebrachten Suboptio zu zeigen, dass er alles in seiner Macht Stehende unternahm. Der hatte die Gesichter der beiden Toten erkannt und beugte sich mit steinerner Miene über sie. Hätte Eike ein Wunder vollbringen können, so hätte er es. Doch er war Capsarius und das Wundervollbringen musste er den Heiligen überlassen. Nur durch den Mund atmend schaute sich die Halswunden an und drückte die Hände, welche die Totenstarre schon wieder hinter sich hatten. Dann sah er den Suboptio an und schüttelte den Kopf. "Die sind Ex", war alles, was es noch zu sagen gab.


    "Aber das sind Adalrich und Tiro", rief Sabaco, als würde dieses Detail etwas an den Tatsachen ändern. "Meine zwei Tirones!"


    Da lagen sie, die zwei Prinzesschen, über die ein jeder hatte gelacht. Aber sie waren Sabacos Prinzesschen gewesen, er hätte sie schon noch zu Männern geformt. Nun lagen sie hier, nur noch Fleisch, aufgeschlitzt und blutleer, kalt und aufgequollen. Aufgebracht drehte Sabaco sich in die andere Richtung, stapfte ein paar Schritte und kam wieder zurück. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren.


    Neben Ansgar und Fiete blieb er stehen, sah sie an. "Ihr habt alles getan, was ihr tun konntet", sprach er nun ruhig. "Gut gemacht." Dabei legte er ihnen die Hand auf die Schulter und drückte diese kurz. Sie hielten sich tapfer, aber eine Wasserleiche zu bergen, die man obendrein im lebenden Zustand gekannt hatte, war eine nervenzerreißende Aufgabe. Kurz überlegte Sabaco, ob er Ansgar und Fiete für die Heimfahrt mit den Schützen abwechseln lassen sollte, damit sie pausieren konnten, entschied sich jedoch dagegen. Es war besser, wenn sie nun etwas zu tun hatten.


    Sabaco schritt weiter. Lauter und an alle gewandt sagte er: "Wie kurz Adalrich und Tiro auch bei uns gewesen sein mögen, sie waren ein Teil von uns. Sie werden immer Teil von uns sein. Sie haben alles gegeben, was sie geben konnten und waren würdige Soldaten Roms. Erweisen wir unseren beiden Kameraden den letzten Dienst. Eike, bette sie in Rettungsdecken. Wir bringen die Kameraden nach Hause, wo sie eine würdige Bestattung erhalten werden. Gubernator, ich übernehme wieder. Trupp eins an die Plätze, Schützen wieder in Position. Anker lichten und Kurs auf Mogontiacum, wir fahren heim."

    Nach einem weiteren Becher begann Sabaco den Wein endlich vernünftig zu merken. So taute er ein wenig auf.


    "Ich brauche dir nichts mehr zu berichten, Nero. Wenn ich rede und dir nur einen Splitter erzähle, ergänzt du ihn zu einem Ganzen. Du liest mich wie ein Buch. Nur mich, oder alle Menschen? Reden wir trotzdem, der Gemütlichkeit wegen. Ja, ich vermisse die Sommer am Strand von Tarraco. Wir machten Feuer, wir grillten, badeten, tranken. Ocella war damals noch dabei. Die Hunde tollten um uns herum, wir spielten mit Lederbällen, Stöcken, versuchten irgendwas zu bauen, meist eine Angel, ein Floß oder ein Haus, oder wir balgten. Aber ist es wirklich Tarraco, was mir fehlt? Oder ist es die Zeit meiner Jugend? Die Menschen? Dann bin ich verloren, so wie du."


    Trauer für Nero, Neid für den Toten. Sabaco fragte sich, was ihm selbst fehlte, dass ihn niemals wer so ins Herz schloss. Er schob die Teller, Becher und Amphoren auf dem Tisch beiseite und kuschelte sich auf die Unterarme. In dieser Haltung goss er sich nach.


