Beiträge von Aulus Iunius Tacitus

    Eine Woche später fand ich mich wieder hier ein. Heute ging es ums juristische Argumentieren und eventuell auch noch über die Prozessordnung. Ich hatte mir ein paar schöne Aufgaben überlegt, die meine Schüler, oder vielleicht auch nur ein Schüler, lösen sollten. Hierzu legte ich Abschriften der wichtigsten Gesetze aus. Das Zwölftafelgesetz, der Codex Universalis und der Codex Iuridicialis. Dann wartete ich auf meine Schüler.

    "Gut, dann hätten wir die Inhalte der heutigen Lektion durchgearbeitet. Damit sind die theoretischen Grundlagen gelegt, um uns in der nächsten Woche mit der Praxis auseinanderzusetzen. Das Thema der nächsten Woche ist das juristische Argumentieren. Dann geht es vor allem darum, Klagen und Verteidigungen richtig vorzutragen. Wir sehen uns dann nächste Woche wieder, gleiche Zeit, gleicher Ort."


    Ich lächelte und fing an, meine Unterlagen zusammenzupacken.

    Ich nickte zustimmend.


    "Sehr gut. Du hast den Zweck der Regelung richtig erkannt. Und du hast erkannt, dass hier eine Auslegung nach dem Zweck notwendig ist.


    Ein anderer Lösungsweg hätte über einen Analogieschluss aus dem Codex Militaris geführt. Unter Kriegsrecht ist es erlaubt, bewaffnete Gegner des Imperiums zu bekämpfen. Das trifft zwar streng genommen nur für Angehörige des Exercitus Romanus zu, aber mangels entsprechender Einheiten in diesem Beispiel wird es die Pflicht aller Römer, zu kämpfen. Das geht nur mit Waffen und entsprechend wäre es dann nach Kriegsrecht gedeckt. Weil Kriegsrecht ein Spezialrecht ist, geht es dem Codex Iuridicialis vor.


    Nach herrschender Meinung unter Juristen ist aber der Lösungsansatz der Auslegung nach dem Zweck gegenüber dem Analogieschluss aus dem Kriegsrecht zu bevorzugen. Du hast also die Lösung angewendet, die auch von der Mehrheit der Juristen bevorzugt wird. Gute Arbeit, das Gelernte hast Du verstanden."


    Nun gab es noch eine Kleinigkeit, um die heutige Lektion abzuschließen.


    "Kommen wir noch zu einem letzten Punkt, der uns in Zukunft immer wieder begegnen wird. Das passende Zitieren von Gesetzestexten. Wie du an meinen Beispielen gesehen hast, habe ich immer zuerst die Nummer des Paragrafen genannt und dann das Gesetz, aus dem er stammt. Das ist auch die gängige Zitierweise. Man kann also Üblicherweise genügt es, Paragraf und Gesetz zu zitieren. Beispielsweise kann man die Definition des Eigentums zitieren, indem man sagt 'Eigentum nach § 2 Lex Mercatus' oder 'Eigentum im Sinne des § 2 Lex Mercatus'. Man kann das auch etwas schöner formulieren, wie zum Beispiel 'Eigentum im Sinne des zweiten Paragrafen der Lex Mercatus'. Wichtig ist, dass Paragraf und Gesetz genannt werden.


    Man kann aber auch einzelne Aspekte der Regel gesondert hervorheben. Ein Beispiel: Ein Vertrag bedarf nach § 4 Absatz 1 Satz 2 Lex Mercatus der ausdrücklichen Zustimmung beider Vertragspartner. Das wendet man vor allem dann an, wenn man den Aspekt besonders betonen will. Damit kann man seine Zuhörer, und das kann auch ein Praetor sein, gezielt auf einen Aspekt aufmerksam machen, der besonders wichtig ist. Grundsätzlich geht man hierarchisch vor. Erst der Paragraf, dann der Absatz, dann weitere Unterprunkte, wie beispielsweise ein Satz des Paragrafen.


    Ein Sonderfall sind spezielle Gesetze, die nicht in Paragrafen geordnet sind. Das Zwölftafelgesetz ist so ein Fall. Dort zitiert man nur die jeweilige Tafel oder die Überschrift des Abschnitts. Wenn beides nicht geht, zitiert man nur das Gesetz und das relevante Stichwort. Ein Beispiel wäre meine Berufung der Analogie auf das Kriegsrecht aus dem Codex Militaris, die ich bei dem Fall des Waffentragens im Pomerium bemüht habe.


