Ich war mir nicht wirklich sicher, ob er verstanden hatte, ließ mir aber nichts anmerken. Stattdessen kam ich zum eigentlichen Thema.
"Kommen wir dann also zur Auslegung der Gesetze. Die Gesetzesauslegung erfolgt nach den Regeln, die von Juristen allgemein anerkannt sind. Hält man sich an diese Regeln, so wird die eigene Argumentation akzeptiert. Weicht man davon ab, so muss man damit rechnen, dass die eigenen Argumente nicht akzeptiert werden. Die erste und grundlegendste dieser Regeln ist sehr einfach: Der Wortlaut des Gesetzes gibt genau das wieder, was der Gesetzgeber sagen wollte. Man hat also grundsätzlich nach dem Wortlaut auszulegen. Bei neueren Gesetzen ist das einfach. Bei älteren Gesetzen ist es oft schwierig. Das liegt daran, dass sich die Sprache über Jahrhunderte wandelt. Dadurch kann sich die Bedeutung von Worten ändern. Und manchmal verstehen wir die alten Texte kaum noch, so wie der Liedtext des Carmen Saliare heute für viele kaum noch verständlich ist, weil diese Form des Latein nicht mehr gesprochen wird. Das kann einem auch bei sehr alten Gesetzen passieren, vor allem im Pontifikalrecht."
Dadurch, dass ich einen Schluck Posca zu mir nahm, ließ ich Aemilius kurz Zeit, das Gesagte in seinem Geist zu verankern.
"Was machen wir aber, wenn sich die Bedeutung einiger Worte gewandelt hat? Es gibt einige Herangehensweisen. Die beste Möglichkeit ist es, die ursprüngliche Bedeutung herauszufinden und anzuwenden. Das kann durchaus gelingen, beispielsweise durch die Verwendung eines Gesetzeskommentars, in dem diese festgehalten wurde. Der geübte Jurist zitiert dann das Gesetz und formuliert es so um, dass die ursprüngliche Bedeutung in moderner Sprache erklärt wird. Aber was, wenn man die ursprüngliche Bedeutung nicht mehr herausfinden kann? Dann hilft uns unser Rechtsempfinden. Der Mos Maiorum ist die übliche Quelle unseres Rechtsempfindens. Daher wird das Gesetz so ausgelegt, dass die moderne Bedeutung der Worte mit dem Mos Maiorum in Einklang gebracht wird. Das Ergebnis sollte fast immer vertretbar sein. Eine letzte Herangehensweise ist die Auslegung des Gesetzes nach seinem Zweck. Wenn die beiden anderen Herangehensweisen nicht zu einem vertretbaren Ergebnis führen, kann man immer nach dem Zweck auslegen. Dazu werde ich aber später noch mehr erzählen. Gibt es bis hierhin Fragen?"