Die Clemens so vertraute Münze der Fortuna wanderte über die linke Faust. Vom Zeige- zum kleinen Finger
und wieder zurück. Was trieb ihn hierher, in diese so fremde Welt der Intellektuellen? Tiberius hat mit seinen Worten vor einer Weile einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Was sonst hätte einen lyrisch begeisterten Träumer für die Rednerbühne hervorholen können?
Ein lautes Platzen ließ die Welt wieder materialisieren, die Münze zwischen Ring- und kleinen Finger
wandern. Der hübsche Reiter der Veneta, der den Quintilier beim Rennen damals so begeisterte, gab darauf sein rhetorisches Feuerwerk zum Besten. Clemens verstand zwar wenig nichts von Zahlen, noch weniger
von Staatshaushalten. Nichtsdestotrotz hinterließ die Darstellung zusammen mit dem gewagten Einstieg einen bleibenden Eindruck.
Wie soll man dagegen ankommen, wenn der nunmehr berufene Gegenredner sogar von der Richtigkeit der
gegnerischen Ansicht überzeugt ist? Ambitionen sind das stärkste Gift des Menschen: Ergreifend, ausbreitend, selbstzerstörend zieht es über den Betroffenen und dessen Gesellschaft her. Am Ende bleiben
nur Verwüstung und Krieg für die, die von der Seuche verschont blieben. Clemens Eltern waren das beste Beispiel. Saturnius wollte wohl so etwas in der Richtung sagen, nur kühler und abgeklärter.
Auf die elegante Überleitung des Veranstalters erwiderte Clemens ein Winken; er wird den Auftakt
machen. Sein Partner Vindex sollte das große Finale haben. Der Quintilier lernte den jungen Mann zwar erst heute kennen, jedoch war ihm bei den wenigen Worten zwischen ihm eines klar: Seine feurigen
Augen, sein Name und seine Begeisterung lassen vermuten, dass er hoch hinaus will. Sicher sind ein paar potentielle Gönner von ihm auch hier zugegen. Und wenn nicht, sind sie es sicher danach.
...Sofern bis zu ihm noch welche bleiben. Ein dumpfer Schmerz in der Magengegend holt die Realität
der Situation wieder in Clemens Bewusstsein zurück. War das nur so ein Gefühl, oder schauten ihn gerade wirklich alle an? Hilfesuchend wanderte der Blick des Redners zu seinem Tisch, wo ihn – Fortuna
sei gepriesen – ein Glas rote Erlösung anlachte, das wohl irgendwann den Weg zu seinem Tisch gefunden haben muss. Auch wenn es kein Anlass für Stolz ist: Wein schien in Clemens irgendetwas zu
erwecken, das ihn sicher durch die meisten ihm unbekannten Situationen bringt.
„Wenn das funktioniert, bin ich Bacchus ein Opfer schuldig.“
Murmelte der inzwischen ermattete Auftretende und zog fast das gesamte Glas in einem schnellen Zug weg.
Sind die Blicke weg? Der Weg zur Bühne war zumindest plötzlich machbar.
Etwas unbeholfen sprang Clemens mit einem kräftigen Satz in den halbrunden Platz, der wohl seine Bühne
sein würde. Nicht ganz der Knall, den sein Vorredner erzeugt hatte, aber zumindest genug für Aufmerksamkeit.
„Wunderbar, wunderbar! Wirklich beeindruckende Darstellung! Ein schlauer Mensch würde bei solchen
Daten wohl aufgeben, aber...“
Eine Pause. Von außen würde man vermuten, dass sie absichtlich kam. Allerdings fehlten dem Sprecher
wirklich die Worte. Man verblieb dabei, einfach draufloszureden.
„Leider habe ich keine Ahnung von Zahlen!“
Wieder eine Pause. Gut, gut... Was verstehst du denn?
„Was ich jedoch verstehe, sind Emotionen!“
Und noch eine Pause. Langsam wird deutlich, dass der Sprecher wohl nicht nach Effekten zu haschen versucht.
Emotionen, Emotionen...
Die Stille wird langsam unangenehm.
Der Klang des Wortes ließ Clemens in seinem Kopf wühlen, bis es ihn schließlich überkam. Seine Eltern.
„Schau nur, Lux; Post aus Germania! Dein Vater hilft dabei, der Welt die Schönheit von Roma mit der Welt zu teilen!“
...Wenn er den Mist, den man ihm als Kind erzählt hat, einfach so übertrieben wiedergebe, dass man es noch als Drama abstempeln kann?
...Das könnte tatsächlich klappen.
Mit einem Griff in die Luft mit der linken Hand holte Clemens zum verbalen Gegenschlag aus.
„Welche Emotionen sind die, die uns Römer am meisten prägen? Einheit und Stolz.