    "Ich gehe meist in die Stadt, unter die Menschen, um mich aufzumuntern. Kurzzeitig funktioniert das. Aber wie sollen Saufkumpanen, die man irgendwo aufgabelt, Freunde ersetzen, oder eine Prügelei die Zeit mit den Jungs auf der Straße, oder ein schneller Fick die verflossene Liebe. Das funktioniert nicht. Man will mehr davon, weil es besser als nichts ist, immer mehr, aber es ist nie genug, Nero, niemals genug. Verstehst du?"


    Das erste Mal gab er zu, dass ihm die Kontrolle über diese Dinge längst entglitten war. Für einen Offizier ein drohender Genickbruch. Doch Sabaco musste trinken, er musste sich schlagen und das innere Feuer und den Schmerz umarmen. Er musste herumhuren ohne Wahl und ohne Maß, nur um einen Menschen in seinen Armen zu spüren, aß aus purer Gier Dinge, die ihm nicht schmeckten, genau wissend, was ihn all das kostete, und war doch unfähig, damit aufzuhören, denn etwas anderes hatte er nicht. Wenn all das nicht mehr half, um sich noch lebendig zu fühlen, dann rief er das Feuer. Auch die Strafe für Brandstifter war ihm bewusst. Sie schreckte ihn nicht.


    "Kommst du mit in die Stadt? Der Abend ist noch jung und ich war lange nicht draußen. Ich lade dich ein. Und unterwegs erzählst du mir, was du an den Tagen tust, an denen du dich heimatlos fühlst."

    Unelegant kamen die entblößten Ärsche wieder auf ihre angedachten Plätze, als die Artemis mit dem Ramsporn nur knapp das Heck der Keto verfehlte. Dieser Punkt ging an Ruga. Sabacos Mundwinkel zuckten, als einige volle Amphoren den nagelneuen Rumpf der Keto trafen. Der Gestank, der ihm in die Nase stieg, verriet die Fracht. Für Sabacos Männer hieß das eine Zusatzschicht nach der Heimkehr, denn so stinkend würde das Schiff nicht bleiben.


    Na warte.


    Erneut beschleunigte die Keto, um das derbe Spiel fortzusetzen, doch etwas stimmte nicht. Schlagartig änderte sich die Stimmung an Bord des anderen Schiffes, noch bevor Ruga das Signal für Gefahr an die Keto rübergab. Ruga ließ halten und den Anker auswerfen. Sabaco sah auch an der Körperhaltung der Männer auf der Artemis, dass die Übung vorbei war. Sabaco bestätigte das erhaltene Signal. Sofort marschierte er an den Bug, so dass er einen guten Blick auf das Wasser hatte, während er Nero zu verstehen gab, am Heck zu verbleiben. Die Schützen drängten sich neben ihn und ihre Augen folgten seinem Blick.


    "Halbe Kraft ..." Seine Stimme klang nicht länger feurig erregt, sondern dunkel. Die gefühlte Rivalität zu Ruga verpuffte, als hätte sie nie existiert, als Sabaco einen kurzen Blick mit ihm wechselte. Langsam ließ Sabaco die Keto neben die Artemis fahren, damit er sehen konnte, worauf Rugas Mannschaft starrte. Zwei Körper trieben am Ufersaum.


    Oh Nein ... die Tuniken ... das waren Kameraden!


    "Zwei bewegungslose Personen im Wasser!", brüllte er, damit jeder wusste, was los war. "Anker, lass fallen."


    Die Strömung würde die Keto stabilisieren, es war momentan gleichgültig, in welche Richtung sie zeigte. Der Abstand zur Artemis war ausreichend, um diese nicht zu behindern. Sofort leitete Sabaco alle Maßnahmen zur Rettung ein. Er unterdrückte den Impuls, selbst ins Wasser zu springen. Er war ein hervorragender Schwimmer und konnte Leute aus einer Notsituation wie dieser holen, aber seine Aufgabe war es, zu koordinieren.


