Beiträge von Aulus Iunius Tacitus

    "Rom ist besonders. Es gibt keinen zweiten Ort, der so ist."


    Gut, das traf auf fast jeden Ort zu.


    "Was ich meine, ist, dass Rom die zivilisierteste Stadt der Welt ist. Die Hauptstadt der Welt. Die Stadt, die ewig sein wird. Aber deshalb sollten wir nicht vergessen, auch das zu schätzen, was uns die Welt sonst noch bietet. Die Welt ist voller Wunder. Manche sind offensichtlich, andere muss man suchen. Vielleicht hast du die Wunder Mogontiacums noch nicht gefunden?"


    Dabei lächelte ich sie aufmunternd an, während wir in den Eingangsbereich der Basilica betraten. Ich wollte nur einen Blick in das Gebäude erhaschen, so dass ich keine Anstalten machte, weiter hineinzugehen.

    "Das klingt doch interessant. Das habe ich Ägypten auch gesehen. Dort wurde mit Serapis ein Gott verehrt, der sowohl hellenistisch, als auch ägyptisch war. Mit diesem Gott wurden beide Welten vereint und die Ägypter haben sich der Herrschaft der Griechen und dann unserer Herrschaft gefügt. Und letztlich weiß ja auch niemand, wie genau die Götter aussehen. Sie können sich nach Belieben verwandeln. Deshalb kann es durchaus sein, dass sie hier ihre Form anpassen und in einer Form erscheinen, die den Barbaren vertrauter ist, damit Frieden herrscht."


    Ob das stimmte, konnte ich nicht sagen.


    "Ich bin natürlich kein Pontifex, sondern nur ein einfacher Philosoph. Aber es erscheint mir logisch."


    Natürlich waren die Götter nicht immer logisch, aber zumindest bei Minerva konnte ich klare Logik annehmen.

    Zwar nahm ich wahr, dass ihr der barbarische Einfluss nicht unbedingt gefiel, doch war meine Neugierde geweckt.


    "Etwas anders, als in Rom? Das klingt doch interessant. Jedenfalls aus einer rein wissenschaftlichen Sicht."


    Während ich sprach, ging ich neben ihr her in Richtung der Basilica Germanica.

    "Vor allem finden wir dort eine Taberna, die ich schon vor meiner Reise reserviert habe. Es lohnt sich, die richtigen Leute zu kennen. Beispielsweise einen Mandanten, dessen Schwager zufällig für die Verwaltung der Tabernae in dieser Basilika zuständig ist."


    Ja, durch meine Tätigkeit als Advocatus kannte ich recht viele vermögende und einflussreiche Personen.


    "Allerdings kann ich sie noch nicht übernehmen, weil ich schneller hier angekommen bin, als erwartet. Welche Tempel gibt es hier eigentlich?"

    "Abgebrannte Ruinen sind super! Das ist wie in Rom."


    Dabei musste ich laut lachen, obwohl es sicher für die Bewohner der Insulae Roms, die öfter einmal abbrannten oder einfach so einstürzten, überhaupt nicht lustig war.


    "Ist das da die Basilica Germanica?"

    Ich zog eine Augenbraue hoch, als sie mich belehrte, nicht die ganze Welt mit Rom zu vergleichen.


    "Wie es scheint, hast du dich hier auch mit Philosophie beschäftigt. Jedenfalls war das ein sehr weiser Satz. Ich danke dir."


    Das tat ich wirklich. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass ich in nicht allzu ferner Zeit durch einen Zufall eine Reise in die weite Ferne antreten würde, dann hätte ich diesen Satz noch mehr zu schätzen gewusst.


    "Nun, ich bin gespannt, wie das Forum aussieht."


    Wie das Forum Pacis würde es wohl nicht sein, aber das war selbst für Rom speziell. Vielleicht war es gerade deshalb mein Lieblingsort in Rom.

