Beiträge von Tariq

    Der Soldat erhob sich seufzend, griff nach einer neuen Tabula und kam zu ihm herüber. Tariq hatte den Beutel mit seinen spärlichen Besitztümern auf den Boden gestellt und versuchte, zu erkennen, was sein Gegenüber da schrieb. Da seine Lesefähigkeiten aber nicht so ausgeprägt waren, wie sie Soufians Meinung zufolge sein könnten, war es ein eher vergebliches Unterfangen, zumal die Buchstaben auf dem Kopf standen.


    Dann stellte der Mann eine Reihe von Fragen und Tariq musste erst einmal schlucken. Er wollte die Namen seiner Eltern wissen? Tariq hatte seine Eltern bereits in einem Alter verloren, in dem Erinnerungen nicht haften bleiben – und er hatte niemanden gehabt, der ihm von ihnen hätte erzählen können oder wollen. Durok hatte die sehr klare Linie vertreten, dass sich kein Mensch für seine Vergangenheit oder die der anderen Jungen interessierte. Also kannte er die Namen schlicht und ergreifend nicht. Natürlich war ihm klar, dass er dem Soldaten seine wahre Lebensgeschichte kaum erzählen konnte.


    „Ich bin 16 Jahre und stamme aus Caesarea in Kappadokien“, beantwortete er deshalb erst einmal den einfachen Teil. Gut, er wusste nicht genau, ob er wirklich exakt 16 Jahre war, vielleicht war er auch 17 Jahre oder ein paar Monate jünger, aber so grob kam es schon hin. Das ausgemergelte Straßenkind seiner frühen Tage hatte sich in den letzten Jahren, in denen er immer genug zu essen gehabt hatte, zum Glück verflüchtigt. „Ich bin ein freier Mann.“ Darauf war er tatsächlich stolz, denn seine Freiheit war so ziemlich das Einzige, das er immer besessen hatte. Es hatte sich zugegebenermaßen nicht immer so angefühlt und er hatte mit Sicherheit oft schlechter gelebt als mancher Sklave, aber er hatte nie jemand anderem gehört als sich selbst.


    Jetzt … die Eltern. Tariq war schon drauf und dran, sich Namen einfach auszudenken, denn es war äußerst unwahrscheinlich, dass irgendjemand nach Kappadokien gehen und das nachprüfen würde. Andererseits: Was, wenn jemand irgendwann Hadamar fragte und der dann nichtsahnend die Wahrheit sagte? Wenn Tariq hier und heute aufgenommen wurde, kam er erst mal nicht raus … er wusste einfach nicht, wann er Hadamar das nächste Mal sehen würde. Und er wollte auf keinen Fall, dass irgendeine (Not-)Lüge, die er hier zum besten gab, negativ auf Hadamar oder seine Familie zurückfallen würde. „Ich bin Waise, die Namen meiner Eltern wurden mir nie genannt. Aber ich bin gesund, kann reiten, mit Pferden umgehen und spreche etwas Germanisch.“ Er kam in den meisten Alltagsthemen ganz gut über die Runden, solange es nicht zu kompliziert wurde. „Ein römischer Centurio, der bei der XV.ten in Satala stationiert war, hat sich meiner angenommen und es mir beigebracht“, fühlte er sich bemüßigt zu erklären. „Seine Familie stammt aus Mogontiacum und er hat mich nach seiner Versetzung mit hierher genommen.“ Das erklärte dann hoffentlich auch, warum er hier war.

    „Intrare!“ hörte er jemanden von drinnen sagen. Tariq sammelte sich kurz, weil er nun doch … na ja, ein wenig aufgeregt war. Bisher war er so abgelenkt von den Torwachen, den neuen Eindrücken und seiner Suche nach der richtigen Tür gewesen, dass er den Gedanken, was passieren würde, wenn man ihn für untauglich hielt, gar nicht zugelassen hatte. Jetzt, kurz vor dem Ziel, drängte er sich doch auf wie ein unwillkommener Gast. Tariq war allerdings klar, dass dies der schlechteste Zeitpunkt überhaupt für Zweifel und Bedenken war, also drückte er doch die Klinke herunter und trat ein.


    Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann und kritzelte etwas auf einer Tabula. „Salve“, grüßte er. „Ich bin Tariq und möchte mich für den Dienst in der Ala melden. Die Torwachen haben mir gesagt, ich soll hierher kommen.“ Während er auf eine Reaktion seines Gegenübers wartete, versuchte er die Gedanken, die immer noch irgendwo in seinem Hinterkopf lauerten, zu verdrängen.

    Zum Glück hatte am Tor ein Wachwechsel stattgefunden, und die nachfolgende Truppe filzte Tariq zwar gründlich, aber ohne Schikane. Als sie nichts Verdächtiges fanden ließen sie ihn passieren und schickten ihn zum Rekrutierungsbüro, wo er sich zunächst zu melden hatte. Er musste sich ein bisschen durchfragen und erntete auch im Inneren der Castra den einen oder andere merkwürdigen Blick. Er versuchte das zu ignorieren, da musste er jetzt irgendwie durch, bis die Anderen sich hoffentlich irgendwann an ihn gewöhnt hatten.


    Schließlich erreichte er die Tür und klopfte an.

    Tariq hatte Cimber beim Abschied am Tor noch müde zugewinkt – ihn würde er, wenn alles gut lief, spätestens bei der Ala irgendwann wiedersehen – und war Hadamar dann auf die Straßen Mogontiacums gefolgt. Sein Blick folgte gelegentlich der Hand seines Freundes, wenn dieser ihn auf etwas hinwies, aber so richtig aufnehmen konnte er es nicht. Was ihm auffiel, denn das war nun mal etwas, das man schlecht ignorieren konnte, war die Andersartigkeit der Behausungen … und natürlich die der Bewohner. Sehr viele waren größer als er selbst, sogar einige der Frauen, und auch, wenn es durchaus dunkelhaarige Menschen gab, sah er doch viele, die goldenes Haar hatten. Dies hatte er auf der Reise hierher ein ums andere Mal gesehen, in seiner Heimat jedoch nie, weshalb er immer noch staunend stehenblieb, um die Haarpracht des einen oder anderen Stadtbewohners oder insbesondere der einen oder andere Stadtbewohnerin zu betrachten. Er fragte sich, was der thrakische Händler Viridomarus zu einer solchen Haarfarbe sagen würde! Dass er seinerseits von den Menschen angestarrt wurde, weil sein Äußeres hier wiederum eine Seltenheit war, nahm er gar nicht so richtig wahr. Zu überwältigt war er von all den neuen Eindrücken und zu müde von der langen Reise.