    Final bleiben noch Verknüpfungen von Paragrafen. Das nutzt man, wenn ein Paragraf Voraussetzung für einen anderen ist. Und sei es nur, um eine Definition zu haben. Ein mündlich geschlossener Kaufvertrag ist beispielsweise ein gültiger Vertrag nach § 5 in Verbindung mit § 4 Absatz 1 Lex Mercatus. In diesem Beispiel sind beide Rechtsnormen im gleichen Gesetz, so dass man den Wortlaut 'in Verbindung mit' zwischen beide Paragrafen setzt. Bei Rechtsnormen aus zwei unterschiedlichen Gesetzen wird bei jedem Paragrafen das Gesetz genannt. So wäre ein Besitzer eines Sklaven, der nicht Eigentümer des Sklaven nach § 2 Lex Mercatus ist, aus § 1 Absatz 2 Lex Germanica Servitium in Verbindung mit § 3 Absatz 2 Lex Maercatus dazu verpflichtet, dauerhaften Schaden vom Sklaven abzuhalten.


    Die Zitierweise ist soweit klar, hoffe ich?"

    Ich lächelte zufrieden. Kernpunkt war die Frage der Angemessenheit der Arbeitsleistung und hier hatte Secundus alles richtig gemacht. Als nächstes Beispiel wollte ich einen 'Klassiker' nehmen, der die Grenzen der Auslegung nach dem Wortlaut aufzeigen sollte.


    "Sehr gut, Aemilius. Hart, aber gerecht. Das gefällt mir. Schauen wir uns nun ein Fallbeispiel an, das hoffentlich weder wir noch sonst ein Römer jemals in der Realität erleben wird. Nehmen wir an, es würde Barbaren gelingen, Rom einzunehmen. Das war vor einigen Jahrhunderten schon einmal der Fall, ist jetzt aber wirklich rein hypothetisch und faktisch unmöglich. Es ist aber ein interessantes Fallbeispiel. Die stadtrömischen Einheiten sollen in diesem Beispiel nicht mehr existieren. Nehmen wir weiterhin an, dass zivile Römer sich bewaffnen würden und es ihnen gelingen würde, die Barbaren zu vertreiben. Nach § 103.1 Codex Iuridicialis ist das Waffentragen innerhalb des Pomeriums nur den statdtrömischen Einheiten erlaubt. Die Barbaren ließen sich nur vertreiben, indem man sie innerhalb des Pomeriums bekämpfte. Folglich wären bewaffnete römische Zivilisten innerhalb des Pomeriums. Nach § 103.1 Codex Iuridicialis müssten diese nun bestraft werden. Oder?"


    Es gab mehrere Lösungsansätze hierfür, so dass ich gespannt war, wie Secundus argumentieren würde.

    "Nun, das Urteil ist etwas hart, scheint mir aber durchaus gerecht zu sein. Denn, wie du richtig erkannt hast, waren die 50 Tage ganz sicher keine unangemessene Härte im Sinne des § 2 Absatz 3 Lex Germanica Servitium."


    Ich hätte zwar die Arbeitsverpflichtung nicht erhöht, wohl aber die 50 Tage bestätigt und den Sklaven ermahnt, etwas dankbarer für seine Freilassung zu sein.


    "Wandeln wir den Fall ein wenig ab. Angenommen Aulus Agerius hätte von Servius verlangt, ihm für 250 Tage seine Arbeitskraft zu Verfügung zu stellen. Wie wäre dann dein Urteil?"

    Ich nickte.


    "Gut, dabei hilft dir vielleicht das nächste Beispiel. Nach Jahren des treuen Dienens entscheidet sich Aulus Agerius, seinen Sklaven Servius freizulassen. Unter Berufung auf § 2 Absatz 3 Satz 1 Lex Germanica Servitium verpflichtet er Servius aber, 50 Tage im Jahr für ihn kostenlos zu arbeiten. Die Tätigkeit bleibt die gleiche, wie die Tätigkeit als Sklave. Servitius findet das ungerecht und reicht Klage auf Grund von § 2 Absatz 3 Satz 2 Lex Germanica Servitium ein, um die Verpflichtung auf 10 Tage zu reduzieren. Wir nehmen an, dass du Praetor Urbanus bist und den Fall verhandeln musst. Deine Zuständigkeit ist unbestritten. Die Rechtsnormen sind korrekt zitiert. Wie urteilst du und warum?"

