Beiträge von Claudia Aureliana Deandra

    Ich schaute flüchtig auf, als Corvi mit seiner Sprechlawine begann, verzog aber alsbald schmerzhaft das Gesicht und senkte wieder den Blick. Nach kurzem konnte ich seine Fragen nicht mehr ertragen, hob die Hände und presste sie an die Ohren. Ich wollte nicht hören, was er zu sagen hatte – vor allem deswegen, weil es die ungeschminkte Wahrheit war, die ich doch so perfekt zu verdrängen wusste, wenn nur niemand daran rührte. Als er geendet hatte, sanken die Arme kraftlos herab und ein trauriger Blick streifte Corvi.


    „Was habe ich falsch gemacht, weil er mich so bestraft?“ Hatte er mir doch einst versprochen, mich bis zum Ende der Welt und wieder zurück mitzunehmen und hatte ich ihm doch zugesagt, immer an seiner Seite zu sein. Zwei Jahre waren seither vergangen.

    Es war selbst unter den engsten Verwandten nicht üblich, Zuneigung füreinander in derart direkter Weise zu zeigen. Ich wusste das und dennoch ließ ich ihn gewähren, fand es sogar schön, als ein Kuss meine Hand traf. Ein winziges Lächeln umspielte meinen Mund, weil der Druck in Brustkorb und Bauch einer Art von Ruhe gewichen war. Keiner, die den Herzschlag gänzlich beruhigte und auch keine in Form von Sicherheit, die ich früher als seine Schwester gespürt hatte, wohl aber die beruhigende Gewissheit, dass wir uns nicht verlieren würden, niemals.


    Flüchtig kam mir die Erkenntnis, dass es jede Frau schwer haben würde, die ihn einmal als ihren Gemahl bezeichnen konnte. Sie musste mich praktisch mitheiraten. Der Gedanke gefiel mir so lange, wie ich ihn aus der Sicht einer ehemaligen Schwester betrachtete. Er wurde in dem Augenblick unangenehm, als ich ihn mit Frauenaugen sah.
    Beschämt senkte ich den Blick, weil mir klar wurde, dass ich egoistische Züge besaß, dass ich im Grunde nicht willens war, ihn jemals vollkommen an eine andere abzugeben. Vielleicht würde ich die Götter um Beistand bitten müssen, damit ich ihn großzügigen Herzens wie jede andere Schwester sein Leben gestalten lassen konnte.


    Ich seufzte vernehmlich, schaute ihn wieder an und hörte irgendetwas von einem Tribun. Augenblicklich setzte mein Herzschlag aus. Tribunus – Legion – Sophus, die Verknüpfung schoss in Pfeilgeschwindigkeit durch meinen Kopf. Oh, ihr Götter! Wie konntet ihr mich IHN vergessen lassen? Abrupt stand ich wieder auf, strich nervös die Tunika glatt und starrte betreten auf den Fußboden, als ich mein Verhalten erklärte: „Er würde es nicht verstehen und auch nicht gutheißen.“ Mehr bekam ich nicht heraus.

    Verfolgt hier eigentlich jemand die Handball-WM? Die Spiele sind nicht minder spannend als die der Fußball-Jungs. Fast möchte ich sagen, es schlaucht noch mehr, weil es in einem Handballspiel ja keine Erholphasen gibt. Das Spiel am Dienstag war schon ein Nervenkiller und das heutige ist diesbezüglich kaum noch zu überbieten: Immer wieder und so andauernd im knappen Rückstand, zweimal Verlängerung und dann doch noch gewuppt, dank eines genialen Torwarts, des sicheren 7-Meter-Schützen Baur, super Einzelleistungen und einem tollen Publikum. Diese Turnierstimmung gleicht der vom Sommer und ich glaube an den Weltmeistertitel. :):dafuer:

    In dem Vertrauen, dass er schon Antwort und Lösung finden würde, legte ich meine Hände in seine, verfolgte das Streichen seines Daumens und ließ mich schließlich heranziehen. Bereitwillig setzte ich mich auf seinen Schoß, legte sogar eine Hand auf seine Schulter – für den ganzen Arm fehlte der Mut, weil die Atmosphäre insgesamt angespannt war.