    Irgendwann ließen sie die Häuser der Stadt hinter sich und kamen zu einem Anwesen, das etwas abseits auf einer Hügelkuppe lag. Als ihm klar wurde, dass das das Anwesen von Hadamars Familie sein musste, wäre Tariq am liebsten stehengeblieben. Er tat es auch kurz, musste aber dann fast laufen, weil Hadamar der Anblick offenbar neue Energie gab und er noch schneller ausschritt als vorher. Tariq hingegen war überrascht. Gut, er hatte gewusst, dass Hadamar aus einer ziemlich wohlhabenden Familie stammte, aber etwas theoretisch zu wissen und jetzt dieses Haus mit umliegenden Ländereien zu sehen, war dann doch noch mal etwas Anderes. Zumal er Hadamar nicht als reichen Sohn kennengelernt und ihn auch später selten so erlebt hatte. Es hatte maximal in einige Gesprächen durchgeschienen, und er hatte eine entsprechende Bildung besessen, von der Tariq als sein Zögling ebenfalls profitierte, aber vom Verhalten her war Hadamar sehr … na ja, nicht so, wie er sich einen reichen Sohn vorstellte.


    Während sie über das familieneigene Land schritten, sah Tariq sich neugierig um. Um diese Jahreszeit wirkte alles etwas trist – die Bäume, die ihre kahlen Äste in den grauen Himmel reckten, das braune Erdreich, das selbst in seinem aktuell schlummernden Zustand verriet, dass es fruchtbar sein musste. Zumindest im Vergleich zu allem, das Tariq von Zuhause gewohnt war. Auf einem der Äcker lief ein einsames Huhn herum, das offensichtlich ausgebüchst war. In Caesarea früher hätte er sich über die praktische Mahlzeit gefreut, aber die Zeiten, in denen er sich selbst um sein Essen hatte kümmern müssen, waren auch in Kappadokien längst vorbei gewesen.


    Hadamar klopfte an eine Tür, die ebenfalls äußerst beeindruckend war. Auf der einen Seite war ein fremdländisch gekleideter Mann zu sehen, offensichtlich in einheimischer Tracht, nach allem, was er bisher gesehen hatte, der einem Römer auf dem anderen Türflügel die Hand reichte. Ehe er sich aber in die Details der Türschnitzereien oder der ebenfalls aufwändigen Verzierungen der vorgestellten Säulen vertiefen konnte, öffnete sich die Tür. Eine junge Frau stand dort und fragte nach ihrem Begehr. Er musterte sie kurz neugierig und nickte ihr dann zur Begrüßung zu, als Hadamar ihn vorstellte. Er war ein bisschen überrascht, dass Hadamar nicht erkannt wurde, aber andererseits war er schon sehr lange nicht mehr hier gewesen. Viele Jahre, wenn Tariq sich recht entsann.

    Die Überraschung des Offiziers seine Herkunft betreffend war verständlich. Immerhin war er fast von einem Ende des Reiches zum anderen gereist – nicht, um extra hier der Ala beizutreten, aber das konnten ja weder der Offizier noch die Wachen wissen. „Verstehe. Ich bin mit einigen römischen Soldaten aus Kappadokien nach Germanien gereist und sie haben mir von der Möglichkeit hier erzählt“, gab er die extreme Kurzfassung seines Weges zum Besten.


    Sein Glück versuchen, das war schön formuliert. Aber mehr verlangte er tatsächlich auch nicht. Es könnte natürlich passieren, dass er es nicht schaffte, aber er wollte zumindest die Möglichkeit haben, es zu versuchen. Einfach würde es nicht werden, das wusste er schon seit den Erzählungen Hadamars und Cimbers sowie jener der Milites in Kappadokien. Hinzu kam noch seine Herkunft, die er bisher nicht so wirklich als Schwierigkeit betrachtet hatte. Aber wenn er die Reaktion des Offiziers und das Verhalten der germanischen Torwachen richtig interpretierte, war er wohl der einzige Kappadokier, der hier Soldat werden wollte. Beziehungsweise einer der wenigen Nicht-Germanen und Nicht-Römer. Und es war immer schwierig, der einzige Irgendwas zu sein. Cimber würde auch hier sein, er kam ebenfalls aus Kappadokien, wofür Tariq sehr dankbar war. Aber er war römischer Bürger, das war wieder etwas Anderes, und außerdem war er bereits Duplicarius und fing nicht ganz unten an wie Tariq.


    Er nickte dem Offizier zum Abschied zu. „Danke. Das werde ich machen.“ Waffen führte er ohnehin keine mit sich, aber er fand den Hinweis trotzdem nett. Er hätte ihm ja keinen geben müssen. Er wartete, bis der Offizier verschwunden war und trat dann wieder an … nun ja, seine vielleicht zukünftigen Kameraden heran, um das nun folgende Prozedere über sich ergehen zu lassen.

    Ein entlaufener Sklave? Dann würde er wohl kaum zu einer Castra kommen und dort anheuern wollen. Das sagte er aber nicht laut, denn das würde ihm vermutlich nicht nur eine Maulschelle einbringen, so wie dieser Wachmann gelaunt war, sondern auch jegliche Hoffnung zerstören, das zu tun, weshalb er hier war. Zu dem Sprecher kamen noch zwei weitere Männer dazu, allesamt einen Kopf größer als er und bauten sich vor ihm auf als habe er irgendetwas verbrochen. Tariq begann, sich merklich unwohl in seiner Haut zu fühlen. Sah er irgendwem ähnlich, der gesucht wurde? Oder der hier irgendetwas ausgefressen hatte? Tariq hatte wohl in den wenigen Tagen, die er bisher in Germanien zugebracht hatte, bemerkt, dass er auffiel wie ein bunter Hund, aber er in diesem Moment war ihm nicht bewusst, dass allein sein Erscheinungsbild die Wachen alarmieren könnte.


    Plötzlich räusperten sich die Wachen und erstarrten. Tariq schaute in die Richtung, in die sie blickten und entdeckte einen Mann, der zu wissen verlangte, was hier los sei. Vermutlich ein Offizier, so wie er auftrat und wie die Wachen sich verhielten. Vorsichtshalber stellte er sich auch ein bisschen aufrechter hin – sicher war sicher! – und grüßte den Neuankömmling höflich. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, ich habe keine Nachricht. Ich möchte mich freiwillig für den Dienst in der Ala melden.“ Sollte er dem Offizier versichern, dass er kein entlaufender Sklave war? Nein, besser nicht. Aber das Verhalten der Wachen hatte ihn schon etwas verunsichert.


    „Mein Name ist Tariq, ich komme aus Kappadokien und bin seit ein paar Tagen hier in Germanien.“ Er hätte fast noch mehr erzählt, weil er irgendwie den Eindruck hatte, sich rechtfertigen zu müssen, aber andererseits wirkte der Offizier nicht wie einer, der sich gerne wortreiche Lebensgeschichten anhört.