    "Nun, Aulus Agerius hätte sich wohl besser juristischen Beistand geholt. Allerdings muss ich dich bezüglich der Rolle des Praetor Urbanus korrigieren. Der Praetor Urbanus muss, ebenso wie der Praetor Peregrinus, neutral sein. Das heißt, dass er nur das verhandeln darf, was ihm als Klage eingereicht wird. Wer die falsche Klage einreicht, muss mit Abweisung rechnen. Das Gleiche gilt übrigens auch für jeden Iudex. Diese Regel hat mehrere Hintergründe. Zum einen geht es darum, dass ein Richter unbefangen sein muss und nicht einmal den Anschein der Befangenheit erwecken darf. Richter sprechen als neutrale Vertreter des Imperium Romanum Recht, nicht als Bürger. Würde ein Richter, egal ob Praetor oder Iudex, eine falsch eingereichte Klage korrigieren, dann könnte man das als Befangenheit zu Gunsten einer Partei werten. Das könnte aber die Bürger dazu veranlassen, an der Neutralität der Gerichte zu zweifeln. Dann würde man Streitigkeiten nicht mehr vor Gericht austragen, sondern sich direkt, notfalls mit Gewalt, Recht verschaffen. Und das wiederum würde die Sicherheitskräfte des Imperium Romanum unnötig binden, um wieder für Ordnung zu sorgen. Heißt, ein Richter darf eine falsch eingereichte Klage nicht korrigieren. Ein weiterer Hintergrund der Neutralitätsregel ist, dass die Gerichte nicht unnötig belastet werden sollen. Wenn ein Richter im Zweifelsfall meine Klage korrigiert, warum sollte ich mir dann die Mühe machen, mich juristisch kundig zu machen? Ich könnte ja einfach eine unpassende Klage einreichen und dann würde sich der Richter um alles Weitere kümmern. Das kann aber teilweise erheblichen Rechercheaufwand des Richters bedeuten, kostet also Zeit. Diese Zeit soll aber nicht die des Richters sein, sondern die des Klägers oder seines Advocatus. Die Zeit des Richters ist dafür zu wertvoll. Zu guter Letzt kommt auch der außergerichtlichen Beratung durch Juristen ein wichtiger Sinn zu. Denn vielleicht kommt es ja gar nicht zum Prozess, wenn sich Juristen bereits außerhalb des Gerichts einigen. Wie du siehst, ist die exakte Klageerhebung sehr wichtig, um die Stabilität unseres Gerichtswesens und damit auch des Imperium Romanum zu garantieren."


    Außerdem gab es da noch die Geschichte unseres Gerichtswesens...


    "Du solltest auch bedenken, dass ursprünglich mit dem sogenannten Legisaktionsverfahren noch viel strengere Ansprüche an die Klageerhebung gestellt wurden. Damals musste die Klage in einem ganz exakten Wortlaut einer bestimmten Klageformel vorgetragen werden, ebenso wie die Erwiderung. Fehler in der Zitierung der Formel führten zur sofortigen Niederlage. Prinzipiell ist diese Verfahrensform noch immer zulässig, allerdings nutzt sie kaum noch jemand. Am ehesten wird sie noch zur Mancipatio verwendet. Und selbst die ist selten. Ich denke, dass es nach den Ursprüngen mit einem exakten Wortlaut jetzt deutlich einfacher und durchaus zumutbar ist, wenigstens die exakten Rechtsnormen zu zitieren."


    Nun musste ich aber noch etwas zu meinem Beispiel erläutern.


    "Kehren wir noch einmal zum verletzten Servius zurück. Aulus Agerius könnte seinen Fehler korrigieren, indem er einfach erneut Klage einreicht, diesmal aber wegen Sachbeschädigung. Abgewiesen wurde ja nur die Klage wegen Körperverletzung. Ansonsten kann man aber auch einen Trick verwenden, wenn man sich nicht sicher ist. In dem Fall hätte Aulus Agerius Klage gegen Numerius Negidius auf Grund von § 85 Codex Iuridicialis in Verbindung mit § 1 Lex Mercatus, hilfsweise auf Grund von § 76 Codex Iuridicialis, einreichen können. Durch die Konstruktion des hilfsweisen alternativen Klagegrunds hätte der Praetor Urbanus nun zunächst die Sachbeschädigung nach § 85 Codex Iuridicialis in Verbindung mit § 1 Lex Mercatus prüfen müssen. Wäre diese nicht einschlägig gewesen, hätte er als nächstes die Körperverletzung nach § 76 Codex Iuridicialis prüfen müssen. Nur, wenn beides zu verneinen wäre, müsste der Praetor Urbanus die Klage abweisen. Ansonsten müsste er sie verhandeln. Fragen?"