    Während ich meine andere Hand, die er noch immer hielt, auf meinem Schoß betrachtete, hörte ich aufmerksam zu, was er zu sagen hatte. Seine Aussage bezüglich des Abgrunds stellte ich mir bildlich vor. Das Gefühl des Fallens musste furchtbar sein, ich konnte es nachvollziehen. Leider kam ich zu keinem Ergebnis, welche Art von Bemerkungen einen Absturz verursachen könnte. Was sollte denn jetzt noch passieren, die Adoption war doch schon vollzogen? Dass wir beide mit der Veränderung schlecht umgehen konnten, war offensichtlich.


    Und trotzdem … Bauchwand und Brustkorb zogen sich schmerzhaft zusammen, als er aussprach, nochmals bestätigte, dass etwas zwischen uns stand. Die Dinge selbst zu äußern, war tausendmal leichter als sie hören zu müssen. Betroffen schaute ich ihn an.
    Und wieso wollte er gehen? Bot es überhaupt an? Atmen fiel daraufhin schwer, weil sich Lasten auf meine Schultern legten. All das kam mir wie ein definitiver Abschied vor und den wollte ich nicht.


    Die nächsten Augenblicke waren so endlos wie stumm. Ratlosigkeit hielt sich mit Mutlosigkeit die Waage, bis ich mich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, deren Tragweite ich nicht einmal ansatzweise überblickte. Ich wusste nur, dass es in dem Moment für mich richtig war.
    Vorsichtig hob ich meine Hand, die er bereits mit dem Streicheln freigegeben hatte, verhielt kurz auf dem Weg zu seinem Gesicht, weil unvermutet und heftig Herzklopfen einsetzte, nahm dann aber doch allen Mut zusammen, denn uns sah ja niemand zu und er konnte das Pochen im Herzen zum Glück nicht hören – hoffte ich wenigstens. An seiner Stirn angelangt setzte ich nur zwei Fingerkuppen auf. Ich traute mir einfach nicht mehr und selbst das kam mir bereits wie eine verbotene Handlung vor.


    „Ich möchte nicht, dass du gehst“, flüsterte ich, während eine unerklärliche Kraft meine mutlose Hand über seinen Haaransatz streichen ließ.

    Stärke drückt sich nicht allein in Körpergröße aus – das wusste ich. Aber in Verbindung mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck, und den hatte Corvi gerade aufgesetzt, beeindruckte sie mich doch. Unter seinen scharfen Worten zuckte ich innerlich zusammen. Es lag nicht daran, weil ich generell schnell einzuschüchtern war, keineswegs. Für mich machte es erhebliche Unterschiede, wer jeweils mit mir in diesem Ton sprach. Bei Fremden oder nicht nahe stehenden Personen ließen mich Angriffe, Abfälligkeiten oder Zurechtweisungen kalt, nicht so bei Menschen, die mir wichtig waren. Ihnen gegenüber hatte ich meine sonst hilfreiche Schutzrüstung abgelegt. Daher gingen die sonst abprallenden Worte unter die Haut, oft drangen sie sogar tief.


    Bei jedem Angriff, der einen Treffer erzielte, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder man gab sich geschlagen oder schlug nochmals zurück. Mein Brustkorb hob sich, weil ich bereits zu einem verbalen Gegenangriff ausholte, dann aber hörte ich seine Worte, die besänftigend wirkten.


    „Ich habe ja auch nicht vor, mit dir zu streiten“, gab ich zerknirscht zu. „Ich freue mich doch sogar über deinen Besuch, aber etwa steht zwischen uns, merkst du das nicht?“


    Weil er sich wieder setzte, trat ich dichter an ihn heran und suchte bewusst den Blickkontakt. Offensichtlich war er genauso ratlos wie ich. Zumindest schien es so.


    „Herausfinden, ob man Veränderungen ablehnen oder akzeptieren kann? Und wie soll das gehen?“ Hatte man denn überhaupt eine Wahl? Ich wartete gespannt auf die Antwort, stellte aber auch sogleich Überlegungen an. Beim einsetzenden Grübeln wurde mir zudem klar, dass Corvi inzwischen beträchtlich gereift war. Ich konnte von ihm Lösungen erwarteten, obwohl er eigentlich der jüngere war.