    "Ich werde dich beim Wort nehmen, Matinius."


    Vielleicht würde ich einmal einen Kommentar zum Codex Militaris verfassen.


    "Etwas habe ich allerdings noch für euch beide."


    Ich ging zum Regal und holte aus einem Sack zwei Bronzetafeln heraus. Es waren Diplomae. Ich nahm die erste Tafel und las den Text vor.


    "Dem Nero Aemilius Secundus, gewesener Vigintivir Roms, Tribunus Laticlavius der Legio XXII Primigenia und Patrizier Roms, wird hiermit die erfolgreiche Teilnahme am Cursus Iuris bestätigt, den der Advocatus Aulus Iunius Tacitus im Jahre DCCCLXXIV A.U.C. gehalten hat. Er beherrscht die Grundlagen von Gesetzgebung und Wirksamkeit von Gesetzen, die Grundlagen der Auslegungslehre und die Grundlagen der Prozessführung und wurde den strengen Anforderungen des Lehrers gerecht."


    Dann überreichte ich die Diploma an Secundus.


    "Ich gratuliere."


    Dann nahm ich die zweite Diploma und verlas den Text.


    "Dem Publius Matinius Sabaco, Decurio der Ala I Aquilia Singularum, wird hiermit die erfolgreiche Teilnahme am Cursus Iuris bestätigt, den der Advocatus Aulus Iunius Tacitus im Jahre DCCCLXXIV A.U.C. gehalten hat. Er beherrscht die Grundlagen von Gesetzgebung und Wirksamkeit von Gesetzen, die Grundlagen der Auslegungslehre und die Grundlagen der Prozessführung und wurde den strengen Anforderungen des Lehrers gerecht."


    Dann überreichte ich diese Diploma an Sabaco.


    "Ich gratuliere."

    Von der Via Borbetomaga kommend waren Matidia und ich inzwischen in der Stadt Mogontiacum angekommen. Die Canabae lagen noch außerhalb der Mauern, aber wenigstens sah es nach Stadt aus. Jedenfalls grob, kein Vergleich zu Rom.


    "Auf dem Weg zur Domus Iunia bin ich hier vorbeigekommen. Hier nennt man es eine Stadt, in Rom wäre es nicht einmal ein Bezirk."


    Das war noch nicht einmal abwertend gemeint, sondern eine reine Darstellung der Fakten. Ich war eben ein Großstadtmensch.


    "Wollen wir zum Forum gehen? Das kann ja nicht allzu weit sein."


    Mit etwas Glück hatten sogar schon Geschäfte geöffnet, obwohl es noch recht früh war. Wir waren ja zeitig aufgebrochen.

    Über diese Worte freute ich mich sehr.


    "Ich danke dir, Aemilius Secundus. Falls du einmal eine zweite juristische Meinung benötigst, kannst du dich gerne an mich wenden."


    Ich wandte mich an Sabaco.


    "Das gilt natürlich auch für dich, Matinius Sabaco."


    Dann wandte ich mich an beide.


    "Für die guten Diskussionen möchte ich euch beiden danken. Ich habe auch von euch gelernt."

    Dann war die Gerichtsverhandlung soweit abgeschlossen.


    "Nun, meine Herrschaften, dann haben wir es geschafft. Ihr habt die Grundlagen des Rechtswesens und der Auslegungslehre gelernt und eine Gerichtsverhandlung simuliert. Die Praxis könnt ihr nur in echten Prozessen lernen. Ich will hier noch ein paar Ratschläge geben. Achtet immer genau darauf, die anwendbaren Gesetze zu zitieren. Wenn ihr Kläger seid, fordert ihr die gesetzliche Höchststrafe, aber ihr geht nicht über das Gesetz hinaus. Auch dann nicht, wenn euch die Strafe ungerecht niedrig vorkommt. Wenn ihr Verteidiger seid, fordert ihr Freispruch. Wenn offensichtlich ist, dass euer Mandant schuldig ist, fordert ihr die gesetzliche Mindeststrafe und appelliert an die Milde des Gerichts. Wenn ihr die Gelegenheit habt, einen erfahrenen Advocatus vor Gericht als Assistent zu begleiten, solltet ihr sie nutzen. Ein Tirocinium Fori bei einem Praetor bietet sich auch an."