    "Gut, dann schauen wir uns ein paar einfachere Sachverhalte an. Der Sklave Servius des Aulus Agerius wurde durch Numerius Negidius vorsätzlich geschlagen und hat deshalb eine Platzwunde. Aulus Agerius erhebt vor dem Praetor Urbanus Klage auf Grund von Körperverletzung gemäß § 76 Codex Iuridicialis. Der Praetor weist die Frage ab. Zu Recht?"


    Ich wartete keine Antwort ab, weil ich die Systematik erläutern wollte.


    "Die Antwort ist, dass der Praetor Urbanus Recht hatte. § 76 Codex Iuridicialis regelt zwar die Körperverletzung. Allerdings muss man bedenken, dass der Verletzte der Sklave Servius war. Nach § 1 Lex Mercatus ist ein Sklave eine Sache, weil er kein freier Mensch ist. Für Schäden an Sachen ist aber § 85 Codex Iuridicialis einschlägig. Aulus Agerius hat also nach der falschen Rechtsnorm Klage eingereicht. Hätte er Numerius Negidius auf Grund einer Sachbeschädigung im Sinne des § 85 Codex Iuridicialis in Verbindung mit § 1 Lex Mercatus verklagt, dann hätte der Praetor Urbanus den Fall verhandeln müssen. Merken: Bei der Klageerhebung ist die richtige Rechtsgrundlage zu nennen. Gibt es Fragen zu dem Beispiel?"

    "Das kommt darauf an. Wenn man mit einem Spezialgesetz ein anderes Spezialgesetz erneuern möchte, sollte man das alte Spezialgesetz aufheben. Wenn man mit einem neuen allgemeinen Gesetz ein Spezialgesetz aufheben möchte, muss man sogar das Spezialgesetz aufheben. Anders ist die Sache, wenn man mit einem spezielleren Gesetz nur für den Spezialfall ein allgemeineres Gesetz ändern möchte, für andere Fälle aber nicht. Dann muss das allgemeinere Gesetz bestehen bleiben, weil das Spezialgesetz ja nur einen Teil regelt."


    Das hatte ich jetzt immer noch ziemlich allgemein gehalten.


    "Ich hoffe, dass ich mich gerade verständlich ausgedrückt habe. Ansonsten einfach fragen."


    Dabei lächelte ich freundlich.

    Offenbar hatte Secundus keine Fragen zu den Praxistipps. Daher beschloss ich, mit der heutigen Lektion fortzufahren.


    "Nachdem wir nun die Auslegung nach dem Wortlaut erörtert haben, wollen wir als Nächstes die Auslegung im Rahmen der Gesamtheit aller Gesetze betrachten. Denn Gesetze sollten sich nicht widersprechen. Wobei hier noch ein paar kleinere Regeln zu beachten sind. Zunächst einmal geht ein neueres Gesetz einem älteren Gesetz vor. Das ist wichtig, falls es widersprechende Regelungen gibt. Für deine spätere Arbeit als Senator bedeutet diese Tatsache, dass man kein bestehendes Gesetz explizit aufheben muss, wenn man ein neues Gesetz beschließt, mit dem das alte Gesetz ersetzt werden soll. Allerdings sind wir Juristen immer dankbar dafür, wenn man das trotzdem macht. Das vereinfacht die juristische Arbeit, weil dann sichergestellt ist, dass alle Regeln aus dem alten Gesetz außer Kraft gesetzt sind."


    Es konnte ja nicht schaden, wenn man darauf schon einmal hinwies. Da ich fest davon ausging, mit einem zukünftigen Senator zu sprechen, konnte ich ja diese Bitte indirekt äußern, bei neuen Gesetzen klar zu formulieren, ob ältere Gesetze ganz oder nur teilweise ersetzt werden sollten.