    Auch wieder mehr oder weniger willenlos ließ ich Corvi gewähren, blickte ihn sogar kurzzeitig in die Augen, während er sprach, senkte aber anschließend den Blick. Fast zeigte seine einfühlsame Art Wirkung, weil sie mich an früher erinnerte, aber dann sprach er von Einsamkeit. Ich überlegte kurz, runzelte die Brauen, rückte nach wenigen Augenblicken von ihm ab und stand letztlich sogar auf. Sein halbherziges Lächeln, das ich bemerkte, als ich mich ihm zuwandte, bekräftigte meinen Gedanken, den ich aussprach, noch bevor seine letzten Worte zu mir durchdrangen. Es war nicht gewollt und doch blickte ich gerade von oben auf ihn herab. Fühlte ich mich so sicherer, bei dem, was ich zu sagen hatte?


    „Du hast dich doch sonst mit allerlei Geschöpfen amüsiert und dabei keine Langeweile oder Einsamkeit empfunden“, entgegnete ich in einem Tonfall, der patziger als gewollt ausfiel.
    Ich konnte mit dem mir vor Wochen anvertrauten Wissen einfach nicht umgehen und weil ich mit niemandem darüber sprechen konnte, drückte es mich ab. Es war mir zudem unmöglich, ihm dieses Fehlverhalten zu verzeihen. Warum das so war, darüber dachte ich nicht nach. Vielleicht wäre mir dann klar geworden, dass ich ihn nicht mit anderen teilen wollte, weil aber dieser Gedanke über meinen wenn auch ehemaligen Bruder derart absurd war, blieb er in der hinterste Ecke meines Kopfes versteckt, von wichtigeren Dingen überlagert und unbewusst verdrängt.


    Erst langsam kamen mir seine letzten Worte in den Sinn und es dauerte zudem gewisse Zeit, bis ich in der Lage war, darauf einzugehen.


    „Ich würde ja nicht jammern, wenn mir die Veränderung gut tun würde, aber das ist nicht der Fall. Deswegen wiegt der Verlust schwer“, sagte ich schließlich resigniert.

    „Keinen Grund? Doch, ich habe dich enttäuscht.“


    Sein Verhalten ließ mich zu dieser Annahme kommen, die ausweichende Antwort tat ihr Übriges. Ich ließ mich widerstandslos umarmen, aber die beruhigende Wirkung blieb aus. Wie schon oft in den letzten Tagen, spürte ich dieses unbewegliche Gesicht, das scheinbar unfähig war, ein Lächeln zustande zu bringen. Es kostete Kraft, die Mundwinkel zu heben. Nach einem erfolglosen Versuch gab ich auf.


    Eine unerklärliche Scheu hielt mich davon ab, die Umarmung zu erwidern und so hing der eine Arm kraftlos herab, während der andere noch immer zum Abstützen diente. Früher hätte ich mich in die Arme gekuschelt …


    „Warum kann nicht alles einfach ein? Wieso fügt sich nicht alles wunschgemäß, wo man sich doch solche Mühe gibt, dass genau dies gelingt? Weshalb kann man nicht gewinnen, ohne gleichzeitig etwas zu verlieren?“


    Ich hoffte, er wusste Antworten darauf und wich nicht erneut aus.

    Zitat

    Original von Marcus Aurelius Corvinus
    "Vielleicht hättest du den Inhalt eher ergründen können, hättest du es richtig herum gehalten, aber vermutlich hast du ein Abbild betrachtet und wolltest es nur aus einem anderen Blickwinkel ansehen" ...


    Ich mochte es nicht, wenn er mich verspottete, daher antwortete ich mit Überzeugungskraft in der Stimme: „Genauso verhält es sich.“ Zur Unterstreichung nickte ich noch, musste aber einen Augenblick später doch schmunzeln, weil er mich ja beim Flunkern ertappt hatte. Es war unvorteilhaft, wenn man, wie ich, so leicht durchschaubar war.


    Aber nicht einmal im Anschluss an diese peinliche Szene gab er mir die Chance, mich von meiner Verlegenheit erholen zu können, sondern tastete meinen kleinen Halbmond ab. Die Tatsache an sich war keineswegs schlimm, aber WIE er es tat … Ich zog die Luft ein und hielt sie für Momente an.
    Verhält sich so ein Bruder? Vielleicht ja ein Ex-Bruder? Bestimmt sogar! Oder doch eher ein Mann mit romantischen Gedanken? So durcheinander, wie mein Verhältnis zu Corvinus war, so drunter und drüber ging es in meinem Kopf. Ich sortierte vergeblich, wusste am Ende nicht einmal mehr, was in welcher Form angebracht war und was verwundern musste. Auf meinen Verstand konnte ich also nicht zurückgreifen, während mein Blick den Bewegungen seines Fingers folgte. Und mit den Gefühlen konnte ich noch viel weniger anfangen. Hätte ich geahnt, welche Folgen die Adoption haben würde, ich wäre sie weniger mutig angegangen. Corvi wurde für mich immer undurchsichtiger, fremder – nah und doch gleichzeitig unnahbar.


