„He Lux, du lebst hoffentlich noch?“
Eine leicht heisere, kratzige Stimme
riss Lucius aus seiner Trance. Es war Quintus, der ältere Priester
hinter dem etwas suspekten Empfehlungsschreiben. Seinen
leuchtenden Augen nach zu urteilen war sein letzter Satz erst der
Anfang, weshalb Lucius es bei einem Nicken als Gruß beließ.
„Ich bin jetzt wieder zu etwas Geld
gekommen und habe mir gedacht, dass ich dir noch einmal ein wenig
unter die Arme greife. Eine Empfehlung ist doch etwas wenig für das,
was du für mich getan hast. Außerdem...“ - Den Teil leitete der
alte Mann mit einem Zwinkern ein - „kann ich dich nicht einfach so
auf die Götter loslassen, ohne nicht einmal ein größeres Opfer
gesehen zu haben! Sonst lande ich deinetwegen noch wirklich im
tartarus!“ Quintus wollte schon in Gelächter ausbrechen, sah
allerdings die steinerne Fortuna und zuckte schon im Ansatz zusammen.
Die Augen des Angesprochenen zogen sich zusammen. Der Alte wusste,
wie Lucius zu diesen Opfern steht und hofft wohl, jetzt etwas Spaß
mit ihm zu haben. Noch hatte Clemens die leise Hoffnung, dass es bei
leeren Worten blieb.
Doch ein Wink des Greises zeigte, dass
dem nicht so war. Drei unscheinbar aussehende Figuren, die noch am
Fuß des Hügels standen, traten nun heran. Sie hatten wirklich alles
dabei: Ein kleines, gesund aussehendes Ferkel, ein Band und eine
sogar farblich passende Wolldecke, eine Doppelflöte, eine Schüssel,
ein Opfermesser...
Dem Quintilier lief es kalt den Rücken
runter. Wie sehr er gehofft hatte, dass ihm das erspart bliebe! An
das Ansehen dieser martialischen Prozedur konnte er sich nach den
Jahren gewöhnen. Das Schlachten selbst? Keine Gelegenheit, dem
irgendwie auszuweichen, blieb ungenutzt. Er war einfach nicht dazu
gemacht, irgendjemand oder irgendetwas selbst zu töten.
Er schluckte einen Kloß in seinem Hals
runter. Er hätte eigentlich wissen müssen, dass die
Schicksalsgöttin ihn vor seinen größten Gegner stellen würde:
Sich selbst. Andererseits könnte er sich nach diesem Tag sicher
sein, dass sie nie wieder an seiner Hingabe zweifeln wird.
...Zumindest in nächster Zeit nicht.
Dieser Gedanke gab Lucius schließlich
auch die Kraft, zur Tat zu schreiten. Er deutete Quintus und seiner
Entourage, ihm zum Altar vor dem Tempel zu folgen, welche hierauf
ihre Häupter mit ihren togae bedeckten.
Kurz bevor sie jedoch ihren Weg
antraten, erhielt Clemens von Quintus und einem der Begleiter die
Wolldecke und ein Band. Dies nahm der Quintilier als Anlass, das
Ferkel zu überprüfen. Er war bei weitem kein Naturforscher, konnte
aber weder am Ferkel selbst noch in dessen Mundbereich etwas
Auffälliges entdecken. Anschließend brachte er auf dem Rücken des
Tiers die Wolldecke an, während das Band an den Kopf der baldigen
Gabe wanderte. Dies nahm die Gruppe als Zeichen, ihre kleine Reise
anzutreten.
Auch wenn der Weg kurz war, flogen
geheimnisvoll anmutende Töne durch die Luft. Die kleine Wanderschaft
hatte mit dem Solo eines ihrer Mitglieder und der strahlenden Sonne
eine fast schon heimische Atmosphäre. Der Opferleiter konnte
unmöglich wissen, ob seine Göttin tatsächlich anwesend war. Hätte
man ihn dem Moment gefragt, hätte er sie doch bei sich zu spüren
gemeint. Diese Ehrfurcht schien der Rest zu teilen, denn abseits der
Doppelflöte war es totenstill. Sogar das tierische Anhängsel ging
mit einer Gelassenheit, die sogar bei einem Menschen ihres Gleichen
suchte, seinem unausweichlichen Schicksal mit bewundernswertem
Gleichmut entgegen.