    "Eine andere wichtige Regel solltest du dir auch merken: Spezialgesetze gehen allgemeinen Gesetzen vor. Ein Beispiel: Die Lex Octavia et Aelia de Administratione Regionum Italicarum regelt die Verwaltung in Italia. Die Lex Coloniae der Civitas Ostia hingegen gilt nur für Ostia. Sie ist Spezialgesetz für Ostia. Damit haben alle Regeln der Lex Coloniae der Civitas Ostia im Bereich von Ostia den Regelungen der Lex Octavia et Aelia de Administratione Regionum Italicarum vor. Wenn in der Lex Coloniae der Civitas Ostia Regeln fehlen, die in der Lex Octavia et Aelia de Administratione Regionum Italicarum stehen, haben diese allgemeineren Regeln weiterhin Geltung. Gibt es Fragen?"

    So ganz schien Aemilius noch nicht über die Niederlage vor Gericht hinweggekommen zu sein. Doch schien er sich hier in etwas zu verrennen.


    "Ich gebe dir noch einen zweiten Tipp. Und der ist sogar noch wichtiger als der erste. Man kann glauben, was man mag, aber vor Gericht zählen nur Beweise. Deshalb rate ich dir, niemals jemanden anzuklagen, wenn du keine Beweise hast. Und je mächtiger die Person ist, die du anklagen willst, umso besser müssen deine Beweise sein."


    Der Tipp war freundlich gemeint und auch genauso ausgesprochen.


    "Nun gut, wollen wir uns nach diesen Praxistipps wieder der Auslegungslehre widmen? Oder hast du noch Fragen zu den Praxistipps?"


    Natürlich würde ich auch gerne weitere Praxistipps geben, auch wenn es den Cursus etwas aufhalten würde.

    "Falls du den Prozess meinst, den du gegen den mutmaßlichen Geldfälscher angestrengt hattest, muss ich dir leider sagen, dass es nicht unbedingt eine Gesetzeslücke war, sondern vor allem juristische Fehler, die du gemacht hattest. Du erinnerst dich vielleicht, dass ich den Angeklagten verteidigte."


    An den Namen meines Mandanten erinnerte ich mich allerdings nicht mehr.


    "Wenngleich ich deine Verurteilung auch nicht wirklich nachvollziehen konnte und auch immer noch nicht kann. Was auch immer den Praetor Peregrinus da geritten hat. Wie dem auch sei, in diesem Kurs wirst du auf jeden Fall alle Kenntnisse erwerben, damit dir so etwas nicht noch einmal passiert. Vielleicht ein wichtiger Tipp an dieser Stelle: Advokaten sollten niemals persönlich involviert sein. Deshalb rate ich ganz dringend dazu, niemals sich selbst zu vertreten. Das Geld für einen Advokaten, der einen vertritt, zahlt sich fast immer aus. Man kann ja im Vorfeld mit dem Advokaten die Strategie ausarbeiten. Aber vor Gericht sollte man den Advokaten reden lassen, außer bei der eigenen Aussage, wenn man als Zeuge gerufen wird."

    "Ja, das Thema ist interessant. Vielleicht können wir zu einem späteren Zeitpunkt einmal darüber diskutieren, vielleicht an einem gemütlicheren Ort."


    Ich sammelte kurz meine Gedanken, um geordnet fortzufahren.


    "Kommen wir nun zu weiteren Regeln der Auslegung, die wichtig sind. Manchmal kann es vorkommen, dass ein Fall nicht gesetzlich geregelt ist. Wir sprechen dann von einer Gesetzeslücke. Wenn wir auf eine Gesetzeslücke treffen, müssen wir zuerst ermitteln, ob sie möglicherweise beabsichtigt ist. Eine beabsichtigte Gesetzeslücke hat der Gesetzgeber deshalb offen gelassen, weil er diesen Sachverhalt für nicht regelungsbedürftig hielt. In diesem Fall sollen die Betroffenen eigenständig eine Regelung finden. Das kann auch vor Gericht sein. In diesem Fall muss der Richter eine Regelung finden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass ein vernünftiger Ausgleich der Interessen der Betroffenen gefunden wird. Gerne wird gesagt, dass mit einem solchen Ausgleich alle zufrieden sein sollen. Realistisch liegt ein fairer Ausgleich dann vor, wenn alle Betroffenen unzufrieden sind."