    "Trupp eins - Rettungstrupp bilden. Ansgar und Fiete", bellte er zwei seiner Marini aus Trupp eins zu. "Raus aus den Klamotten und rein ins Wasser!" Diese Sekunden, in denen alles Störende abgelegt wurde, mussten sein, damit Ansgar und Fiete sich nicht gefährdeten, denn Metallteile waren schwer und eine herumtreibende Tunika konnte sich im Geäst verfangen. Im ungünstigsten Fall hatte man sonst vier Notfälle statt zwei. "Eike! Maßnahmen zur Ersten Hilfe vorbereiten!" Eike war der Capsarius an Bord.


    Und an Nero gewandt rief er: "Ich übernehme den Rettungstrupp. Gubernator - Kommando über das Schiff."


    Wäre Sabaco allein, müsste er alles selbst im Auge behalten, doch sie hatten den Luxus, Arbeitsteilung vornehmen zu können und gerade in einer Notsituation wäre er dumm, das nicht zu nutzen. Die Männer zogen die Ruder hoch und Trupp eins erhob sich von den Bänken. Sie würden Ansgar und Fiete unterstützen, die regungslosen Menschen an Bord der Keto zu bringen. Angespannt krallte Sabaco eine Hand in die Reling, den Blick auf die beiden treibenden Körper gerichtet.

    Da Nero als Ranghöherer ihm das empfahl, war es in Ordnung und damit war es Gesetz. Während Nero die Mannschaft anfeuerte und die Keto weiter beschleunigte, verschränkte Sabaco die Hände hinter dem Rücken, setzte seine Offiziersmine auf und spazierte die Ruderreihen entlang.


    "Hergehört! Wir werden noch einmal wenden, der Artemis entgegenfahren und sie auf gleiche Weise passieren", erklärte er in den Pausen von Neros Gebrüll. "Sobald wir an ihr vorbeiziehen, gebe ich das Kommando, die Ruder hochzunehmen. Gleichzeitig hebt ihr eure Ärsche samt eurer Tunika hoch. Wir werden wir das andere Schiff auf unsere Weise grüßen. Also! Wende Steuerbord! Ausführung!"


    Sabaco spazierte zurück an seinen Platz. Die Keto beschrieb eine erneute Kurve und diese war perfekt. Was für eine schöne Kurve. Kurz darauf fuhren sie erneut an der Artemis vorbei. Ob alle Marini dabei mehr als nur ihr Ruder hoben, sah Sabaco nicht, weil er aufrecht an Deck stand, um in Rugas Gesicht zu sehen, während ihm ein Haufen weißer Ärsche zum Gruß entgegen leuchtete.

    Mit einem Anflug von Bestürzung registrierte Sabaco, wie Nero seinen unverdünnten und nicht gerade schwachen Wein trank. Ihm schwante, dass es eine dumme Idee gewesen sein könne, einen Seemann unter den Tisch trinken zu wollen, der obendrein 20 Jahre mehr Übung darin hatte als er selbst.


    "Niemand weiß das heiße Herz des Feuers wahrhaft zu würdigen, der nicht den klammen Griff des Winters in seinen Knochen gespürt hat." Sabaco sprach achtsam, denn ihm durfte nichts Falsches diesbezüglich herausrutschen. "Manche behaupten, man würde gegen Kälte abstumpfen, aber das stimmt nicht. Man lernt höchstens, sich mit dem Zittern abzufinden und damit, auf Füßen zu gehen, die man nicht spürt und mit Händen zu greifen, die beinahe vollständig steif sind. Wofür es keine Akzeptanz geben kann, sind die gesundheitlichen Folgen solcher Kälte. Der Klassiker ist die Lungenentzündung. Dann kommst du entweder in eine warme Umgebung und wirst gepflegt, oder du stirbst."


    Einmal. Einmal hatte er jemanden aus Mitleid mitgenommen. Armándos. Das hatte Ärger gegeben. Er schaute böse und schüttelte den Kopf. Er konnte sie nicht in die Casa Matinia schleppen. Theoretisch könnte sein Haus sie alle durchfüttern ... praktisch nicht. So funktionierte das nicht, so funktionierte Rom nicht. Er trank auch den zweiten Becher. Der von Nero war noch voll, so konnte er ihm nicht nachschenken, aber sich.


