Mit einem leichten Heben der Mundwinkel nahm Hadamar zur Kenntnis, dass er da war. Tariq lächelte zurück, sagte aber sonst nichts. Dies war ein eher stilles Ritual – so zumindest der Eindruck, den Tariq in den letzten Jahren gewonnen hatte. Auf die Idee, dass es an Hadamar selbst und einem fehlenden Goden liegen könnte, kam der Junge nicht … erstens mangelte es ihm an Vergleichsmöglichkeiten und zweitens fühlte es sich selbst für ihn, der Worte liebte, richtig an, dass dieses Fest ein stilles war. Hadamar hatte ihm erzählt, dass an Samhain der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten dünn war. Dass die Toten dann herüberkommen und unter den Menschen wandeln konnten. Wie immer, wenn Tariq daran dachte, ergriff eine unnatürliche Kälte Besitz von ihm – und er warf einen kurzen Blick über die Schulter, wohl wissend, dass er nichts weiter sehen würde als Dunkelheit. Und die Abbilder der Flammen, in die er zuvor die ganze Zeit gestarrt hatte.
Er fingerte nach der Münze, die er an einer Lederschnur befestigt um den Hals trug. Es war eine römische Münze, ein As – die erste Münze, die er gefunden und die einzige, die er jemals für sich selbst zurückbehalten hatte. Ansonsten hatte er das nie gewagt, da Durok, der Kopf seiner damaligen Bande, stets zu wissen schien, wenn jemand etwas vor ihm verbarg. Doch diese Münze war seine, das hatte er gewusst, als er das glitzernde Stück Metall im Straßenstaub hatte liegen sehen. Er hatte sie versteckt, in der Einkerbung einer Mauer, und war immer wieder dorthin zurückgekehrt, um zu sehen, ob sie noch da war. Sie war immer noch da, jedes einzelne Mal, wenn er gucken kam – und mit der Zeit war sie zu einer Art Glücksbringer geworden für ihn. Als Hadamar ihn mitgenommen hatte nach Satala, war Tariq eines Tages zur Mauer zurückgekehrt – und zu seiner großen Freude war die Münze immer noch in ihrem Versteck, unangetastet, als habe sie auf ihn gewartet. Dieses Mal hatte er sie mitgenommen und trug sie seitdem um den Hals, auf dass sie größeres Unheil weiterhin von ihm fernhalten möge. Ob sie tatsächlich gegen die Geister der Toten wirksam war, wusste er nicht genau, aber das vertraute Gefühl des Metalls unter seinen Fingerkuppen vermittelte ihm zumindest ein wenig Sicherheit.
Als Hadamar ihm den Becher mit Met reichte, tat Tariq es ihm nach und schüttete ein wenig Flüssigkeit in die Flammen. Er sagte allerdings nichts, rief niemanden an oder bat um etwas. Auch, wenn er die Namen von Hadamars germanischen Göttern kannte, blieben sie ihm fremd. So wie die Götter allgemein eher fremd für ihn waren. Es war nicht so, dass er nicht an ihre Existenz glaubte, nur blieben sie entrückt, weiter weg von ihm und seinem Leben als der Kaiser im entfernten Rom. Es gab Menschen, die laut eigener Aussage hoch in der Gunst der Götter standen – so wie die kappadokischen Tempelfürsten, die so reich waren, dass Durok immer leuchtende Augen bekommen hatte, wenn er von ihnen sprach. Aber auch, wenn er eine innige Verehrung für die Besitztümer jener Männer in sich trug, hatte ihn das nicht dazu verleitet, den Jungen, die seinen eigenen Reichtum mehrten, das Sein und Wirken der Götter näherzubringen.
Tariq beobachtete, wie Hadamar einen Hasen opferte und mit dessen Blut Zeichen auf den Stein malte – Runen nannte er sie. Diese wiederum faszinierten Tariq, denn sie symbolisierten Worte. Und dass in Worten Macht liegt, die jeder Mensch tagtäglich spüren konnte, hielt Tariq für eine erwiesene Tatsache. Er half Hadamar, den Hasen auszuweiden und auf einem Stock über dem Feuer zu rösten. Während der Hase briet, starrte Hadamar die Runen an – und auch Tariq fiel auf, dass das Blut an einigen Stellen der Schwerkraft folgend gen Erdboden lief. Kurz fragte er sich, ob die Götter oder die Totengeister jetzt zornig waren, weil die Schrift falsch war. Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass er heisere Stimmen im Wind hörte oder gar das Feuer vor ihnen plötzlich erlosch … aber nichts dergleichen passierte. Tariq atmete langsam wieder aus. Vielleicht fanden die Götter es nicht so schlimm, wenn ein Soldat wie Hadamar Fehler in die Zeichen malte? Wieder lauschte er auf die Geräusche der Nacht – und plötzlich fragte er sich, ob seine Eltern vielleicht auch dort draußen waren. Er konnte sich nicht an sie erinnern, weder an ihre Gesichter noch an ihre Stimmen. Er wusste noch nicht einmal, ob sie tatsächlich tot waren. Aber wenn … wären sie dann auch da draußen?
„Sag mal, Hadamar“, unterbrach er ganz unvermittelt die Stille. „Kann man mit den Geistern der Toten eigentlich sprechen?“