    Seinen Erklärungen, warum er mich aufgesucht hatte, versuchte ich zu folgen, aber viel verstand ich nicht. Er klang nicht überzeugend. Vielleicht hatte er mir ja etwas zu offenbaren, allerdings seinem Verhalten nach zu urteilen, musste es eine schlechte Nachricht sein. Fragend suchte mein Blick sein Gesicht ab, konnte dort aber keine Antwort finden.


    Ich gab mir einen Ruck und rutschte Richtung Fußende – in seine Nähe. Mit dem einen Arm das Gewicht haltend, den anderen auf die angezogenen Beine gelegt, hielt sich mein Blick an seinen Knien fest, nur um ihn bei den folgenden Worten nicht anschauen zu müssen.


    „Corvi …, hast du mich noch genauso lieb wie vor der Adoption?“

    Ich wusste nicht zu sagen, wie oft ich diesen Satz nun schon begonnen hatte, aber was da stand, ging einfach nicht in den Kopf. Kein Wunder, wenn man vielmehr beobachtet, was der soeben gemeldete Besucher gerade tut. Die Augen wanderten haarscharf über dem oberen Rand des Einbandes hinweg und registrierten jede Bewegung. Als sich Corvi dem Bett zuwandte, senkte ich hastig den Blick. Früher hätte ich einfach „Grüß dich!“ oder „Salve!“ gesagt. Seit kurzem war vieles anders geworden. Nicht einmal, als er sich setzte, hielt ich seinem Blick stand, sondern sah nur flüchtig auf.


    „Ähem … was ich lese?“ Ich versuchte Zeit zu schinden, weil ich ja nicht wusste, welchen Band ich in den Händen hielt. Warum musste er mich das auch fragen? Und warum auch noch so leise? Das verstärkte die Anspannung noch, unter der ich stand. Wie, zum Hades, bekam ich aber erst einmal den Buchtitel heraus, ohne auf die erste Seite oder den Einband zu schauen?


    „Och, das ist nichts für Männer deines Alters“, versuchte ich abzuwiegeln, bemerkte erst jetzt, dass die Seitenzahl auf dem Kopf stand und schlug das Buch zu. Es dauerte keine Sekunde, bis diese peinliche Feststellung mir das Blut in die Wangen trieb. Der empfunden Hitze nach zu urteilen, müsste ich ziemlich rot geworden sein. Niemals bei so etwas Schwäche zeigen, sondern forsch durch Blickkontakt auf Angriff gehen. So konnte nie jemand auf die Idee kommen, er hätte mich trotz der Peinlichkeit in die Enge getrieben. Also lächelte ich Corvi tapfer an.


    „Du wolltest mich besuchen?“ Konnte man eigentlich noch nutzlosere Fragen stellen? Am besten seine Hände in Augenschein nehmen, sonst kam ich nie von dieser ungesunden Gesichtsfarbe weg.

    Als die Sklavin mein Zimmer betrat, zuckte ich zusammen. Gleichzeitig runzelte ich über mich selbst verärgert die Brauen. Meine Schreckhaftigkeit, verbunden mit einem schlechten Gewissen, kam sicherlich von den geheim gehaltenen Nachforschungen. Jenes Thema war mir in den Kopf gestiegen, hielt mich in Atem, sowohl am Tag als auch in der Nacht.


    „Mein Bruder, ähem … Corvinus sagst du? Und er steht bereits vor der Tür?“, fragte ich über die Schulter hinweg und höchst verwundert. Nicht etwa, weil ich überrascht war, dass mich Corvi besuchte, wohl aber weil er gerade in einem Moment eintraf, in dem ich aufgewühlt und abgelenkt war.
    Unbewusst heftig schob ich die Schublade zu und stellte mich demonstrativ vor die Kommode – die Hände rechts und links abgestützt, die Arme ähnelten Schranken. Während der Kopf voll aufregender Gedanken war, versuchte ich krampfhaft zu entscheiden, wie ich ihm gegenübertreten sollte – war doch bereits unsere letzte Unterredung kompliziert gewesen und zudem stand die in meinem Kopf spukende Thematik auch damals zur Diskussion.