    Nach diesen Tipps gab es nur noch eins zu tun.


    "Gibt es noch Fragen zur Juristerei? Noch sitzen wir hier und können diskutieren."

    Ich ignorierte den ärgerlichen Blick, den Scato Terpander hinterhergeworfen hatte. Das war sein Sklave, nicht meiner. Mir war durchaus bewusst, dass ich meine Sklavin nicht im Griff hatte, aber das war durch die Entsendung nach Sizilien gelöst worden. Ich fragte mich, ob sie noch lebte.


    "Mir werden meine Verwandten auch fehlen. Ich muss sagen, dass du mir von Anfang an das Gefühl gegeben hast, hier zu Hause zu sein. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich werde versuchen, zu schreiben, doch fürchte ich, dass Briefe auf einer so langen Strecke, noch dazu außerhalb des Imperiums, wahrscheinlich verloren gehen. Aber wer weiß, vielleicht klappt es ja. Auf jeden Fall werde ich sehen, ob ich nicht ein paar schöne Geschenke mitbringen kann."


    Und dann gab es noch zwei Kleinigkeiten.


    "Es gäbe da noch zwei Dinge, um die ich dich bitten müsste. Erstens, sag bitte weder meiner Schwester, noch meiner Mutter, was ich vorhabe. Du kannst ihnen sagen, dass ich auf eine Forschungsreise gehe und deshalb nur schwer zu erreichen sein werde. Aber bitte sage ihnen nicht, dass ich das Imperium Romanum verlasse. Versprichst du mir das?"


    Matidia würde schon die längere Abwesenheit nicht gut aufnehmen. Aber das Ausmaß der geplanten Reise würde sie sicher völlig verzweifeln lassen. Und meine Mutter war noch zu geschwächt, um solche Nachrichten verarbeiten zu können.

    Als Scato den Blick abwendete, war ich mir nicht sicher, ob er so eine gewisse Trauer um meinen Weggang zu verbergen suchte. Da würde ihm die Antwort auf seine Frage nach der Dauer sicher nicht gefallen.


    "Den Weg bis Alexandria Eschate schätze ich auf grob ein halbes Jahr. Von da aus muss ein Gebirge bezwungen werden und wie lange es danach noch dauert, vermag ich nicht zu sagen. Realistisch würde ich die Reise auf zwei bis drei Jahre schätzen. Vielleicht auch länger, weil ich in unbekanntes Gebiet aufbreche. Dazu kommt noch, dass ich nicht weiß, was es alles im Land der Serer zu entdecken gibt. Andererseits reichen meine Ressourcen auch nur begrenzt. Deshalb denke ich, dass ich nach spätestens fünf Jahren wieder zurück sein werde. Was meine Ausrüstung anbetrifft, so bin ich erst einmal gut ausgestattet. Auf der Reise werde ich alles Notwendige kaufen oder eher erhandeln. Ich habe nicht vor, allzu viel Edelmetall mitzunehmen, sondern eher Waren, die im Osten gutes Geld bringen. Den Rückweg will ich ebenso finanzieren."


    Dass ich bei einer Fehlkalkulation wahrscheinlich pleite sein würde, war mir klar. Aber das musste ich ja nicht erwähnen. Die nächsten Fragen waren einfacher zu beantworten, weil es dort weniger Ungewissheit gab.


    "Cappadocia werde ich wahrscheinlich umschiffen. Ich werde eher über Syria reisen, durch Antiochia am Orontes. Die Stadt wollte ich ohnehin einmal sehen."