Der Flötenspieler positionierte sich
mit etwas Abstand vom Geschehen, bekam jedoch vorher noch von Lucius
Wasser ins Gesicht gespritzt. Auch Rest blieb nicht verschont.
Allerdings war das Ferkel der einzige Teilnehmer, der sein Empören
ausdrückte. Es quiekte kurz, weil einer der Tropfen dem Tier ins
Auge geflogen zu sein schien. Clemens betete, dass dies kein
schlechtes Zeichen sei.
Das junge Schwein fand jedoch zu seiner
ihm eigentümlichen Ruhe, als es wieder das Spiel des Begleiters
vernahm und ließ sich ohne Widerstand auf dem Altar hieven. Die
Schale wanderte zu Quintus.
„Favete linguis!“
Eine Stimme, die an die Intensität
eines ausbrechenden Vulkans erinnert, durchschnitt die meditative
Stille wie ein frisch geschärftes Schwert. Lucius Herz machte einen
Satz, aber er fing sich schnell wieder. Es muss wohl einer der
Begleiter gewesen sein.
Sich auf seine bevorstehende
Herausforderung besinnend, verkündete Lucius der Welt: „Große
Fortuna, ich biete dir hiermit im Namen meines Mentors und mir dieses
wunderbare Geschöpf Iuppiters an! Lass dieses Ferkel Beweis dafür
sein, dass wir dir treu ergeben sind!“
Der alte Priester hatte nicht erwartet,
ebenfalls eingebunden zu werden. Mit einem Grinsen, das irgendwo
zwischen unerwarteter Rührung und einem Anflug von Schadensfreude
schwnkte, reichte er Clemens die Schale neben dem mallium latum.
Nach einer schnellen Reinigung mit dem
Wasser und Trocknung mit dem eben benannten Tuch tauschte Lucius
Wasserschale und mallium latum gegen ein Opfermesser und zwei Schalen
– eine leere und eine andere, die mit einer grau-weißen, mit
kleinen Steinen gespickten Mischung gefüllt war.
Schön, die mula salsa ist da. Aber...
Als Lucius es sah, rissen sich ihm erneut die Augen auf. Hilfesuchend
wandten sich seine Augen Quintus zu, der jetzt definitiv ein leicht
hämisches Lächeln auf den Lippen hatte. Keine Betäubung? Der Alte
will mich wohl quieken hören... Lucius erwiderte das Grinsen. So
leicht werde ich es dir nicht machen.
Mit mehr Kraft, als er in seinem
zierlichen Körper für möglich gehalten hätte, hielt er das Ferkel
fest und befestigte die Ketten des Altars an seinen Füßen. Dieses
Mal gab es wesentlich mehr Protest: Das Tier zappelte hin und her,
was die Decke etwas verrutschen ließ. Als alle Fesseln befestigt
waren, fand es sich jedoch überraschend schnell mit seiner neuen
Lage ab.
Als Nächstes bekam das junge Schwein
seine steinige Salzmarinade, indem Clemens es behutsam mit der mula
salsa bestrich. Quintus hielt ihm Wasserschale und Tuch entgegen,
welchen Clemens dieses Mal deutlich mehr Aufmerksamkeit widmete.
Nachdem der Alte schon dreimal Anstalten gemacht hatte, ihm die
Schüssel unter der Nase wegzuziehen, drehte sich Lucius schweren
Herzens um. Mit einem Seufzer nahm er das vor ihm in der Sonne
glitzernde Messer in die Hand.
Seine Hand wanderte gen Himmel, was ein
grelles Licht ezeugte, das den Quintilier kurz zusammenzucken ließ.