    Viridomarus hatte nichts gegen seine Frage und antwortete sehr ausführlich. Tariq lauschte interessiert, denn er wusste zwar ein bisschen was über Thrakien, aber eben nicht sonderlich viel. Beziehungsweise eher unvollständige Bruchstücke, die ihm kein so vollständiges Bild zeichneten, wie die detailreiche Erzählung von Viridomarus es tat. Bei der Erwähnung von Dionysus – beziehungsweise Bacchus, Tariq kannte tatsächlich beide Namen, weil hier sowohl Griechen als auch Römer herumliefen – und der vermeintlichen Trinkfestigkeit der Thraker musste er grinsen. Prinzipiell ließ das, was Viridomarus erzählte, sein Volk sehr sympathisch erscheinen. Natürlich war das keine neutrale Beschreibung, der Händler war offensichtlich stolz auf seine Herkunft. Und warum auch nicht? Tariq konnte sich Schlimmeres vorstellen, als von einem Volk abzustammen, das den schönen Dingen des Lebens zugeneigt war, gut handeln konnte und zu feiern verstand. Er wollte gerade fragen, ob Viridomarus seine Heimat dann nicht sehr vermisste, als dieser die Antwort darauf quasi vorwegnahm.


    „Ich habe viel gelernt, ich wusste bisher wenig über dein Volk,“ erwiderte Tariq. „Und deine Heimat klingt nach einem guten Ort, den es sich zu besuchen lohnt.“ Vermutlich war dieses Unterfangen für ihn ein unrealistisches, aber man würde ja noch träumen dürfen. „Dann hoffe ich für dich, dass du eines Tages dorthin zurückkehren kannst, wenn du genug von der Welt gesehen hast.“


    Als die Sprache schließlich auf den Preis für die von Tariq ausgewählten Schmuckstücke kam, musste er sich arg beherrschen, dass ihm nicht die Kinnlade herunterklappte. Er überschlug die Summe schnell im Kopf und kam auf über 5000 Denare, was den Inhalt seines mitgebrachten Geldbeutels weit überstieg. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Hadamar so viel Geld ausgeben wollen würde, selbst wenn er ihm eine entsprechende Summe mitgegeben hätte. Es würde also auch nicht viel bringen, den Handel zu vertagen und noch einmal wiederzukommen beziehungsweise Hadamar selbst gehen zu lassen. Tariq wurde vor Augen geführt, dass er diese Art von exklusivem Geschäft normalerweise nicht besuchte – und nicht die geringste Ahnung hatte, wie teuer Goldschmuck war.


    Er blickte Viridomarus zerknirscht an. „Es tut mir leid, aber da hat mich die Schönheit deines wundervollen Schmuckes wohl ein wenig geblendet.“ Das hatte sie in der Tat. Er hatte noch nie so schöne Schmuckstücke gesehen … und sich dann ohne nachzudenken in der Vorstellung verrannt, wie beeindruckt Hadamars Verwandte von dem Schmuck aus Kappadokien wären. „Das ist doch weit mehr als ich mir leisten kann. Du hattest wohl den richtigen Riecher, als du mir den Bronzeschmuck angeboten hast.“ Es tat ihm leid, hier zurückrudern zu müssen, aber selbst wenn Viridomarus den Preis absichtlich hoch angesetzt hatte, um zu handeln und ein bisschen runtergehen zu können, hätte Tariq nicht genug dabei, um die goldenen Spangen bezahlen zu können. Dann würde der Händler nur ein Verlustgeschäft machen – und er wäre kaum so (erfolg)reich, wenn er dazu neigte. „Ich würde also doch lieber drei Spangen aus Bronze auswählen.“

    Nachdem sich Tariq von den Strapazen der Reise erholt hatte, machte er sich nun auf den Weg zur Castra der Ala. Zugegebenermaßen war er etwas aufgeregt. Hadamar hatte ihm zwar versichert, dass der Rekrutierungsprozess relativ einfach war – und zudem hatte er auf seiner Reise hierher bereits Cimber kennengelernt, der ein netter Kerl war und ebenfalls bei der Ala sein würde. Er würde also zumindest ein freundliches Gesicht hier antreffen. Wie die anderen reagieren würden, konnte er sich nicht ausmalen, rechnete aber vorsichtshalber mit allem. Da er bisher nicht mit geschlossenen Augen durch die Welt gelaufen war, wusste er, dass einige Römer auf diejenigen, die das Bürgerrecht nicht besaßen, herabschauten. Zwar hatte Hadamar gesagt, dass bei den Auxilliareinheiten wie der Ala viele andere Nationalitäten – hier vermutlich insbesondere Germanen – vertreten waren, aber das hieß ja nicht, dass einen die anwesenden Römer den Unterschied nicht spüren lassen würden. In der Vergangenheit hatte er sich hinter Hadamar verstecken können, wenn es hart auf hart kam, das ging jetzt nicht mehr. Das hier war sein eigener Weg.


    „Salve“, grüßte er die Wachen am Tor. Die beiden hatten ihn schon von weitem kommen sehen und aufmerksam gemustert. „Mein Name ist Tariq und ich würde gerne der Ala beitreten. Wo muss ich mich melden?“ Dann wartete er erst einmal ab. Wenn die Wachen noch mehr von ihm wissen wollten, ehe sie ihn zur Rekrutierungsstelle weiterschickten – oder eben auch nicht – würden sie schon fragen.

    Die Stimmung im Haus des Soufian war … nun ja, vielleicht nicht frostig, aber doch nicht so ausgelassen wie sonst. Der Inhaber des Domizils sprach bei weitem nicht so viel wie er sonst zu tun pflegte, und Tariq hatte auch nicht den Drang, Witze zu reißen oder etwas zu erzählen. Der Händler hatte die Ankündigung des Jungen, dass er zum Militär gehen wollte, nicht mit derselben Begeisterung aufgenommen wie Hadamar … und es war deutlich geworden, dass er eine ähnliche Zukunftsvorstellung gehabt hatte wie Tariq selbst ein paar Tage zuvor. Es war ja auch der Weg, der irgendwie vorgezeichnet schien und offensichtlich hatte Soufian nicht damit gerechnet, dass Tariq ernsthaft andere Pläne schmieden könnte. Natürlich legte er ihm keine Steine in den Weg. So war Soufian nicht. Aber getroffen schien er schon irgendwie, auch wenn er sich bemühte, es nicht allzu deutlich zu zeigen. Und Tariq hatte seinerseits wütend reagiert, weil er nun zum ersten Mal die Möglichkeit hätte, das zu tun, was er wollte – und er nun von einem Menschen, der ihm etwas bedeutete, nicht die Reaktion bekam, die er sich erhofft hatte.