    Nach einem Schluck Tee, den ich zum kurzen Nachdenken verwendete, sprach ich weiter.


    "Zeichnen kann ich, aber nicht malen. Für eine wissenschaftliche Arbeit sollten Zeichnungen aber auch genügen. Und ja, das könnte die Arbeit aufwerten. Den Rückweg werde ich auf jeden Fall mit einem Stopp im Museion planen. Dort sollen meine Arbeiten kopiert werden. Vielleicht fertige ich sie auch direkt in doppelter Ausführung an."


    Dabei lächelte ich selbstbewusst. Dass Terpander meine Kleidung richtete, ignorierte ich.


    "Was die Rückreise anbetrifft..."


    Tja, wie sollte ich das jetzt vernünftig ausdrücken?


    "Mir ist bewusst, dass eine solche Reise gefährlich ist. Stürme auf See, Wüsten, die Durchquerung von Flüssen, Steinschläge, Lawinen, ganz zu Schweigen von Räubern und anderem Gesindel, das alles sind ernstzunehmende Gefahren. Ich werde mich natürlich Karawanen anschließen, um sicherer zu Reisen, aber ein Restrisiko bleibt. Falls ich es also nicht schaffe, innerhalb von zehn Jahren zurückzukehren, muss ich dich darum bitten, mich für tot erklären zu lassen."


    So, jetzt war es raus.

    Für einen Moment hielt ich den Becher nachdenklich in meinen Händen, bevor ich einen Schluck nahm. Ja, der Tee war gewöhnungsbedürftig, aber nur, weil ich den Geschmack nicht gewohnt war. Unangenehm schmeckte der Tee jedenfalls nicht.


    "Ich habe auf dem Markt eine Karte gefunden. Eine Karte der Wege vom östlichen Mittelmeer bis Alexandria Eschate."


    Nach einem weiteren Schluck Tee fuhr ich fort.


    "Das ist aber nicht das Besondere. Besonders ist, dass die Karte kommentiert ist. Mit Notizen in Latein und in Griechisch. Notizen zu Land und Leuten. Zu Wetter, Pflanzen und Bräuchen. Weißt du, was das heißt?"


    Das Leuchten in meinen Augen verbarg ich nicht. Ich hätte es auch gar nicht verbergen können. So lehnte ich mich nach vorne und sprach mit leiser, fast flüsternder Stimme.


    "Die Kommentatoren waren dort! Es sind echte Aufzeichnungen von echten Reisenden. Und dann, hinter Alexandria Eschate, ist ein Gebirge eingezeichnet. Dort steht auch ein Kommentar. Dort steht: 'Dahinter das Land der Serer?' Da steht eine Frage. Man weiß es nicht. Niemand weiß es, niemand war je da. Scato, Minerva hat mir damit ein Zeichen geschickt."


    Ich lächelte nun auch, aber es war ein verklärtes Lächeln.


    "Das könnte mein Beitrag zur Forschung des Museions sein. Ich habe das Geld, um eine solche Reise zu wagen. Ich bin ungebunden, ohne Ehefrau. Ich glaube, Minerva will, dass ich das Unbekannte, die Erzählungen, das Hörensagen, mit Fakten fülle. Scato, ich werde nach Osten reisen. Meine Sachen sind schon fast komplett gepackt."


    Nun zeigte mein Gesicht Entschlossenheit.

    "Natürlich kannst du diskutieren. Was nun deine jetzigen Ausführungen zur Kollektivstrafe betrifft... hmm..."


    Ich dachte nach und man sah mir an, dass mir etwas klar wurde.