    Schließlich hatte ich einen Einfall. Ich schnappte mir ein zu dekorativen Zwecken herumstehendes Buch – keine Ahnung, welchen Inhalts es war – nahm Anlauf und sprang auf mein Bett. Mit einem Plumps ließ ich mich fallen, ordnete flüchtig die Tunika, klappte das Buch auf und erteilte eine Anweisung:


    „Bitte ihn herein und schließe die Tür von außen.“ Sodann richtete ich den Blick auf die Zeilen, deren Bedeutung mir nicht klar wurde, weil ich sie nicht las.

    Die kurze Konversation zwischen Corvi und meiner Schwester nutzend, winkte ich meine beiden Sklaven heran.


    „Ich nehme immer Fruchtsaft, am liebsten den der Zitronatzitronen“, erklärte ich Aintzane, die sich mit meinen Gepflogenheiten noch nicht so gut auskannte. „Assindius, lerne doch am besten Aintzane an. Du kennst mich schließlich besser als jeder andere.“


    In nickte meinem Leibsklaven zu und fing als nächstes einen verwunderten Blick meines Bruders auf. Ähm, ja. Um was ging es gerade? Ich lächelte verlegen und zuckte andeutungsweise mit der rechten Schulter. Das hat man nun davon, wenn man sich ablenken lässt. Weil kurz danach aber einige Komplimente kamen, konnte ich nicht allzu viel verpasst haben.


    Der abschließende Satz jedoch, ließ mich ungeniert kichern ... was ich natürlich schnell bereute, die Hand vor den Mund schlug und in betont anständiger Manier meinem Bruder zu den Klinen folgte. Dabei ging mir durch den Kopf, dass seine Worte nicht nur lustig bzw. schmeichelhaft auszulegen waren, sondern auch auf eine Art merkwürdig klangen.


    „So, du glaubst also, uns widerstehen zu können?“, fragte ich herausfordernd. „Keiner schafft das, aber du schon?“ Warum wunderte ich mich eigentlich? Ein langer Blick, der mich zunächst an einen Knaben, späterhin an einen jungen Mann denken ließ, traf Corvinus. Ich runzelte kurzzeitig die Stirn und fasste gleichzeitig den Entschluss, nichts unversucht zu lassen, ihm diesen Zeitvertreib gründlich auszutreiben oder gar zu verleiten.


    ‚Wie stelle ich das bloß an?’, fragte ich mich in Gedanken, während ich mich auf das Fußende einer freien Kline setzte. Ich hatte mir diese Art der Essenseinnahme bei Sophus angewöhnt. ‚Auf jeden Fall werde ich Assindius dafür einsetzen’, beschloss ich und schaute unwillkürlich meinen Leibsklaven an. Vermutlich würde ich den Abend sogar damit verbringen, konkrete Pläne für diese Radikalkur zu entwerfen. Zunächst meldete sich aber mein Durst und ich wartete darauf, dass mir jemand einschenkte.


    Doch noch bevor die Getränke kamen, stand das Essen auf dem Tisch. Ich schnupperte an der Vorspeise und blickte Aintzane an. "Was servierst du uns heute noch? Ich muss wissen, ob ich viel oder wenig Raum für die nachfolgenden Gänge einplanen muss."

    Leider brachten Epis Erinnerungen keinen spontanen Erklärungsansatz für die Skizze, aber auf die Buchstaben reagierte sie prompt. Offensichtlich handelte es sich dabei um Initialen, was ja nicht von vorn herein feststand.


    „Marcellus Claudius Macrinius“, murmelte ich. „Na klar, das würde hinkommen. Moment! Du meinst der Marcellus Claudius Macrinius? Der war vor Jahren Prätorianerpräfekt. Ich weiß das deswegen ganz genau, weil Soph vor etwas zwei Jahren überlegt hatte, ob er nach der Quaestur zur Legion zurückkehrt oder sich bei einer der Stammeinheiten bewirbt.“


    Nach einer kurzen Atempause wiederholte ich: „Die Prätorianer.“ Dabei schaute ich Epi mit einem langen Blick, der Interesse, Ehrfurcht und Wissbegier ausdrückte, über die Schulter hinweg an, bevor ich mich erneut der Skizze zuwandte.