    Er war gerade dabei, den Inhalt einige Kisten zu sortieren als Hadamar hereinkam. In Hadamar-typischer Art fiel er direkt mit der Tür ins Haus … Tariq saß da, wie zu einer Salzsäule erstarrt, der Gegenstand, den er gerade noch in der Hand gehalten hatte, fiel auf den Boden. Hadamar wurde nach Germanien versetzt? Hadamar … ging weg? Natürlich war es nicht so, dass Tariq nicht gewusst hatte, dass die Möglichkeit theoretisch bestand. Hadamar war Soldat und hatte da hinzugehen, wo man ihm sagte, dass er hingehen sollte. Es war auch von Anfang an klar gewesen, dass er nicht ewig in Kappadokien bleiben würde. Aber die Ankündigung war trotzdem ein Schock für Tariq, sie zeigte ihm, wie sehr er sich in den letzten Jahren an Hadamar gewöhnt hatte. Für ihn war es so, als habe man ihm gerade einen Arm oder ein Bein ausgerissen – etwas, das da sein musste, das er brauchte, sollte auf einmal fort sein! Er dachte in dem Moment gar nicht daran, dass Hadamar sich vielleicht darüber freute, wieder nach Hause zu dürfen. Er dachte nur an seinen eigenen Verlust, an die leere Stelle, die niemand füllen können würde.


    Hadamar sah ihn auf eine Art an, als wüsste er, was in seinem Kopf vorging. Und dann fragte er ihn etwas, womit Tariq tatsächlich überhaupt nicht gerechnet hatte. Er … sollte mitkommen? Nach Germanien? Er? Für einen Augenblick war er tatsächlich sprachlos. Er wusste, dass Hadamar eine Antwort hören wollte und musste, aber in diesem einen Moment hätte Tariq nicht sprechen können, selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Sein Kopf versuchte gerade noch den Schock von eben zu verarbeiten und war mit der Frage nun heillos überfordert. Er sollte mitkommen? Nach Germanien? Er? Natürlich hatte er sich wie jeder Junge gewünscht, die Welt zu sehen. Aber genau wie seine Zukunftspläne betreffend hatte das Leben ihn in einem Alter Realismus gelehrt, in dem andere Kinder noch träumen dürfen. Er hätte einfach nicht damit gerechnet, jemals woanders hinzukommen. Wohin genau, war in diesem Augenblick sogar ziemlich irrelevant. „Ich ...“, setzte er an und verstummte dann wieder hilflos. Sein Blick schweifte durch den Raum, als könne ihm irgendetwas dort helfen, die richtigen Worte zu finden. Er streifte Soufian, dem die Überraschung ebenfalls deutlich anzusehen war, der aber auch nichts sagte, sondern Tariq ansah. Und dann unmerklich nickte. Einfach so. Als habe es ihre vorherige Meinungsverschiedenheit nicht gegeben.


    Er sah wieder Hadamar an. Und dann lächelte er. „Ich … brauche keine Zeit. Ich komm' mit.“

    „Woher stammst du denn, wenn ich fragen darf?“ erkundigte sich Tariq ehrlich interessiert. Er musterte sein Gegenüber kurz genauer und überlegte, ob er vielleicht Grieche war. Genau einschätzen konnte er es nicht, er war sich auch nicht sicher, ob Rothaarige dort häufiger vorkamen. Hier kamen sie in der Tat nicht sehr oft vor. Hadamar hatte rote Haare – aber erstens stammte er nicht von hier und zweitens war es eben nur Hadamar und keine schöne Frau. Aus diesem Grund hatte Tariq dessen Haarfarbe, abgesehen von ihrer ersten Begegnung, nie sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. „Die Damen leben in Germanien und sind auch germanischer Abstammung, zumindest die Schwester und die Tante“, erläuterte er noch. Das spielte vielleicht keine Rolle, aber Viridomarus hatte ein Auge fürs Detail, sodass eventuell doch jede zusätzliche Information von Bedeutung sein könnte.


    „Das stimmt“, nickte Tariq, als Viridomarus die Vorzüge von Gold gegenüber Silber aufzeigte. Ihm selbst gefiel Goldschmuck auszunehmend gut, was hauptsächlich daran lag, dass Gold für ihn den Reichtum repräsentierte, den er nie gehabt hatte. Tariq legte die Silberspange beiseite. „Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich denke, dass sie die Geschenke gleichzeitig bekommen. Deshalb macht das, was du sagst, sehr viel Sinn … ich möchte auf keinen Fall jemanden vor den Kopf stoßen und Had… Duccius Ferox mit Sicherheit auch nicht.“ Hadamar hatte von Anfang an darauf bestanden, dass Tariq ihn mit seinem germanischen Namen ansprach. Aus diesem Grund vergaß er schnell, dass das nicht der offizielle Name war, den auch Hadamar selbst außerhalb des Familien- und Freundeskreises verwendete.


    Also … Gold oder Bronze? Tariq gefiel der Bronzeschmuck, der hier auslag, ebenfalls sehr gut. Aber Gold war nun einmal etwas Besonderes – und es wäre doch schön, wenn Hadamar seinen Verwandten etwas Besonderes aus Kappadokien schicken würde. Die würden Augen machen, welche Schätze dieser Teil der Welt zu bieten hatte! Und so trieben Tariq seine persönliche Vorliebe zum Gold sowie der Wunsch, seiner Heimat einen exklusiven und eloquenten Anstrich zu verleihen, dazu, zu sagen: „Soweit ich weiß, darf es ruhig etwas mehr kosten.“ Das hatte Hadamar ihm zumindest versichert, denn er verdiente als langjähriger Offizier anständig und gab im Gegenzug nicht viel aus. „Deshalb würde ich gerne für alle drei goldenen Haarschmuck kaufen.“


    Der Aufforderung, selbst etwas auszuwählen, leistete Tariq teilweise Folge, in dem er schließlich aus dem vielfältigen Sortiment für die rothaarige Schwester einen filigranen Haarkamm mit Blätter- und Perlenverzierungen auswählte und für eine der anderen Verwandten eine ebenfalls goldene Spange mit einem etwas dezenteren Muster. Den dritten Haarschmuck ließ er Viridomarus aussuchen. „Wie viel würde mich das denn kosten?“

    Tariq schwebte auf Wolke Sieben. Denn es wirkte fast so, als würde sich ihm dieses Mal kein Hindernis in den Weg zu stellen beziehungsweise im letzten Moment eine Tür vor der Nase zugeschlagen werden. Je mehr Hadamar redete und erklärte, desto mehr begann Tariq zu realisieren, dass die Dinge, über die sie sprachen, eine echte Möglichkeit waren. Für ihn. Er stimmte Hadamar zu, dass vermutlich die Ala am ehesten etwas für ihn war. Er hatte keine Ahnung, ob er seekrank wurde, denn er war bisher noch auf keinem Schiff gewesen. Aber er konnte nicht schwimmen, also war die Classis wohl nicht ganz optimal.


    Die Warnung, dass es mit Reiten und Waffentraining nicht getan war, ignorierte er gekonnt beziehungsweise im Moment waren ihm mögliche Nachteile und Schattenseiten seiner in den hellsten Farben gezeichneten Zukunft völlig schnuppe. Dass er länger als seine bisherige Lebensdauer brauchen würde, um das römische Bürgerrecht zu erlangen, interessierte ihn auch herzlich wenig. Eigentlich war die Zeit nach dem Militär gerade so gar nicht von Interesse für ihn, eher die Zeit, die er dort verbringen würde.