    "Ehrlicherweise bin ich nicht unbedingt ein Experte für das Verwesen von Leichen. Oder anders gesagt: Meine Kenntnisse habe ich aus Alexandreia. Da ist es um einiges wärmer als hier und die Zeiträume dort sind sicher andere, als hier. Mit diesen Informationen, auch der Information, dass es die Kameraden waren, die die Leiche gefunden haben, sieht die Sachlage natürlich anders aus. In einer Appellatio würde das Gericht diese sicher würdigen und anerkennen, dass die Kameraden sich angemessen bemüht haben. Dann wäre eine Kollektivstrafe aber unverhältnismäßig und müsste revidiert werden."


    Nach einem kurzen Lächeln nutzte ich das, um eine Anmerkung zu machen.


    "Bitte gut merken: Vor Gericht sollte man den Sachverhalt immer so ausführlich, wie irgendwie möglich, schildern. Das verhindert Missverständnisse und Fehlurteile."

    "Ich weiß nicht, wie es in der Militärgerichtsbarkeit üblich ist, aber außerhalb des Militärs gibt es nach einem gesprochenen Urteil nur noch die Möglichkeit der Appellatio. Aber ich will nicht so sein und deine Argumente würdigen, Matinius."


    Immerhin war ich kein Richter und das hier war eine Übung.


    "Leider sehe ich deine Einwendung anders, nach der es sich lediglich um ein disziplinarisches Vergehen handelt, eine Leiche einzunähen. Vielmehr könnte man hier berechtigt von der Vertuschung einer Straftat, beispielsweise einer gesetzeswidrigen Tötung, handeln. Bis dieses aufgeklärt ist, besteht ein berechtigtes Interesse einer Verwischung von Spuren effektiv entgegen zu wirken. Daher sollte Lucius zusammen mit seinen Kameraden keine entsprechende Möglichkeit eingeräumt werden. Der Arrest kann daher auch so umgesetzt werden, dass außerhalb der Dienstgeschäfte die Soldaten ihre Zeit in ihrem Contubernium zu verbringen haben. Das gilt sowohl für Lucius, als auch für seine Kameraden, deren Mitwisserschaft nicht ausgeschlossen werden kann. Alle sind unverzüglich zu befragen und, wenn sich binnen drei Tagen keine Anhaltspunkte für eine Mitwisserschaft über die Herkunft der Leiche finden, vom Arrest zu befreien. Lucius ist dann zu befreien, wenn sich keine Anhaltspunkte für ein gesetzeswidriges Tötungsdelikt finden lassen."


    Damit war der Punkt des Arrests für mich abgeschlossen.


    "Über sakrale Grenzen eines Militärlagers könnten wir nun in eine längere theologische Diskussion eintreten, was aber nicht zielführend ist und auch nicht notwendig, da wir uns bei dem Sühneopfer grundsätzlich einig sind. Allerdings sehe ich, anders als du, eine Kollektivstrafe als angemessen an. Der Gestank hielt sich ja für eine längere Zeit und die Quelle des Gestanks wäre bei einer gründlichen Ursachensuche der Kameraden des Lucius durchaus lokalisierbar gewesen. Ich an deren Stelle hätte jeden Digitus des Contuberniums nach der Quelle durchsucht. Und den Göttern ist es reichlich egal, ob jemand unmittelbarer Mitverursacher oder nur Teil der Gemeinschaft des Verursachers ohne aktiven Beitrag ist. Sonst hätten sie nicht ganz Troja für die Verfehlung des Paris fallen lassen. Das heißt, dass die Kollektivstrafe bestehen bleibt. Wobei deine Abmilderung einem Pontifex vorzulegen und von diesem zu bewerten wäre."


    Hier waren die Pontifices besser geeignet, den Willen der Götter zu erkunden, als ein Philosoph, ein Senatorenspross und ein Decurio.

    Ich hatte mir alles angehört. Secundus war recht aufbrausend, was ihm irgendwann einmal zum Verhängnis werden würde. Für die aktuelle Übung war das aber irrelevant.