    „Ein Kastell kann das unmöglich sein“, überlegte ich laut, während mein Blick über die Außenumrisse der Zeichnung wanderte. „Viel zu klein. Hm, wie groß die Militärakademie ist, weiß ich nicht. Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Mir fallen aber noch zwei nachdenkenswerte Aspekte ein. Erstens: Warum liegt diese Skizze in einem erotischen Buch? Könnte sie etwas mit einer heimlichen Liebschaft zu tun haben? Ein heimliches Treffen, eine verbotene Zusammenkunft?“


    Mit geweiteten Augen blickte ich Epi an, mein Lächeln verriet gespannte Erwartung, eine kribbelnde Neugier und aufkommende Entdeckerfreude.


    „Ja, und dann ist noch Zweitens“, erklärte ich nachdenklich und schaute zurück auf das Pergament. „So ein Prätorianerpräfekt weiß einfach über jeden und alles Bescheid. Was, wenn dieser Zettel keinen privaten Hintergrund hat? Was, wenn er versteckte Informationen enthält, einen nie durchgeführten Angriffsplan, eine vergangene Geheimoperation, unbekannte Gänge unter dem Kaiserpalast, was weiß ich?“


    In Gedanken malte ich mir die unglaublichsten Zusammenhänge aus. Schweigsam geworden, schaute ich meine Schwester gebannt an. Ich hatte Assindius’ Anwesenheit vergessen und auch das Tuscheln vor der Tür drang nicht zu mir vor.

    Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, musste ich über meinen Sklaven schmunzeln. Wehe dem, der mich jemals angreifen würde. Vermutlich würde er es nicht überleben.


    „Ist gut, dann baue dich eben von innen vor der Tür auf.
    Einer innen, einer außen – doppelt hält schon immer besser“,
    sagte ich in Richtung meiner Schwester. Ohne Verzögerung wandte ich mich anschließend wieder dem Buch zu, betrachtete es flüchtig, schlug es entschlossen auf und begann zu blättern.


    „Verbotene Aufzeichnungen?“, ging ich verspätet auf Epis Bemerkung ein. „Es war jedenfalls kein fortlaufender Text. So viel habe ich erkennen können.“


    Das Suchen gestaltete sich mühevoll, weil der Zettel von dünnem Papier war. Selbst ein Kippen des Bandes zeigte keinen Hinweis darauf, zwischen welchen Seiten besagtes Blatt versteckt war. Das Buch auszuschütteln, traute ich mich nicht, weil es nicht gerade neu und womöglich nicht mehr so gut haltbar war. Es wäre nicht nur Frevel gewesen, wenn das Werk in seine Bestandteile zerfallen würde – es hätte zusätzlich vermutlich Ärger gegeben. Also legte ich dort, wo ich die Stelle ermutete, geduldig Seite um Seite um.


    Endlich war es so weit: Der Zettel lag zur Einsicht frei. Wie gut, dass ein Blatt Papier ohne Empfindungen war, denn wenigstens zwei, vermutlich aber vier Augen durchbohrten ihn gerade. Weil sich mir der Inhalt aber nicht sofort erschloss, legte ich das Buch auf eine Regalfläche und fasste den Zettel mit spitzen Fingern an.


    „Es sieht aus wie eine Skizze“, mutmaßte ich. „Oder wie ein Lageplan.“


    Ich warf einen Blick aus allen vier Himmelsrichtungen auf den Wirrwarr an Strichen, konnte aber keine Orientierung finden. Schließlich schaute ich mir sogar die Rückseite an. Drei Großbuchstaben standen dort, MCM, mehr nicht.


    „Hast du eine Vermutung?“, fragte ich Epi, die sich zumindest in den claudischen Örtlichkeiten und der Familiengeschichte besser als ich auskannte.

    Alles war kompliziert: Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, wusste nicht einmal mehr, was ich wollte oder wie mein Bruder dachte. Unklar war genauso, ob einzig das letzte Gespräch zwischen uns stand oder doch die erfolgte Adoption. Ich seufzte ungewollt, setzte aber alsbald ein freundliches Lächeln auf, weil er immerhin nette Dinge geäußert hatte.