    "Wir wollten nicht von Kälte sprechen. In meinen Adern fließt hispanisches Blut, ich benötige Sommer, Sonne und Wärme. Wie bist du von Cappadocia nach Germania gekommen? Es ging ja alles drunter und drüber bei dir, ich stelle mir die Abreise chaotisch vor. Und hast du manchmal Heimweh?"


    "Diese Weisheit sagt mir nichts."


    Sabaco schaute plötzlich argwöhnisch drein, fühlte sich ertappt, musterte Neros Gesicht. Dann wischte er den Gedanken beiseite. So war der Gubernator nicht. Und woher sollte Nero auch wissen, was sich bei der Taberna Silva Nigra zugetragen hatte ... niemand wusste es. Es gab keine Zeugen. Er ließ sich auf dem anderen Stuhl nieder.


    "Feuer ist beseelt, Nero, das spürt man. So wie die See oder der Rhenus. Die Penaten leben darin, unter anderem, aber vielleicht ist da noch mehr. Mir ist wichtig, dass das Feuer in meinem Ofen niemals ausgeht, so lange ich an einem Ort wohne. Außerdem mag ich es gern warm. Zu erfrieren ist unter den möglichen Todesarten einer der angenehmsten, sagt man, doch der Zustand davor, die Kälte, das ist grausam."


    Er griff nach dem Becher unverdünnten Weins, hob ihn, blickte Nero in die Augen und sprach: "Auf uns." Er trank den Wein, als wäre es Wasser, leerte den Becher in einem Zug. Hitze flutete sein Inneres, er rutschte mit der Hüfte nach vorn und streckte die Beine aus, während er entspannte. Treuherzig schlug er die Augen auf und schaute Nero an.

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    Mit einem vollen Seesack betraten sie Sabacos kleine Wohnung. Die Unterkunft hatte den Charme eines Officiums. Zur Hälfte traf das zu, denn am Fenster stand ein aufgeräumter Schreibtisch. Sie wirkte sehr ordentlich, aber auch kahl, ohne irgendetwas Persönliches darin. Ansonsten gab es einen Tisch mit zwei Stühlen, eine Pritsche und eine Truhe, sowie einen Rüstungsständer und ein Regal für die Ausrüstung. Die gekauften Habseligkeiten stellte Sabaco neben den Tisch mit den zwei Stühlen. Das ewig brennende Feuer fütterte Sabaco mit drei Holzscheiten, die in einem Korb aus Weidengeflecht bereitstanden, damit es schön prasselte. Entsprechend warm war es in der Unterkunft, denn von der Außentemperatur her wäre ein Heizen völlig unnötig gewesen.


    "Komm rein, mach es dir bequem", verlangte Sabaco gut gelaunt.


    Nachdem er das Feuer gefüttert hatte, half er Nero, den Tisch zu decken und mit dem gekauften Essen und den Getränken zu bestücken.

    Die kalte Gischt flog ihnen um die Ohren, Sabacos Kleidung wurde feucht. Er nahm an, Nero stellte ihm bewusst diese Falle, damit er bewies, dass er trotz allem einen klaren Kopf behielt. Darauf hatte er so gar keine Lust! Sabaco schnaubte wie ein Stier durch die Nase, die Augen waren starr auf den fingierten Gegner gerichtet. Er war in der Laune, irgendwen mit bloßen Händen auseinanderzunehmen und musste stattdessen reden!


    "Es ist nur ein Stresstest", knurrte er schließlich, während die Keto immer schneller vorwärts raste. "Wir würden die Mannschaft der Artemis gefährden, wenn wir ihnen das Segel zerschießen, und Classis-Eigentum zerstören."

    Als Sabaco am Heck ankam, blieb er einen Moment so stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Schiff fixierend, das auf sie zuraste. Mit dem gebauschten Segel wäre es ein eindrucksvoller Anblick, wäre Sabaco offen dafür, der Artemis ein positives Gefühl entgegenzubringen. Doch Sabaco spürte nur Zorn, der sich schlagartig zu Hass steigerte. Am Heck stand er, Ruga, die Sau, auf seinem alten Pisspott. Das war dann wohl der Stresstest.