    Ich grinste kurz.


    "Allerdings sind solche beabsichtigten Lücken eher selten. Meistens sind Gesetzeslücken unbeabsichtigt. Dann sollten wir uns zuerst unsere Traditionen, vor allem den Mos Maiorum, ansehen. Wenn sich die Lücke so nicht schließen lässt, muss man sich in allen Gesetzen umsehen. Wenn es einen ähnlichen Sachverhalt gibt, der in einem anderen Gesetz geregelt ist, dann können wir eine Analogie herstellen. Aus dieser Analogie wird dann auch die Regelung abgeleitet. Am besten übernimmt man die analoge Regelung komplett. Wenn es weder nach Mos Maiorum, noch nach Analogie eine Regelung gibt, können wir uns noch die gesammelten Urteile der Prätoren ansehen. Dort könnte es einen, wenigstens analogen, Präzedenzfall geben. Falls es den auch nicht gibt, bleibt als letzte Möglichkeit die Füllung der Lücke im Sinne des Zwecks des Gesetzes, in dem die Lücke ist. Gibt es Fragen zu Gesetzeslücken?"

    Ich nickte zustimmend.


    "Die Prozessfähigkeit ist zweifellos ein wichtiger Zweck dieser Rechtsnorm. Bedenkt man, dass Rom damals nur eine Polis war und kaum Peregrini in der Stadt lebten, so wird klar, dass man eigentlich nur Römer als Bürgen belangen konnte. Es handelt sich demnach um einen Schutzzweck für die Gläubiger."


    Nach einer kurzen rhetorischen Pause fuhr ich fort.


    "Allerdings erklärt es nicht, warum für einen Proletarius jeder Bürge sein kann, der es will. Hier muss noch ein weiterer Zweck vorliegen. Betrachten wir dazu die damalige Verfassung der Res Publica, die ich ab sofort als Res Publica Antiqua bezeichnen möchte. Die bedeutendste Macht bei Wahlen hatten die Comitia Centuriata. Sie wählten die Konsuln und die Prätoren. Sie gewährten also Macht, die mit Imperium verbunden war. Außerdem wählten sie alle fünf Jahre die Censoren. In den Comitia Centuriata waren alle römischen Bürger einer Centuria zugewiesen. Patrizier und Ritter stellten 18 Centuriae, schwere Fußsoldaten, also vermögende Bürger, die keine Ritter waren, stellten 80 Centuriae der Prima Classis, und insgesamt gab es 193 Centuriae. Jede Centuria hatte eine Stimme. Die Besitzlosen, also die Proletarier, stellten genau eine Centuria. Bedenkt man dieses, so wird schnell klar, dass es auch um den Schutz der Res Publica Antiqua ging. Ein Bürge hat, wie du bereits festgestellt hattest, auf denjenigen, für den er sich verbürgt, einen Einfluss, der dem eines Patrons auf seinen Klienten entspricht. Wenn man zugelassen hätte, dass Peregrini für vermögende Bürger bürgen dürfen, hätte das ihnen einen ernsthaften Einfluss auf die Stimmen in den Comitia Centuriata gegeben. Bei den Proletariern war das unkritisch. Was konnte eine Centuria schon ausrichten? Außerdem erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass man für einen Vermögenslosen bürgt."


    Nach einem Schluck Wasser sprach ich weiter.


    "Wie wir an diesem Beispiel gesehen haben, kann die Auslegung nach dem Wortlaut bereits Schwierigkeiten bereiten. Im Beispiel haben wir das am Wort 'Ansässiger' gesehen. Wir haben aber auch gesehen, dass die Auslegung nach dem Zweck noch schwieriger sein kann. Den Hauptzweck, nämlich den Schutz der Gläubiger, konnten wir noch gut erkennen. Den Nebenzweck aber, nämlich ausländischen Einfluss auf die Res Publica Antiqua zu verhindern, konnten wir nur nach einer Erörterung der Verfassung der Res Publica Antiqua erkennen. Deshalb sollten wir grundsätzlich nicht nach dem Zweck, sondern nach dem Wortlaut auslegen. Nur in den Fällen, wenn die Auslegung nach dem Wort zu einem widersinnigen Ergebnis führt, sollten wir nach dem Zweck auslegen. Hast du hierzu Fragen?"