    „Das klingt ja recht einfach“, erwiderte er mit einem Grinsen, das er wohl den ganzen Tag nicht mehr aus dem Gesicht bekommen würde. Er ließ sich auch ein paar Trauben schmecken und löcherte Hadamar noch zu einigen Details …


    … ehe sie sich unvermutet ein paar Tage später wiedertrafen, um das Thema in einer konkreteren Form wieder aufzunehmen, als sie beide zu dem Zeitpunkt ahnen sollten.

    Im Gegensatz zu Hadamar und Cimber war Tariq alles andere als gut gelaunt. So hatte er sich seine erste aufregende Reise in unbekannte Gefilde nicht vorgestellt! Zuerst hatte er endgültig feststellen müssen, was er sich vorher schon gedacht hatte, nämlich, dass die Classis nicht seine neue Heimat werden würde. Zumindest hatte er sich in seinem ganzen Leben noch nie so elend gefühlt, wie an Bord dieses schwankenden Monstrums. Es war ihm schwergefallen, den teils spöttischen, teils ernstgemeinten Versicherungen, es sei noch nie jemand an Seekrankheit gestorben, Glauben zu schenken.


    Nachdem sie dann endlich, endlich an Land gegangen waren, hatte Hadamar sich nicht lange damit aufgehalten, ihnen allen eine Erholungspause zu gönnen, sondern war in ziemlich scharfem Tempo gen Norden gereist. Noch völlig gerädert von der Seefahrt hatte Tariq nunmehr die Tage reisend und die Nächte in teils unbequemen Quartieren verbringen müssen. Weder das eine noch das andere schreckte ihn gewöhnlich – so aber war er mit schlechten Voraussetzungen gestartet und hatte sich bis zum Ende nicht wirklich davon erholen können. Von seiner Reiseumgebung, deren Musterung er sich sonst vermutlich ausführlich gewidmet hätte, hatte er wenig mitbekommen. Er hatte all seine Energie darauf verwendet, morgens aufzustehen und dann die anvisierten Tagesmeilen zurückzulegen.


    Jetzt stand er vor dem Tor von Mogotiacum, Hadamars Heimatstadt, und hatte den Eindruck, dass sich im Laufe der Reise jeder einzelne Knochen in seinem Körper persönlich vorgestellt hatte. Müde ging er an den Wachen vorbei und schenkte auch der Stadt selbst keine Beachtung. Für eine Besichtigung war nach ein bis fünf Tagen Schlaf auch noch Zeit. Fand er.

    Auf den Wind lauschen. Auf eine spezielle Art, dass es eigentlich niemand anderes sein kann. Konnte es wirklich funktionieren? Wollte er, dass es funktionierte? Urplötzlich hatte er das Gefühl, angestarrt zu werden von etwas oder jemandem, aus der Dunkelheit heraus. Er stellte sich vor, selbst dort hinten zu stehen, er sah seine eigene Silhouette, angestrahlt vom warmen Licht des Feuers. Ein eisiger Schauder rann ihm über den Rücken und er rutschte ein Stück näher an die Flammen heran, spürte die Hitze auf seinem Gesicht und an den Knien und Unterschenkeln. Wenn er noch näherkam, würde seine Kleidung vermutlich Feuer fangen – aber selbst dieser Gedanke schreckte ihn weniger als das, was möglicherweise im Dunklen lauerte. Dort war etwas. Oder spielte ihm seine Fantasie, die sich selbst bei Tageslicht diversen Ausschweifungen hingeben konnte, einen Streich?


    Hadamars Antwort auf seine Frage war kurz und erstickte jegliche Nachfrage direkt im Keim. Tariq benötigte keine ausgefeilte Menschenkenntnis, um zu wissen, dass dieses ‚Nein‘ eine glatte Lüge war. Er brauchte nur Hadamars Gesicht zu sehen – und die Trauer, die sich dort widerspiegelte. Aber ganz offensichtlich wollte er darüber nicht reden; und Tariq würde ihn mit Sicherheit nicht drängen. Trauer ließ sich schwer in Worte kleiden. Dennoch kannte er diese stille Trauer aus seiner Kultur nicht. Die Menschen seiner Heimat trauerten so, wie sie auch sonst lebten – extrovertiert. Laute Klagegesänge waren das Mindeste, meist untermalt von Tränen. Er verspürte einen winzigen Stich, weil er beim Gedanken an seine Eltern keine Trauer empfand. Waren sie deshalb wütend auf ihn? Waren sie es, die ihn aus der Dunkelheit heraus anstarrten? Tariq drehte das Fleisch in seinen Fingern hin und her, gegessen hatte er immer noch nichts davon. Er sah, wie Hadamar aß, methodisch, ohne jeglichen Genuss. Eher so, als sei jeder Bissen eine Qual. Er wirkte immer noch in sich gekehrt, allein mit seinem Schmerz über die Toten, derer es offensichtlich einige oder zumindest ihm nahestehende gegeben hatte. Tariq fing nun doch an zu essen, hauptsächlich deshalb, um etwas zu tun und sich abzulenken. Zudem hatte er zu lange nach dem Credo 'Esse, wenn du essen kannst!' gelebt, um irgendeine Möglichkeit verstreichen zu lassen, Nahrung zu sich zu nehmen – auch, wenn er gerade weder Hunger noch Appetit hatte.


    Er wünschte sich dennoch, Hadamar würde mit ihm sprechen, irgendetwas sagen, um die Stille zu unterbrechen, und so zumindest der unmittelbaren Nähe des Feuers etwas Tröstliches zu geben. Doch er nahm seine Mahlzeit schweigend ein und Tariq rutschte irgendwann wieder ein wenig vom Feuer weg, weil seine Knie und Beine zu glühen begannen. Hadamar verteilte Met und Fleisch und fing auf einmal an zu singen. Tariq hob überrascht den Kopf. Das war tatsächlich eine Facette seines Freundes, die er nicht kannte. Er verstand die Worte nicht, es schien eine Form des Germanischen zu sein, die ihm unbekannt war. Die Melodie war nicht so klagend wie die Trauergesänge seiner Heimat, eher still und wehmütig. Dennoch hatte sie für Tariq etwas Tröstliches … eigentlich war das Lied genau das, was er sich eben gewünscht hatte. Worte, die die Stille durchbrachen. Worte, die zumindest den Lichtkreis, den das Feuer warf, in eine Zone verwandelte, in der potentiell Bedrohliches keinen Platz hatte. Das Fremde, das draußen in der Dunkelheit war, blieb dort. Er lauschte in die Nacht hinein und vermeinte tatsächlich flüsternde Stimmen im Wind zu vernehmen. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, aber dieses Mal verspürte er keine Angst …


    Als finales Opfer an die Götter wurde das restliche Blut des Hasen über den Stein gegossen. Es löschte die Rune Ansuz – oder war es Uruz? –, lief hinab und vermengte sich mit der Rune des Nordens Isa. Die anderen drei blieben unberührt. Sie blieben noch eine Weile sitzen, aber keiner von ihnen sprach. Dieses Mal störte es Tariq nicht. Er hing seinen Gedanken nach, dachte an die Eltern, die er nicht gekannt hatte, und von denen er nach wie vor nicht wusste, ob sie dort draußen waren mit den anderen Geistern. Irgendwann – er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war – sammelten sie ihre Sachen ein und löschten das Feuer. Die Dunkelheit legte sich wie ein Schleier über sie, ehe sich ihre Augen an das Licht der Sterne und des abnehmenden Mondes gewöhnt hatten. Noch immer hatte Tariq das Gefühl, nicht allein zu sein, ohne mit Sicherheit sagen zu können, woran genau er das festmachen wollte. Und so war er doch ein bisschen erleichtert, als sie auf die Rücken der Pferde stiegen und diesen ganz speziellen Platz in der Wüste hinter sich ließen.