    Na warte, Freundchen.


    "Volle Kraft", röhrte Sabaco, damit die Keto schnellstmöglich ihre verwundbare Flanke aus der Fahrbahn bekam. Er fuhr herum und brüllte die Männer an, wünschte sich eine lange Peitsche in die Hand, wie man sie zum Bändigen von Bullen verwendete. "Trahite! Trahite!*", schrie er, um die Männer anzufeuern. Die Keto beschleunigte rasant, ein Vorteil des leichten Gewichts. "Wende fortsetzen!"


    Als die Keto sich bei der hohen Geschwindigkeit in die Kurve legte, spürte Sabaco deutlich die Fliehkräfte wirken. Eine Navis Lusoria war äußerst wendig, aber auch instabil, was man vor allem beim Segeln merkte. Das Segel der Keto war allerdings eingerollt - das der Artemis stand voll im Wind. Wenige Ruderschläge später präsentierte die Keto der Artemis nicht länger die Flanke, sondern den Rammsporn. Und der hielt auf sie zu.


    "Beschleunigen auf Rammgeschwindigkeit!" Er riss den Arm nach vorn, um den Angriff einzuleiten.


    Das Spielchen konnte man auch andersrum spielen.


    Sim-Off:

    Zieht! Zieht!

    Ab und zu ging Sabaco hin und her, um sich die Beine zu vertreten. Vorn am Bug drängten sich ihre Schützen, die den Ausblick, den sie schon auswendig kannten, mehr oder weniger genossen. Falls irgendwem langweilig wurde, der weiter hinten saß, so konnte er sechs Stunden Dauerbeschallung durch die beiden Offiziere genießen, die ihren Theorieausbildern die Freudentränen in die Augen getrieben hätten. Sabaco beobachtete nichtsdestoweniger aufmerksam die Umgebung und die Mannschaft, doch seine gelegentlichen Kommandos waren eher Alibi, um zu demonstrieren, dass er bei der Sache war. Von der Sache her kümmerte die Mannschaft sich allein darum, einen vernünftigen Weg über den Rhenus zu finden.


    So erreichten sie ohne Schwierigkeiten Borbetomagus. Im Hintergrund zeichneten sich die Rauchsäulen der Öfen und Kamine gegen den Himmel ab. Die Fahrt war frei, keine störenden Schiffe in Sicht. Nicht einmal Terentius Ruga, dessen Mannschaft entweder schlechter trainiert war als seine oder der bewusst Abstand hielt, um Sabacos Anblick nicht ertragen zu müssen. Passiert war ihm wohl nichts, da die Keto voranfuhr und alles ruhig gewesen war.


    "So", brüllte Sabaco nicht ganz militärisch, als sie die besagte Stelle kurz vor Borbetomagus erreichten. Er trat in die Mitte des Ganges, damit jeder ihn gut hören konnte. Nicht, dass sein Stimmvolumen nicht ausgereicht hätte, aber nach sechs Stunden lebhaftem Reden klang er doch etwas heiser und nahm die Gelegenheit wahr, nicht lauter als nötig brüllen zu müssen.


    "Wir führen hier insgesamt drei Wendemanöver durch. Zunächst eine Wende in jede Richtung, beginnend mit der Wende über Backbord. Es folgt eine Wende nach Steuerbord. Nach der zweiten Wende landen wir in Fahrtrichtung an und vertreten uns am Ufer die Beine. Sobald wir wieder an Bord sind, führen wir eine letzte Wende durch, um auf Fahrtrichtung Heimweg zu kommen. Es folgt der zweite Teil der Übung, danach geht es nach Hause.


    Also! Klar zur Wende nach Backbord!"


    Seine gute Laune steckte scheinbar sogar Leute an, die er noch nie zuvor hatte grinsen sehen, wie den Rotschopf Ansgar. Sabaco spazierte zurück auf seinen Platz, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, der Lieblingskörperhaltung aller Offiziere.