Das Mustern seiner Gesichtszüge brachte keine Aufklärung über die Gedanken hinter Corvis Stirn. Unklar war, ob er sie für sich behalten wollte oder nicht zu formulieren wusste. Also gab ich dem sanften Druck seiner Hände nach, ließ mich zwar umarmen, lehnte sogar den Kopf bei ihm an, sträubte mich aber, den vollen Körperkontakt einzugehen. Seit heute spürte ich eine ungekannte Zurückhaltung, die Vertrautheit war abhanden gekommen, sie hatte Unsicherheit Platz gemacht. Mir wurde klar, dass der rechtlichen Trennung eine emotionale gefolgt war. Ich hatte einen Bruder verloren, unwiederbringlich, und nichts außer der Freiheit gewonnen, Sophus heiraten zu können – viel wert, aber der Preis war hoch.
Auch sein Streichen über den Rücken, das sonst stets beruhigend gewirkt hatte, fühlte sich anders an: Es erinnerte mich an Sophus. Nicht weil er ähnliches getan hatte, aber weil das Ergebnis ein vergleichbares war. Vermischten sich jetzt beide Männer zu einer Person? Vielleicht hatte mir einer der claudischen Sklaven eine Art Rauschmittel ins Essen getan. Wie anders sollte ich mir sonst diese merkwürdigen Empfindungen sonst erklären? Eins stand fest: Wollte mich Corvinus gerade beruhigen, gelang ihm das äußerst schlecht, trat doch eher das Gegenteil ein. Ich empfand seine Hände heute vollkommen anders, es würden wohl nie wieder die meines Bruders sein.
Endlich rang er sich eine Antwort ab, allerdings keine, die wirklich Aufklärung bot. Das jedoch war mir im Moment egal, verlangte es mich doch verstärkt nach Abstand, nach dem Alleinsein, nach ungestörten Gedanken. Das Wenige, was er äußerte, konnte ich aber unterstreichen.
„Ja, er ist etwas ganz Besonderes.“ ‚So wie du’, fügte ich an, hütete mich aber, diese Worte auszusprechen. Möglicherweise konnte er sie aber in meinen Augen lesen.
Wieder betrachtete ich sein Gesicht für lange Momente, als er wenig später unmittelbar vor mir stand. Irgendwann senkte ich die Augen, streifte dabei Brust und Bauch, bevor der Blick am Boden haftete. Mit den Worten, „Ich gehe jetzt“, leitete ich meinen Rückzug ein. Ich legte die Hand auf die Klinke, drückte sie, hielt noch einmal kurz inne, um zu ihm zu schauen, und schlüpfte anschließend durch die Tür, die ich hastig hinter mir zuzog.
Ein tiefer Atemzug, begleitet von aufgerissenen Augen, war die erste Reaktion, als ich im Gang stand. Worüber ich im Einzelnen entsetzt war, wusste ich nicht zu sagen – vielleicht vor mir, vor seinem wechselhaften Verhalten, seinen Worten, vor der Erkenntnis, dass ich nie wieder die gewohnte Vertrautheit erleben würde …
Schließlich wurde ich Assindius’ Anwesenheit gewahr und riss mich zusammen.
„Ich möchte in die Villa Claudia zurückkehren“, murmelte ich. Anschließend setzte ich mich kraftlos in Gang.