    Tariq nickte, als Viridomarus erläuterte, dass Geschenke eine heikle Angelegenheit seien. Genau deshalb hätte er es vorgezogen, wenn Hadamar selbst hergekommen wäre, um eine Wahl zu treffen … aber Hadamar, schlitzohrig wie er nun mal sein konnte, war sich dieser Tatsache wohl allzu bewusst gewesen. Wahrscheinlich verziehen die Damen Tariq, der sie gar nicht kannte, eher eine falsche Wahl als Hadamar. Auch beim Thema Parfüm sagte Viridomarus ein paar weise Worte. Tariq war auf dem Gebiet wahrlich kein Experte – immerhin hatte es bisher allein aus finanziellen Gründen außer Frage gestanden, einer Frau ein solches Geschenk zu machen – aber wenn, dann müsste es schon eine Frau sein, die er kannte. Oder vermutlich sogar eine, die er umwerben wollte oder die auf andere Art etwas Besonderes für ihn war.


    Dann wurde es kompliziert. Es sollte wertig, aber nicht zu teuer sein. Tariq staunte, worüber sich Viridomarus den Kopf zerbrach … Andererseits war das vielleicht das Geheimnis seines nicht zu bestreitenden Erfolges: Er schenkte jedem Detail Aufmerksamkeit, die anderen auf den ersten Blick nicht wichtig erschienen. So wie ein guter Geschichtenerzähler seine Geschichten mit scheinbar nebensächlichen Einzelheiten bestückt, die am Ende ein perfektes Wortbild zeichnen.


    Tariq folge Viridomarus zu der Auslage mit den Haarspangen, die allesamt sehr hübsch aussahen. „Also, die Haarfarben kenne ich zumindest“, warf er schließlich hilfreich ein – und war erleichtert, dass er zumindest diese abgefragt hatte. „Und es sind Geschenke für drei Damen. Eins für die kleine Schwester, die zwar noch jung, aber auf jeden Fall schon erwachsen ist. Die ist rothaarig. Und die Tante und die Schwägerin haben beide braune Haare.“ Deren Alter kannte er nicht, aber vermutlich waren sie schon alt – so wie Hadamar. Das sprach er aber dann doch lieber nicht laut aus.


    Er griff nach einer der silbernen Haarspangen, sehr filigran, mit einem Schmetterlingsmotiv. Dann fiel sein Blick auf einen goldenen leicht gebogenen Kamm, den man sich ins Haar stecken konnte. Aus dem oberen Teil waren zwei Vögel herausgearbeitet – einer sitzend und einer mit ausgebreiteten Flügeln. Er deutete mit der Spange, die er in der Hand hielt, darauf. „Der ist sehr schön. Aber es wäre vermutlich nicht so klug, wenn man einer Dame etwas aus Gold schenkt und der anderen nicht, oder?“ Er musterte Viridomarus fragend, der ihm sehr wissend auf diesem Gebiet schien. „Vielleicht doch unterschiedliche Geschenke: für eine den Haarschmuck, für eine ein schönes Tuch und für die dritte Ohrringe oder einen Armreifen?“

    Hadamar wirkte tatsächlich … war es erfreut? … als Tariq sagte, dass er in die Legio wollte. Ja doch, er war erfreut. Hieß das, er könnte sich tatsächlich vorstellen, dass Tariq auch ein Soldat wäre wie er? Als Hadamar die Auxiliareinheiten erwähnte, bildete sich eine steile Falte auf Tariqs Stirn und er schüttelte den Kopf. „Nein, hat er nicht.“ Auf die Idee, dass der Miles ein wenig hatte angeben wollen mit einem Karriereweg, der ihm offenstand und seinem jungen kappadokischen Gegenüber eben nicht, kam Tariq nicht. Potentieller Ärger über besagtes Verschweigen schwand auch rasch, als der nur teilweise auskunftsfreudige Miles von Visionen einer Zukunft verdrängt wurde, die Tariq bisher nicht für möglich gehalten hätte. Seine Augen begannen zu leuchten. „Ich kann wirklich zum römischen Heer?“ Bisher war es eine reine Träumerei gewesen. Und auch, wenn Tariq mit einer guten Portion Fantasie ausgestattet und die Bilder in seinem Kopf sehr lebensecht waren, war das Leben trotz seiner Jugend stets ein harscher Lehrmeister gewesen – und es hatte ihn nie vergessen lassen, was jemand wie er sich maximal erhoffen konnte.


    „Reiten kann ich und Bogenschießen … habe ich noch nie probiert, aber ich kann zumindest gut zielen.“ Er war bei Duroks Bande derjenige gewesen, der mit gut gezielten Steinen wahlweise für Ablenkung sorgen oder Aufmerksamkeit erregen konnte. Sogar eine selbstgebaute Schleuder hatte er einst besessen, die er irgendwann vortrefflich einzusetzen verstand. Gut, es war nicht dasselbe wie ein Bogen, aber … na ja, irgendwie doch schon dicht dran, oder? „Was ist die Classis? Und wie lange geht die Dienstzeit? Kann ich dann echt römischer Bürger werden, so wie du?“ Diese Option hatte bisher nicht existiert für ihn, er hatte nie darüber nachgedacht. Die zweite Option, die er bisher für seine einzige gehalten hatte, verpuffte in seinem Kopf wie eine Staubwolke, die der Wind auseinandertreibt. Er mochte Soufian und hätte sich ein Leben als sein Mitarbeiter und potentieller Nachfolger durchaus vorstellen können. Aber Tariq war eben ein Sechzehnjähriger, dem sich plötzlich und unerwartet die Möglichkeit offenbarte, nicht nur in die Fußstapfen des großen Bruders zu treten, den er niemals gehabt hatte, sondern auch Dinge zu erleben, von denen er bisher nur geträumt hatte.