    Tja, und dann stand die Frage im Raum, die nicht mal eine schwierige war, und wieder wusste ich keine Antwort. Ich blickte zur Seite, überlegte, was am besten ausschauen würde und kam zu dem Schluss, dass Hinsetzen eine ganz passable Lösung war. Ich holte Luft, um den Vorschlag zu machen, als Epi hinzu trat. Mit einem nutzlosen „Äh“, atmete ich wieder aus.


    „Epi“, begrüßte ich meine Schwester, als sie geendet hatte – froh darüber, eine Ablenkung zu finden. „Du siehst toll aus!“ Ich schaute zu Corvi. „Findest du nicht auch?“

    Mädels, es wäre gescheit, entweder diese Bemerkungen zu unterlassen oder wenigstens fehlerfrei in der Zeichensetzung und Rechtschreibung zu bleiben. Daran erkennt man nämlich euren Intellekt. :D ;)


    Und nein, ich finde nicht gut, was Soph geschrieben hat, aber ich gebe ihm mildernde Umstände, da er infolge der schon viel zu lange anhaltenden Bundeswehrzeit einen sonderbaren Humor entwickelt hat. ;)



    Zurück zum Thema ...

    Die Unterredung mit Assindius lag hinter mir und das Essen mit Epi und meinem ehemaligen Bruder vor mir. Nie zuvor hatte ich mir den Kopf über den Zeitpunkt meines Erscheinens bei Einladungen zerbrochen, heute fing ich damit an. Ging ich nun rechtzeitig ins Triclinium und riskierte, Corvi alleine anzutreffen oder wartete ich lieber ab, weil ein verspätetes Eintreffen mir Verlegenheiten ersparte?
    Nächste Frage: Gab ich den neuesten Erkenntnissen nach und würde auch Corvi – wie zukünftig jeden Mann – auf gewisse Regungen unterhalb der Gürtellinie begutachten? Assindius hatte mir in den Kopf gesetzt, dass Männer stets durch den Anblick von Frauen … Wie hatte er sich noch ausgedrückt? Schöne Frauen erregen IMMER einen Mann. Ja, das hatte er gesagt. Ich schmunzelte.


    Wer die Wahl hat, ist manchmal nicht zu beneiden. Ich zählte gaaanz langsam bis zehn, legte noch einen Tropfen dieser wohlriechenden Kostbarkeit auf, summte ein Lied, dessen Melodie ich nicht einmal zuordnen konnte, spazierte dreimal zum Fester und wieder zurück, trat schließlich auf den Gang und nahm einen seehr langen Umweg ins Triclinium. Aber alles nützte nichts, ich war vor Epi da.


    „Salve“, flüsterte ich, blieb aber unschlüssig auf der Schwelle stehen. Mir war klar, dass man so keinen Gast begrüßte, aber derzeit konnte ich Corvi ohnehin nicht richtig einordnen.

    Plötzlich rauschte jemand in die Bibliothek und noch bevor ich realisieren konnte, wer es war, schlug ich aus Panik das Buch zu. Mit aufgerissenen Augen, einem unterdrückten Schreckenslaut und dem zu erwartendem schlechten Gewissen schaute ich zur Tür und erblickte … meinen Leibsklaven.


    „Bei den Göttern, Assindius! Wie konntest du uns nur so erschrecken? Mein Herzschlag hat für Momente ausgesetzt.“


    Meine zittrige Hand fuhr erleichtert über die Stirn, auf der winzige Stressperlen standen. Schon allein die beabsichtigten Nachforschungen waren ja geeignet, den Pulsschlag und die Körperwärme zu erhöhen.

    Im stillen Einvernehmen – ein verschwörerisches Lächeln auf den Lippen – betrat ich an Epis Seite die Bibliothek. Mein Leibsklave, der mich prinzipiell auf Schritt und Tritt begleitete, hatte für die Wartezeit eine perfekte Gesellschaft: Nordwin. Die beiden würden sich schon miteinander bekannt machen, da war ich sicher.