    "Die Anklage stützt sich auf zwei Punkte. Einerseits die Herkunft des Leichnams, und andererseits einen Leichenfrevel. Die Verteidigung verneint eine Rechtsgrundlage zur Klage. Was die Ermittlung der Herkunft der Leiche anbetrifft, so ist ein Gericht noch nicht zuständig. Dieses bedarf weitergehender Ermittlungen, welche in der Kompetenz der verantwortlichen Offiziere liegen. Die Anweisung, Lucius und seine Kameraden zu arrestieren, wird noch von der Befehlsgewalt eines direkt vorgesetzten Offiziers gedeckt. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dies sei der Fall. Der Arrest während der Untersuchung erscheint somit gerechtfertigt. Eine Unterbrechung des Prozesses wäre nicht gerechtfertigt, vielmehr wäre bei einer Herkunft der Leiche aus einer Straftat erneut Klage mit konkreter Benennung der Straftat einzureichen. Für den ersten Punkt ist die Abweisung der Klage somit erfolgreich, weil der Sachverhalt noch nicht klagereif ist."


    Nachdem ich so beiden im ersten Punkt Recht geben musste, ging es um den zweiten Punkt.


    "Allerdings lässt sich die Klage für den zweiten Punkt nicht abweisen. Zweifelsfrei wurde eine Leiche im Contubernium des Lucius über einen längeren Zeitraum aufbewahrt. Hier ließe sich eine Analogie zu Tabula X, Lex XII Tabularum, herstellen. Das Verbot, einen Toten innerhalb der Stadt zu begraben, ist in diesem Fall weit auszulegen, da auch die Aufbewahrung im Contubernium als Begräbnis zu werten ist und das Feldlager durchaus als einer Stadt gleich zu betrachten ist. Allerdings wurde keine Klage auf Grund eines Verstoßes gegen Tabula X, Lex XII Tabularum, erhoben. Dies führt aber nicht zu einer Abweisung der Klage, da als Klagegrund ein Leichenfrevel genannt wurde. Dieser findet sich im Pontifikalrecht, aber auch im Mos Maiorum. Eine ordnungsgemäße Bestattung hat außerhalb des Pomeriums oder anderer sakraler Grenzen, zu denen auch die Grenzen eines Feldlagers gehören, nach angemessener Zeit nach Eintritt des Todes zu erfolgen. Wenn man sich also mehr als sieben Tage Zeit lässt und auch offenkundig plant, sich länger Zeit zu lassen, so begeht man einen Verstoß, der zur Gefährdung der Pax Deorum führt. Hiermit gefährdet man fahrlässig die Sicherheit der Einheit, vielleicht sogar des Imperium Romanum. Ein Vergehen gegen die Pax Deorum ist entsprechend der üblichen Rituale zu sühnen. Die Sühne soll geeignet sein, die Götter zu besänftigen. Daher soll Lucius dazu verurteilt sein, die Bestattung der Leiche vollumfänglich zu finanzieren. Außerdem soll Lucius den Göttern der Unterwelt auf eigene Kosten einen schwarzen Stier opfern. Durch die Mitwisserschaft des Contuberniums haben sich diese Kameraden ebenfalls schuldig gemacht. Daher wird der Rest des Contuberniums dazu verurteilt, kollektiv einen schwarzen Stier zur Besänftigung der Götter der Unterwelt auf eigene Kosten zu opfern."


    Ich sah beide an.


    "Fragen zu dem Urteil?"

    Der Codex Militaris war definitiv nicht meine Stärke. Aber das musste er auch nicht sein. Allerdings kam mir gerade eine Idee.


    "Nutzen wir das Ganze doch für eine praktische Übung. Aemilius, formuliere eine Klage gegen den Soldaten, der die Leiche gebunkert hat. Die Klage soll auf dem Codex Militaris basieren. Nennen wir den Soldaten einfach mal Lucius, damit wir auch einen Namen haben. Bedenke dabei, dass du die Klage begründen musst. Bedenke auch, dass du ein Strafmaß fordern und begründen musst. Matinius, du kannst dann eine Verteidigung für Lucius formulieren. Dein Vorteil ist, dass du auf die Formulierung der Klage reagieren kannst."