Du schaffst das, Lucius... Mit diesen
Worten sprach er sich ein letztes Mal Mut zu, bevor die Klinge sehr
leicht in die Haut des Ferkels einfuhr. Ihr Weg vom Kopf zum Schwanz
blieb diesmal nicht so ruhig. Das Ferkel zitterte und quiekte, jedoch
war alle Mühe vergebens. Lucius Hand trieb den Stahl unermüdlich
an, lief jedoch wegen des sehr aktiven Treibens der Gabe vor allem im
Rückenbereich etwas schief. Das verlängerte den Prozess etwas, wenn
Clemens kurz innehalten oder einen Umweg ziehen musste – sehr zum
Leidwesen der Kreatur unter dem Messer.
Lucius Blick fiel. Meine Güte, mach es
dir doch bitte nicht noch schwerer... wollte er dem Schwein
zuflüstern, wusste jedoch, dass es vergebens war.
Allem Widerstand zum Trotz fielen Band
und Decke sanft wie Federn und ohne Widerstand zu Boden.
Als das Messer mit dem Ende des
Schwanzes sein Ziel erreichte, fiel das gepeinigte Tier vor
Erleichterung zusammen und verstummte schlagartig. Clemens hätte es
ihr fast gleich getan, hatte jedoch noch einiges vor sich. Nach einer
kleinen Pause, um seine Gedanken nach dieser unangenehmen Erfahrung
zu sammeln, hob er seine Hände gen Himmel und rief:
„Fortuna, Göttin des Schicksals
und des Glücks!
Jeden Tag lässt du mich an deiner
Macht teil haben, indem du mich trotz meiner Laster
wieder und wieder auf den richtigen Pfad bringst.
Ich habe mich dir zuliebe wieder der
Religion zugewandt und werde dir heute beweisen, dass ich deine Gunst
verdiene. Ich werde mein erstes Tieropfer widmen – etwas, das ich,
wie du wissen dürftest, bis jetzt seit Beginn meines Lebens jedem
anderen Gott sogar als Helfer verweigert habe. Vergiss bitte auch
nicht, dass ich dir bis jetzt stets treu geblieben bin; auch wenn ich
andere Wege hatte, das zu zeigen.
Gib mir auch weiterhin die Kraft,
deinen Wünschen gerecht zu werden! Gib mir die Kraft, auf dem
richtigen Pfad zu bleiben! Und gib mir die Kraft, solche
Schicksalssprünge wie den, den ich für dich gleich vollbringen
werde, auch in Zukunft zu tun!
Ich werde Geld beiseite legen, um
dir Ehren wie diese regelmäßig liefern zu können und es auch
selbst machen! Ich werde dafür sorgen, immer die Mittel beisammen zu
haben, dir diesen Dienst erweisen zu können!“
Seine Bitte schloss Lucius mit einem
eleganten Schwenk seines Körpers nach rechts ab.
Dies nahm einer der Fremden zum
Zeichen, die leere Schüssel mitzunehmen und sich vor dem Kopf des
Ferkels zu positionieren. Ein Wink nach links der Person war Lucius
Zeichen genug, sich wieder des Messers anzunehmen und ihm dort
Gesellschaft zu leisten.
Der Helfer war überraschend jung. Ein
schönes, ruppiges Gesicht mit ein paar Bartstoppeln, leicht
struppige Haare... Er hat was Wildes an sich, dachte Lucius und
fragte sich, ob er vor seinem Zwanzigsten früher auch mal so ein
Adonis gewesen sei. Erst, als sich seine zuvor von Erwartung weiten
Augen langsam verschmalten und deutlich ein „Mach schon!“ mit den
Lippen geformt wurde, setzte der Quintilier sein Messer zwischen
Backe und Kehle an.
Er schob so gut es ging seine
langärmlige Toga zurück, bevor er ein lautes „Agone?“
verlautbaren ließ. Die vertraute, kratzige Stimme des Quintus
erwiderte: „Age!“
Lucius nahm seinen gesamten Mut
zusammen und zog mit einer überraschenden Schnelligkeit das Messer
durch den Hals des Ferkels durch.