    „Assindius, du trägst wieder Sorge, dass uns niemand stört“, sagte ich gut verständlich und fügte leise an: „Und benimm dich anständig.“ Mein Blick streifte flüchtig den Sklaven meiner Schwester, den Assindius noch nicht kannte. Sodann wartete ich ab, bis die Tür zugezogen wurde, ehe ich mich auf die langen Bücherreihen konzentrierte. In der aurelischen Bibliothek hätte ich mich ausgekannt, hier war ich auf Epis Orientierung angewiesen. Es stellte sich heraus, dass sie äußerst zielsicher vorging.


    Ehe ich mich versah, diente meine Schulter als Stütze und Epi angelte nach einem Werk, das nicht nur recht weit oben, sondern auch noch von erheblichem Umfang war. Ich betete zu den Göttern, dass es ihr nicht aus der Hand flutschte und auf meinem Kopf oder dem Fußboden landete. Der Aufschlag und ein möglicher Schreckensschrei wären unüberhörbar gewesen.
    Meine Bitte wurde jedoch erhört, denn mitsamt Buch landete eine Wolke kleinster Staubpartikel sicher in meiner erhobenen Hand, wobei letztere die soeben gewonnene Freiheit nutzten und sich über meinem Haupt und der Kleidung ausbreiteten.


    „Ööööh“, entfuhr es mir angewidert. „Ein Krabbeltier und ich quieke los. Bei so was kann ich mich nicht beherrschen.“


    Das Buch hielt einer flüchtigen Kontrolle Stand und ich kam schnell zum Wesentlichen: Den mannigfaltigen Bildungsmöglichkeiten, die ich mir so sehr erhoffte. Ohne zu Zögern schlug ich den dicken Band auf, während Epi sich offensichtlich hinter mir verschanzte, so als könnte etwas Gefährliches dem Buch entspringen. Ich schaute sie flüchtig und mit einem Schmunzeln über die Schulter an.


    „Ja, Abbildungen wären gut!“, murmelte ich, als ich für den schnellen Überblick die Seiten – gehalten durch den Daumen – auf den hinteren Buchdeckel fallen ließ.


    „Ah! Hast du das gesehen?“, rief ich plötzlich aus, als ein Zettel in kleinerem Format sichtbar wurde. Allerdings waren alsbald mindestens zwanzig Seiten auf besagte Stelle gefallen. „Da hat einer was in das Buch gelegt. Das gehört da gar nicht rein“, mutmaßte ich, während ich Seite um Seite zurückblätterte.

    Also bei meiner Arbeitsstelle (ca. 40 km südlich von Bremen) hat es das Wasser nicht nur zu den Fenstern hereingedrückt, sondern es hat auch durch das Dach geregnet. In den Gängen standen Auffangwannen und die Deckenverschalung kam stellenweise herunter. Wer jetzt aber denkt, ich arbeite in einem Altbau, der irrt: Das Gebäude wurde 1993 gebaut. Der Sturm, der Regen und das Gewitter waren einfach zu stark.


    Außerdem haben ALLE Mitarbeiter bei sintflutartigem Regen ab 16 Uhr fluchtartig das Gebäude verlassen, damit sie nicht in noch größere Wetterunbilden gerieten, die in den Nachrichten angekündigt wurden. 1,5 Stunden lang war ich in dem Komplex alleine – musste ja den obligatorischen Zahllauf noch machen – und bin dann gegen 18 Uhr bei einem leichten Lüftchen und vollkommen trocken nach Hause gefahren. :D

    Ich nickte Assindius und Aintzane zu, damit sie schon einmal wussten, dass sie die bereits bekannten Unterlagen an der entsprechenden Stelle ordern sollten. Auch der Transport der Abschriften war ihr Part, der meine einzig die Bezahlung. Oder nicht ganz. Niemand konnte voraussagen, auf was für interessante Texte ich beim Stöbern noch stoßen würde, also war meine „Aufgabe“ doch umfangreicher, als zunächst angenommen. Ich lächelte verschmitzt, wandte mich dann aber wieder Aelia zu.


    „Hat mich sehr gefreut …“, verabschiedete ich mich und stellte gleichzeitig fest, dass mir diese Aussage keineswegs schwer fiel. „… Adria“, fügte ich, milde gestimmt und selbst leicht verwundert, an. Sodann drehte ich mich dem Scholasklaven zu, der uns führen sollte.


    Sim-Off:

    Danke für den WiSim-Hinweis. Vermutlich hätte ich sonst bezahlt. :)
    Mädels und Jungs, für euch geht es dann hier weiter.