    Nachdem diese Form von Klageerhebung und Erwiderung klar formuliert wurde, blieb mir nur noch eins.


    "Aemilius, als Kläger hast du das Wort."

    Ich freute mich, dass meine Schüler auch untereinander eifrig diskutierten.


    "Ob die Dezimierung eine angemessene Strafe gewesen wäre, müsste nach den Umständen des Einzelfalles bemessen werden. Ganz unzweifelhaft ist aber Mitwisserschaft als Mittäterschaft zu werten. Wer einen Verstoß nicht meldet, macht sich mitschuldig. Und zum Schluss ist noch anzumerken, dass die Einschränkung des Beschwerderechts für Soldaten natürlich der Disziplin der Truppen dient. Der Kaiser muss der Ernennung eines jeden Offiziers zustimmen. Die Männer sind also persönlich vom Kaiser ernannt. Wenn man nun den Soldaten erlauben würde, die Führungskompetenz der Offiziere durch Beschwerden beim Kaiser zu hinterfragen, dann würde man ja faktisch behaupten, dass der Kaiser eine schlechte Auswahl treffen würde. Diese Vorstellung ist aber absurd! Also, ganz einfach, Offiziere führen die unteren Ränge und die unteren Ränge können sich bei ihren Offizieren beschweren, aber nicht beim Kaiser. Außerdem muss eine Armee vor allem eins: Funktionieren. Den einfachen Soldaten das Recht der Appellatio einzuräumen, würde die Effizienz der Führung verringern."

    Ich nickte.


    "Grundsätzlich ja, aber natürlich kann es auch sein, dass der Kaiser einen Fall wegen seiner Sachlage für so wichtig hält, dass er ihn selbst verhandeln möchte. Und die Appellatio steht im Prinzip jedem Bürger offen. Allerdings muss uns klar sein, dass sich der Kaiser nicht um jede Appellatio kümmern kann. Deshalb landen die Fälle zuerst in der kaiserlichen Kanzlei, werden dort von den zuständigen Beamten nach Bedeutung geordnet und mit Empfehlungen zur Ablehnung oder Annahme versehen an den Kaiser weitergeleitet. Man muss sich das so vorstellen, dass die Beamten die Vielzahl der Fälle prüfen und danach in Zusammenfassung dem Kaiser vorlegen. Dass ein Beamter dabei auch auf die Bedeutung der Person achtet, sollte logisch sein. Allerdings können durchaus auch Fälle von großem Interesse vorliegen, obwohl die beteiligten Personen völlig unbedeutend sind. Man muss sich aber im Klaren darüber sein, dass so etwas vielleicht bei einem Fall aus einer Million vorkommt, während Fälle mit bedeutenden Personen sehr oft auch von großem Interesse sind. Erstens, weil die Personen selbst von Interesse sind, und zweitens, weil bedeutende Personen auch mehr Schaden anrichten können, als unbedeutende Personen."


    Nun hatte ich recht viel gesagt, obwohl eine einfache Zustimmung auch gereicht hätte.


    "Betrachte meine etwas längere Antwort bitte als Vertiefung deiner Anmerkung. Wie gesagt, im Grundsatz richtig."


    Secundus würde bei seinem Verständnis der Juristerei sicher einmal einen guten Praetor abgeben. Natürlich vorausgesetzt, dass er sich dann noch an das Gelernte erinnerte.


    "Vielleicht noch ein wichtiger Hinweis für deine eigene Laufbahn: Je höher die Ämter, desto wichtiger sind gute Berater. Denn genau das sind auch die kaiserlichen Beamten: Berater, die dem Kaiser Detailarbeit abnehmen, damit er sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren kann."