Der Aufforderung ein Stück zu gehen, kam ich gerne nach, weil ich mich der frostigen Stimmung wegen nicht sonderlich wohl fühlte, wenn wir uns untätig und teils schweigend gegenüberstanden. Seinen grantigen Tonfall bewertete ich dabei nicht über, wusste ich doch seit langem, dass er stets dann auftrat, wenn Corvinus - in welcher Weise auch immer - verärgert war. Allerdings bedeutete mein Umgang mit seinem abweisenden Auftreten nicht gleichzeitig, dass ich mich wohler fühlen konnte. Das bedeutete es nie bei Menschen, die mir wichtig waren, es half bestenfalls.
Während die Füße weitgehend automatisch voranschritten, schlang ich die Arme um den Leib, der nicht nur wegen der ungemütlichen Witterung zu einem leichten Zittern neigte. Ich blickte nach vorn, ohne wahrzunehmen, worauf wir zusteuerten, beließ die ins Gesicht gewehten Haarsträhnen, wo sie waren, und versuchte mich, für seine Worte zu wappnen, die unweigerlich der Aufforderung zur Wanderung durch den Garten folgen mussten. War er noch derselbe wie einst, würde mich eine erneute Zurückweisung erwarten. Ich atmete einmal tief durch, denn nur im günstigen Falle würde es Vorwürfe hageln. Einlenkend hatte ich ihn noch nie erlebt.
„Vielleicht komme ich spät, du aber bist gar nicht auf mich zugekommen“, erwiderte ich, nachdem er das Gespräch eröffnet hatte. Sein Besuch in Ostia konnte wohl kaum darunter zählen, er war nur gekommen, um mich runterzuputzen, nicht aber, um eine Bereinigung der angespannten Lage zu erreichen. Oh, es war nie klug, einem Vorwurf mit einem weiteren zu begegnen. Viel gescheiter wäre es stets, einfach die Anklage über sich ergehen zu lassen, vielleicht sogar zuzustimmen und sie damit abzuhaken. Irgendetwas veranlasste mich aber stets, mich entweder verteidigen zu wollen oder ihm aufzuzeigen, dass er ebenfalls keineswegs fehlerfrei war. Vielleicht ein Versuch, sich selbst als zwar nicht fehlerfrei, aber dennoch liebenswert darzustellen, der auf diese Weise natürlich zwangsläufig scheitern musste. Niemand wurde als liebenswert eingeschätzt, wenn er dem anderen Vorwürfe präsentierte – gleich auf welche Art.
Ich unterließ den Versuch, einen seitlichen Blick auf ihn zu werfen, denn der Inhalt der Unterhaltung würde offensichtlich schwer genug sein, um ihn zu verarbeiten, da musste nicht auch noch der abweisende Gesichtsausdruck auf mich einwirken.
Bei seinen nächsten Worten musste ich schlucken, derart unvorbereitet trafen sie mich. Das Blut konnte sich nicht entscheiden, ob es wegen der gedanklichen Forderung schneller pulsieren oder wegen dem erschlagenden Inhalt gefrieren sollte. ‚Weil ich nicht eher gekommen bin, gibt es nun keinen Grund mehr für mich, hier zu sein.’ Ich verstand die Logik nicht, kam aber auch nicht weiter zum Nachdenken, weil neue Eröffnungen folgten, die allesamt kein bisschen erträglicher waren.
„Ja, Geschwister stützen einander, wenn sie Kummer haben. Nur eben ICH hatte es damals tun wollen, während du mich zurückgestoßen hattest“, pflichtete ich ihm bitter bei. Nunmehr zog es meinen Blick regelrecht zu ihm, denn genau darin lag sein Fehler, den ich ihm aus Rücksicht nie vorgeworfen hatte – es war sogar ein doppelter Fehler: Er ließ mich ihm nicht helfen und versagte gleichzeitig mir die Hilfe, als ich ihn nötig gebraucht hatte. Plötzlich wurde mir klar, dass er jetzt allen Ernstes genau das MIR zum Vorwurf machte? Ich fühlte mich verhöhnt, blieb abrupt stehen, wandte mich zu ihm und richtete mich auf, wie ich wohl noch nie in meinem Leben aufgerichtet dagestanden hatte.
„Aurelius Corvinus, du bist weder gerecht noch trägst du Ehre im Leib.“
Ich spürte nicht mehr den Wind, der an meiner Palla zupfte, die sich langsam löste und von der Schulter rutschte, weil ich von den Gefühlen der Ohnmacht und Enttäuschung übermannt, die Hände vom Leib gelöst hatte. Er stand nicht zu seinem Wort, zu seinem Versprechen, und zwar aus Gründen, die er mir glaubhaft in die Schuhe schieben wollte, die aber zunächst und in viel größerem Ausmaß auf sein Konto gingen. Das Unfassbare der Situation gab mir die Kraft, stark zu sein. Verachtung macht stark, ich erlebte es zum ersten Mal.
Nieselregen sprühte hernieder, aber weder nahm ich ihn wahr noch konnte er fortspülen, was soeben gesagt worden war.