    "Das ist die Definition eines Ansässigen, die wir jetzt haben. Das Zwölftafelgesetz stammt aber aus einer anderen Zeit. Damals war Rom noch eine Polis und kein Imperium. Es gab kaum Peregrini in Rom. Deshalb ist der Begriff 'Ansässiger' als 'ansässig in Rom' zu verstehen. Das bedeutet, dass nur römische Bürger 'Ansässige' im Sinne der Lex XII Tabularum sind. Wie man sehr schön sieht, gibt es hier einen Wandel der Bedeutung des Wortes. Demnach bedeutet dieser Spruch, dass einem Römer nur ein Römer Bürge sein kann."


    Ich ließ eine kurze Pause, um das Gesagt sacken zu lassen.


    "Wir können zur Sicherheit auch noch eine weitere Wissensquelle zu Rate ziehen. Bei der Lex XII Tabularum handelt es sich um quiritisches Recht. Es gilt nur für Quirites, also Bürger Roms. Wenn es aber quiritisches Recht ist, dann können mit 'Ansässigen' nur Römer gemeint sein."


    Schließlich wollte ich mich noch dem letzten Teil der Antwort des Secundus widmen.


    "Über Stellung und Einkommen sagt dieser Spruch nichts aus. Genauer gesagt, der erste Satz des Spruches, mit dem wir uns beschäftigt haben. Der Spruch hat aber noch einen zweiten Satz: PROLETARIO IAM CIVI QUIS VOLET VINDEX ESTO.* Für einen Proletarier soll also jeder andere Römer bürgen können. Zwar ist nicht definiert, dass es sich um einen Bürger einer höheren Klasse handeln muss, doch macht dieser Satz keinen Sinn im Kontext des Spruchs, wenn ein Proletarier für einen Proletarier bürgen könnte. Dass nur der bürgen kann, der über genügend Vermögen verfügt, um die Bürgschaft abzusichern, ist hier nicht schriftlich fixiert. Das ist aber gesunder Menschenverstand und wurde deshalb nie in Zweifel gezogen. Dass man einen Bürgen normalerweise nicht benötigt, wenn man selbst über genügend Vermögen verfügt, ist ebenso logisch. Insofern ist deine Antwort natürlich absolut richtig. Ich wollte das nur einmal anhand des Gesetzestextes herausstellen. Zusammengefasst heißt es also, dass nur Römer für Römer bürgen können und nur der Vermögendere für einen Ärmeren. Zu guter Letzt noch eine Frage zum Zweck. Warum sollen nur Römer für andere Römer bürgen können? Bedenke dabei auch, dass Rom damals nur eine Stadt mit etwas Land drunherum war und kein Imperium."


    Sim-Off:

    *Einem Bürger der untersten Klasse (Proletarius = Angehöriger der untersten Zenturie der Comitia Centuriata, den Besitzlosen) soll Bürge sein, wer es sein will.

    "Nun, dann können wir ja eine einfache Übung machen. In Tabula I, Lex XII Tabularum, finden wir folgenden Spruch: ASSIDUO VINDEX ASSIDUUS ESTO.* Was ist mit dem Wort 'Ansässiger' gemeint?"


    Sim-Off:

    *Einem Ansässigen sei auch ein Ansässiger Bürge.


    Ich war mir nicht wirklich sicher, ob er verstanden hatte, ließ mir aber nichts anmerken. Stattdessen kam ich zum eigentlichen Thema.


    "Kommen wir dann also zur Auslegung der Gesetze. Die Gesetzesauslegung erfolgt nach den Regeln, die von Juristen allgemein anerkannt sind. Hält man sich an diese Regeln, so wird die eigene Argumentation akzeptiert. Weicht man davon ab, so muss man damit rechnen, dass die eigenen Argumente nicht akzeptiert werden. Die erste und grundlegendste dieser Regeln ist sehr einfach: Der Wortlaut des Gesetzes gibt genau das wieder, was der Gesetzgeber sagen wollte. Man hat also grundsätzlich nach dem Wortlaut auszulegen. Bei neueren Gesetzen ist das einfach. Bei älteren Gesetzen ist es oft schwierig. Das liegt daran, dass sich die Sprache über Jahrhunderte wandelt. Dadurch kann sich die Bedeutung von Worten ändern. Und manchmal verstehen wir die alten Texte kaum noch, so wie der Liedtext des Carmen Saliare heute für viele kaum noch verständlich ist, weil diese Form des Latein nicht mehr gesprochen wird. Das kann einem auch bei sehr alten Gesetzen passieren, vor allem im Pontifikalrecht."