Ein lautes Quieken, das ebenso schnell
kam wie es verschwand, verkündete das Ende des Tieres. Der Schönling
stand schon bereit, um das kostbare Blut in seiner Schale
aufzufangen. Ein warmes Lächeln wartete auf Clemens, als er den
Blick des jungen Mannes erwiderte. Lucius war überrascht, dass für
so einen kleinen Körper kommt überraschend viel Blut zu halten
scheint.
Der nächste Teil fiel ihm, da tote
Ferkel keine wirkliche Gegenwehr leisten konnte, zumindest etwas
leichter. Vielleicht war es schon der Ansatz von Routine, vielleicht
auch die Freude über den eigenen Mut und vielleicht etwas Anderes...
Jedenfalls ging ihm der Schnitt, der auf das Umdrehen des Tiers auf
dessen Rücken folgte, wesentlich leichter von der Hand. In weniger
als einer Sekunde lag der Bauchbereich offen.
Der Gestank ließ Clemens jedoch
trocken husten und ein Gefühl von Übelkeit in seiner Magengrube
aufsteigen. So musste es für ihm im tartarus riechen... Kein Wunder,
dass der Alte so viel Schiss davor hat, da hinzukommen...
„Jetzt kommt mein Einsatz.“ Mit
dieser Einleitung widmete sich Quintus dem nunmehr offenen Schwein,
schnappte sich jedoch vorher noch das Opfermesser in Lucius Hand. Er
trennte die Innererien voneinander und sammelte sie in einer Schale,
die einer der drei Buben ihm kurz zuvor hingestellt hatte. Quintus
hielt Clemens das inzwischen blutige Messer mit dem Griff hin,
welcher es an sich nahm und sich nunmehr dem Zerteilen des
Restferkels widmete. Quintus begutachtete in der Zwischenzeit die
Innereien.
Alles war, dem Alter des Tiers
geschuldet, noch reichlich klein. Allerdings sahen nichts krank oder
deformiert aus. Quintus bat Clemens zuletzt um sein Messer, damit
auch das Innere überprüft werden konnte. Auch nach ein paar
eröffnenden Schnitten waren keine Tumore oder Ähnliches erkennbar,
dafür aber auch keine auffallend positiven Regionen.
Mit einem leicht heiser anmutenden
„Litatio!“ fiel Lucius wohl ein Stein vom Herzen, den nicht
einmal Herkules hätte tragen können.
Der Rest fiel ihm vor Freude kaum noch
auf. In einem Moment war er noch draußen, später fand er sich vor
dem ihm noch vertrauten foculus wieder und brachte seiner Göttin
nunmehr auch die zuvor mit mola salsa eingetauchten Eingeweide seines
ersten Opfertieres dar. Die kleine Anlage war schon bald von einem Geruch erfüllt, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
„Hahaha, dass der kleine Lux mal sein
richtiges Opfer machen würde... Ich hab dich bis jetzt immer für ne
halbe Portion gehalten, aber du hast doch mehr Mumm als ich dachte!“
Ein Schlag auf die Schulter brachte den verträumten Clemens wieder
zurück zur Erde. Er ließ seinen Blick schweifen. Alle waren sie da, um den wohlriechenden Kessel mit dem Fleisch seines Ferkels versammelt:
Quintus, der Schönling, der Flötenspieler und der Dritte im Bunde.
Der Musiker stimmte schon zum nächsten Lied an, was den daneben
sitzenden Quintus lauter werden ließ. Lang hielt er das jedoch nicht
durch, bevor er sich in einem lauten Husten verlor.
Die ganze Truppe konnte nicht anders
als loszulachen. Auch wenn er es nicht oft zeigte, war Quintus doch
so etwas wie ein Vater für ihn geworden – ein eigenartiger, etwas
schrulliger aber liebenswürdiger Vater, der sich auf seine besondere
Art um ihn kümmert. Am heutigen Tag wurde ihm das so klar wie noch
nie zuvor.
Auch ein weiteres wusste Lucius mit
einer unumstößlichen Sicherheit: Dies alles würde er niemals
vergessen.