Vielfalt, die durch eine kräftige Hand geeint wird und Stolz, der unseren cives und Soldaten die Kraft gibt, den Rest der Welt an unseren Gaben teilhaben zu lassen! Wie können Zahlen diese
Begeisterung einfangen, die uns erst die Kraft gab, über alle Hindernisse dieser Welt zu kommen? Es war dieser Stolz, dieses Gefühl der Größe, das Romulus seiner Zeit erlaubte, den Grundstein unseres
großen imperium zu legen und es allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz zu verteidigen! Hätte er damals auf unsere weltlichen Grenzen geschaut, wären wir niemals zu dem geworden, was wir heute sind!“
Die Hand des Sprechenden zog sich zurück.
Jetzt nicht aufhören!
„Doch warum auch einem einfachen Träumer wie mir glauben, wenn ihr es auch von den
Göttern hören könnt? Wenn sie der Meinung sind, dass wir unser imperium vergrößern müssen, sollten wir ihnen zuhören. Welches weltliche Wissen, wie das der Philosophen und Beamten meines
Vorredners, will sich denn allen Ernstes gegen das eines Gottes erheben können?“
Eine Pause, diesmal bewusst.
„Es ist kein Geheimnis, dass der Dichter, insbesondere Ovid, von den Göttern inspiriert ist.* Wollen wir also die Meinung der Götter hören, müssen wir einem von ihnen lauschen.“
In einem Anfall von Dramatik streckte Clemens beide Hände gen Himmel, fast als wäre er am Ende eines Gebets.
„Das Recht entscheidet gegen die Parther, mögen nun auch die Waffen gegen sie entscheiden! Möge mein Feldherr Macht und Reichtum des Orients Latium einverleiben! Vater Mars und Vater Caesar, schenkt ihm bei
seinem Aufbruch euren göttlichen Beistand, denn einer von euch ist schon Gott, der andere wird es werden. Siehe, ich prophezeihe es, du wirst siegen, und ich werde meine Gelübde durch Verse einlösen und
wir werden dich in großen Stil zu besingen haben.“²
Die Arme wanderten herunter.
„Was will uns der große Ovid hier zeigen? Ein Bewusstsein von Größe, Einheit und Stolz auf
unser wunderbares imperium. Dass der sonst so schwärmerische Dichter hier unmöglich in eigenen Zungen spricht, zeigt sich schon daran, dass der sonst so in der Sagenwelt und Eroberungen verlorene Dichter
sich plötzlich direkt zur Größe unserer Nation äußert. Wer sonst außer Mars kann ihm also diese ergreifenden, inspirierenden Worte in den Mund gelegt haben, um die Moral des Volkes für kommende Schlachten zu heben?“
Diesmal musste sich der Sprecher sichtlich das Lachen verkneifen. Die schrecklichsten Passagen bleiben einem leider am besten in Erinnerung.
Nach einem betonten Räuspern holte er zum finalen Schlag aus.
„Wir wissen also, dass die Götter schon damals, mit Ovid als Sprechrohr, unser imperium noch weiter vergrößert sehen wollten. Doch trifft das auch noch heute zu? Natürlich! Schließlich machen wir das doch bereits und haben keinerlei Strafe erhalten! Was gibt uns größere Sicherheit als der pax deorum, den meine Kollegen und ich durch unser Handwerk aufrecht erhalten? Wenn die Politik unserer Nation nicht dem Willen unserer Götter entsprechen würden, so hätten wir es längst durch Zeichen von ihnen erfahren. Weltliche
Probleme sollen und können uns von unserer Aufgabe als Römer gegenüber der Welt nicht abhalten!“
Ein lautes Klatschgeräusch hallte durch den Raum. Es kam vom Redner, der sich die volle Aufmerksamkeit für sein Ergebnis sichern wollte und daher seine beiden offenen Hände einmal laut aufeinander prallen ließ.
„Wir halten fest: Nicht nur wird das imperium nicht zusammenbrechen, wenn wir es weiter ausdehnen. Es wird wachsen und jedes weltliche Hindernis beseitigen, das man sich vorstellen kann. Denn stärker als die Götter und unser Einheitsgefühl kann keine Kraft der Welt sein!“
...Leider hilft kein Wein gegen die Übelkeit, die Clemens bei den Gedanken an seine
letzten Worte überkam.
Entgeistert wich er auf seinen Platz zurück, dem Publikum und seinen Reaktionen
keinerlei Beachtung schenkend.
Sim-Off:*Ovid selbst beschreibt sich gerne so (vgl. bspw die Anfänge der Bücher der ars amatoria). Der Topos schien jedoch verbreiteter zu sein, wie Platons „Ion“ und das hohe Ansehen
einzelner Dichter vermuten lassen. Platon streut in nahezu jeden Dialog Zitate von Homer und Hesiod. Auch Aristoteles zitiert ihn ab und an. Und sogar die sonst eher theaterkritische jüngere Stoa ist in Teilen gegenüber Homer aufgeschlossen: Seneca adelt ihn in ep. 88, 5 (epistulae morales ad Lucilium) sogar zum Weisen. Ich nahm mir die Freiheit, das trotz der unzureichenden Grundlage für eine Induktion mal als gesicherten Allgemeinposten vorauszusetzen.
Sim-Off:²Ovid, ars amatoria, 1, 201-206.