    „Was muss ich denn dafür machen?“

    Tariq lächelte unverbindlich auf Hadamars Worte hin. „Ja, die Straße kann dir Dinge beibringen, die du sonst nirgendwo lernst“, erwiderte er mit mehr Leichtigkeit, als er tatsächlich verspürte. Er konnte und wollte Hadamar keinen Vorwurf machen, denn es war ja nicht seine Schuld, dass er in einer reichen Familie aufgewachsen war. Und, dass er demzufolge offensichtlich keine Ahnung hatte, was ‚auf der Straße herumtreiben‘ wirklich hieß. Woher sollte er es auch wissen? Eigentlich konnte jeder, der auf dem Gebiet keine tiefgehende persönliche Historie vorzuweisen hatte, froh darüber sein. Dennoch versetzten die Worte Tariq einen leichten Stich, weil sie wieder vorführten, wie sehr sich ihre Leben voneinander unterschieden. Es gab Momente, in denen Tariq diese Tatsache vergessen konnte. Und im Grunde störte es ihn auch nicht, wenn sich ein anderer Lebensweg (vermeintlich oder tatsächlich) leichter gehen ließ als sein eigener. Er gehörte nicht zu den Menschen, die andere um ihr Leben beneideten, er konzentrierte sich lieber auf die Optionen, die ihm selbst offenstanden. Und gerade Hadamar gönnte er ohnehin alles Glück der Welt. Allerdings hatte er, ohne es selbst wirklich zu merken, Hadamar in den letzten Jahren ein wenig als Vorbild genommen. So, wie man es bei einem älteren Bruder tut. Wenn Hadamar jedoch so Dinge sagte wie eben, wurde Tariq wieder bewusst, dass er sie beide schlecht miteinander vergleichen konnte.


    Als Hadamar ihn also fragte, was er denn tun wollte, wusste er deshalb nicht so recht, wie er das Knäuel in seinem Inneren entwirren sollte. Er hob zunächst nur die Schultern, aber da Hadamar aufrichtig interessiert wirkte, meinte er ehrlich: „Ich würde gerne dasselbe machen wie du, aber es geht halt nicht. Das hat mir einer der Milites schon gesagt.“ Wieder ein Schulterzucken. „Deshalb dachte ich, dass das mit Soufian eine gute Idee wär‘. Er mag mich und würd‘ mich bestimmt da behalten, wenn ich mich anstreng‘.“


    Hadamars 'Drohung', dass er ihn in Bezug auf seine Schwester mit in die Bredouille bringen würde, quitterte Tariq hingegen mit einem Grinsen. „Ich wette, ich bin schneller als sie ...“

    Tariq zuckte zusammen, als ihn plötzlich jemand ansprach. Auf ihn trat ein Mann zu, der sich trotz seines beachtlichen Leibesumfangs mit einer tänzerischen Leichtigkeit bewegte. Das ließ ihn zumindest in Tariqs Augen fast ein wenig überirdisch wirken, so als sei er kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein Djinn, der sich aus einer der kunstvoll verzierten Öllampen manifestiert hatte. Vermutlich war er aber der Besitzer all dieser Schätze, die sich um ihn herum präsentierten – Viridomarus.


    „Salve … Viridomarus, nehme ich an?“ grüßte er höflich zurück, sich aus seiner Erstarrung lösend. Da sein Gegenüber sehr freundlich war, lächelte er nun ebenfalls, immer noch etwas zurückhaltend. „Ja, das stimmt, du hast viele sehr schöne Sachen hier, was mir meine Aufgabe nicht leichter macht.“ Sein Blick wanderte ein weiteres Mal durch den Raum – und dieses Mal nahm Tariq den zweiten Mann wahr, der einer Statue gleich in einer Ecke verharrte. Fast wäre er wieder zusammengezuckt, dieses Mal aber nicht aus Überraschung über das plötzliche Erscheinen des Mannes, sondern weil sein Anblick seinen Fluchtinstinkt weckte. Dabei hatte er nichts Unrechtes getan – und auch nicht vor, einen dieser schönen Gegenstände in seinen Taschen verschwinden zu lassen, immerhin hatte er Hadamars Geldbeutel dabei. Er war ein ganz normaler Kunde und hatte demzufolge nichts zu befürchten! Das musste er sich selbst immer wieder vorbeten.


    „Ich heiße Tariq und ich bin von einem Freund, einem römischen Offizier, ausgeschickt worden, um Geschenke für seine weiblichen Verwandten zu kaufen.“ Kurz hatte er überlegt, Hadamar als seinen Herrn zu bezeichnen, weil das weniger Verwunderung hervorrief, aber er hatte sich dann doch entschieden, bei der Wahrheit zu bleiben. Ebenso fällte er spontan die Entscheidung, Viridomarus das ganze Ausmaß seines Dilemmas zu präsentieren. Wenn jemand wusste, was man römischen Damen schenken könnte, dann wohl der Besitzer eines solchen Ladens. „Nur habe ich das Problem, dass ich die Damen nicht kenne, und deshalb nicht so recht weiß, was ihnen gefallen würde.“ Nun huschte ein Grinsen über sein Gesicht. „Bei den vielen schönen Dingen fällt die Auswahl noch schwerer. Und die Münzen hier reichen leider nicht, um den ganzen Laden zu kaufen.“

    Mit einer gewissen Spannung betrat Tariq den Laden. Es war das erste Mal, dass er über die Schwelle trat, bisher hatte er lediglich in der Nähe der Tür herumgelungert und beobachtet, wer hier alles ein- und ausging. Als erstes umhüllte ihn ein Duft verschiedener Kräuter, Öle und anderer Mixturen, die er nicht gleich zuzuordnen vermochte. Nachdem seine Augen sich an den – zumindest im Vergleich zum grellen Tageslicht – dunklen Innenraum gewöhnt hatten, glitten sie über die Pracht edler Waren, die Tariq in der Vielfalt bisher nie auf so engem Raum gesehen hatte. Bei Soufian ging auch das eine oder andere teure Einzelstück über die Theke (oder stellenweise auch unter der Theke her), aber hier türmten sich Ballen edler Stoffe in deckenhohen Regalen, standen diverse Flaschen und Tiegel in Wandschränken, die selbst kleine Kunstwerke waren und verbargen Truhen ihre zweifellos wertvollen Inhalte vor den Augen der Kundschaft.


    Tariq wäre gern zu dem Regal mit den Stoffen gegangen, hätte die Finger ausgestreckt und sie berührt. Er hatte noch nie so wertvolle Stoffe angefasst, geschweige denn aus ihnen gefertigte Kleidung getragen. Aber es war, als habe der römische Iuppiter oder Hadamars Donar einen Blitz auf ihn geschleudert. Er stand eine Weile wie erstarrt mitten im Raum, überwältigt von dem, was er sah und unschlüssig – oder unfähig, so genau wusste er es selbst nicht – einen Schritt in eine bestimmte Richtung zu machen. Er fingerte nur nach dem Geldbeutel, den Hadamar ihm mitgegeben hatte, um sich zu versichern, dass er noch da war.