    Dadurch, dass ich einen Schluck Posca zu mir nahm, ließ ich Aemilius kurz Zeit, das Gesagte in seinem Geist zu verankern.


    "Was machen wir aber, wenn sich die Bedeutung einiger Worte gewandelt hat? Es gibt einige Herangehensweisen. Die beste Möglichkeit ist es, die ursprüngliche Bedeutung herauszufinden und anzuwenden. Das kann durchaus gelingen, beispielsweise durch die Verwendung eines Gesetzeskommentars, in dem diese festgehalten wurde. Der geübte Jurist zitiert dann das Gesetz und formuliert es so um, dass die ursprüngliche Bedeutung in moderner Sprache erklärt wird. Aber was, wenn man die ursprüngliche Bedeutung nicht mehr herausfinden kann? Dann hilft uns unser Rechtsempfinden. Der Mos Maiorum ist die übliche Quelle unseres Rechtsempfindens. Daher wird das Gesetz so ausgelegt, dass die moderne Bedeutung der Worte mit dem Mos Maiorum in Einklang gebracht wird. Das Ergebnis sollte fast immer vertretbar sein. Eine letzte Herangehensweise ist die Auslegung des Gesetzes nach seinem Zweck. Wenn die beiden anderen Herangehensweisen nicht zu einem vertretbaren Ergebnis führen, kann man immer nach dem Zweck auslegen. Dazu werde ich aber später noch mehr erzählen. Gibt es bis hierhin Fragen?"

    "Nun denn. Das heutige Thema ist die Auslegung von Gesetzen. Diese ist von größter Bedeutung für die Arbeit als Jurist. Das liegt daran, dass wir als Juristen argumentieren müssen, warum ein gewisser Sachverhalt verboten oder erlaubt ist oder warum welche Strafe verhängt werden sollte. Das stärkste Argument ist aber das Gesetz. Der Gesetzgeber hat aber ein Grundproblem: Man muss die gesetzlichen Regelungen einerseits präzise genug fassen, damit es keine Willkür gibt. Wir haben ja gelernt, dass Gesetze festgelegte Regeln sind. Durch die Festlegung von Regeln soll Willkür verhindert werden. Andererseits muss ein Gesetz aber auch flexibel genug sein, um leichte Variationen eines geregelten Sachverhalts zu erfassen. Schließlich bildet ein Gesetz immer einen idealtypischen Fall ab. In der Realität wird ein Fall aber nur sehr selten genau so aussehen, wie sich das der Gesetzgeber gedacht hat. Es gibt leichte Abweichungen. Die müssen aber dennoch erfasst werden, weil sonst bereits eine geringe Abweichung dazu führt, dass der Fall auf einmal ungeregelt ist. Die Flexibilität führt aber dazu, dass das Gesetz ausgelegt werden muss, um eine Unterordnung eines Sachverhalts unter eine gesetzliche Regelung zu ermöglichen. Und genau das wollen wir heute lernen. Ist bis hierhin alles klar?"


    Mir war bewusst, dass wir uns hier auf ein sehr abstraktes Gebiet begaben. Doch dieses Gebiet war leider der Kern juristischer Tätigkeit.

    Da konnte man wohl nichts machen.


    "Wahrscheinlich ist ihm etwas Dienstliches dazwischen gekommen. Nunja, da kann man nichts machen. Immerhin wird er auch alles in dem Buch zur Gesetzesauslegung nachlesen können, da muss Matinius dann eben mehr im Selbststudium lernen und eventuell einen von uns fragen."


    Nach dieser kurzen Bemerkung schien es mir sinnvoll, mit der Lektion zu beginnen. Bei einem kostenpflichtigen Kurs hätte ich wohl noch etwas gewartet, aber da mein Kurs kostenlos war, gab es dafür keinen Anlass.


    "Wollen wir anfangen?"

    Es freute mich, dass ich Secundus mit meiner Widmung anscheinend eine Freude gemacht hatte. Allerdings fehlte noch jemand.


    "Aemilius, auch wenn ihr beide in unterschiedlichen Einheiten dient: Weißt du zufällig, wo Matinius steckt?"