    Hadamar braucht lange, um zu antworten – und Tariq fragte sich, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Oder ob er in einer Art Trance versunken war. Vielleicht war er auch mit den Gedanken in den fernen Wäldern seiner Heimat, die Tariq sich so überhaupt nicht vorstellen konnte. Als er schließlich doch antwortete, blickte Tariq ein weiteres Mal über seine Schulter. Woher sollte er wissen, ob seine Eltern ihm etwas mitzuteilen hatten? Würde er es merken, wenn sie mit ihm redeten? „Ich … ja.“ Seine Worte, um die er sonst selten verlegen war, versiegten wie die schmalen Bachläufe im trockenen Steppenboden. Er hatte nie mit Hadamar über seine Eltern gesprochen. Vielleicht, weil es einfach nicht viel zu sagen gab. Er kannte sie nicht, er hatte noch nicht einmal eine vage Erinnerung an sie. Samir, ein Junge aus Duroks Bande, mit dem er eine Zeitlang umhergezogen war, hatte immer behauptet, dass er sich an das Gesicht seiner Mutter erinnern könne. Angeblich hatte sie zu ihm gesprochen, in seinen Träumen – und Trost gespendet in dunklen Stunden. Tariq hatte das nie ernst genommen. So eine Mutter hatte er auch gehabt, eine Traum-Mutter, wunderschön, einfühlsam und beschützend. Bis ein Fußtritt ihn aus dem Schlaf geholt hatte. „Mit meinen Eltern. Ich weiß allerdings nicht, ob sie wirklich tot sind. Ich erinnere mich nicht an sie.“ Er zuckte mit den Schultern, wie um die Aussage als unwichtig abzutun. „Ich dachte, damit könnte ich’s vielleicht rausfinden.“


    Nur, was würde er sie fragen wollen, wenn sie wirklich dort draußen waren? Was passiert war? Wie er in Duroks nicht sehr fürsorglicher Obhut gelandet war? Ob sie jemals versucht hatten, ihn zu finden? Gut, wenn sie tatsächlich tot waren, hätten sie ihn schlecht suchen können. Andererseits: Wollte er die Wahrheit wirklich wissen? Die Wahrheit war oft ein zweischneidiges Schwert. So könnte er sich eine Geschichte in seinem Kopf zurechtlegen, über das, was passiert war. Eine Geschichte, die ein warmes Gefühl in seinem Inneren zurückließ, von Eltern, denen er etwas bedeutet hatte, die möglicherweise jeden Stein umgedreht hatten, um ihn zu finden. Oder die ihn nicht hatten suchen können, weil die Götter sie bereits zu sich geholt hatten und die dort, wo sie jetzt waren, über ihn wachten. Die Wahrheit könnte aber eine weit hässlichere Fratze präsentieren. Von Eltern, die ihr Kind verkauften, weil sie es nicht ernähren konnten zum Beispiel. Oder aus egoistischeren Motiven.


    Um diese Gedanken zu verdrängen, fragte er: „Und du? Würdest du mit jemandem reden wollen?“ Er griff nach dem Fleisch, das Hadamar ihm reichte. Obwohl er eigentlich zu den Leuten zählte, die immer etwas essen konnten, verspürte er im Moment keinen Appetit, weshalb er das Fleischstück etwas unschlüssig in seinen Fingern hin und her drehte.

    Tariq hob überrascht eine Braue. „Du hast dich auf der Straße rumgetrieben? Ich dachte, du kommst aus einer reichen Familie?“ Gut, das eine schloss das andere nicht zwangsläufig aus. Tariq hatte in Caesarea schon Söhne aus offensichtlich gutem Haus gesehen, die … na ja, aus welchen Gründen auch immer die 'Nähe zum einfachen Volk suchten'. Meist war zu viel Alkohol im Spiel oder irgendwelche Mutproben. Tariq bezweifelte allerdings, dass Hadamar zu der Sorte gehörte – vermutlich war in Germanien die Situation einfach eine andere; zumindest den Erzählungen nach, die er bisher gehört hatte, schien das Gefälle nicht ganz so steil zu sein wie in Kappadokien, zwischen der Oberschicht und dem Rest. Bei der Vorstellung, wie Hadamar Kopfnüsse an seine Legionäre verteilte, musste er hingegen grinsen. „Gibt's viele von denen, die das brauchen?“


    Als die Sprache auf Soufian kam, zuckte Tariq bei Hadamars Feststellung, dass der Händler gerne mal Leute über den Tisch zog, mit den Schultern. Er verstand nicht, was daran erwähnenswert sein sollte, denn in Tariqs Welt war das die Normalität. Er kannte kaum Menschen – und erst recht keine Händler – die nicht jeden Kniff ausnutzen, um möglichst viele Vorteile aus einer Situation zu ziehen. Aber Hadamar wollte offensichtlich auf etwas hinaus, er klang … irgendwie besorgt. Tariq legte den Kopf schief und runzelte leicht die Stirn. Sein erster Reflex in einer solchen Situation war eigentlich, alles abzustreiten und jegliche Verantwortung für die Produktion von Ärger von sich zu weisen. Aber in dem Moment wurde ihm klar, wirklich klar, dass Hadamar einer der wenigen Menschen war, die etwas für ihn persönlich getan hatten, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Nüchtern betrachtet hatte er nichts davon, dass Tariq hier war. Er hatte ihm einfach helfen wollen, damals, ohne Hintergedanken auf einen möglichen Vorteil. Zumindest gab es keinen, den Tariq erkennen konnte. „Ich … werd' vorsichtig sein“, versprach er deshalb. Er verstand nur halbwegs, was er jetzt konkret anders machen sollte, aber eines wusste er mit Sicherheit: Er wollte Hadamar nicht enttäuschen. Das war ihm wichtiger als alles andere. „Ich will keinen Ärger mit der Legio. Ich dachte nur …“ Ja, was eigentlich? „… ich dachte, dass das eine Möglichkeit für mich wär', weißt du? Wenn ich von Soufian was lerne, kann ich vielleicht irgendwann mal … bei ihm mit einsteigen, oder ein eigenes Geschäft aufziehen, oder so. Irgendwas muss ich ja machen. Ich kann ja schlecht zur Legio gehen.“ So. Jetzt war es ausgesprochen. Er hatte selbst nicht gewusst, wie sehr ihn das Thema eigentlich beschäftigte, bis zu diesem Moment, in dem er darüber redete.


    Und er würde wohl die Möglichkeit erhalten, das, was er bei Soufian gelernt hatte, direkt bei der Mission ‚Geschenkekauf‘ umzusetzen. „Ich schau mal, was ich find'.“ Er kratzte sich gespielt nachdenklich am Kinn. „Vielleicht sollte ich eine Puppe kaufen, ich möchte echt mal sehen, wie dir deine Schwester den Kopf abreißt. Vielleicht kommt sie ja extra dafür hierher.“ Er grinste. Diesen Seitenhieb hatte sich Hadamar einfach verdient, fand er. Denn eigentlich sollte er die Geschenke na ja, vielleicht nicht selbst kaufen, aber doch zumindest aussuchen.