Beiträge von Claudia Aureliana Deandra

    Natürlich kannte ich ähnliche Gewächse, aber mir war nicht danach, mich über mögliche und unmögliche Ähnlichkeiten mit anderen Bäumen auszulassen. Vielmehr beschäftigte mich seine kühle Ausstrahlung, wenngleich ich nur kurzfristig einen Stich in der Herzgegend spürte, denn eine gewisse Verärgerung über die nachfolgend unfreundliche Abfertigung, begleitet von Unverständnis, machte sich in mir breit. Weder hatten wir eine Erziehung in Hinblick auf Unhöflichkeit genossen noch empfand ich sein Auftreten angemessen, denn außer dieser überstürzten Abreise nach Ostia hab es rein gar nichts, was er mir vorwerfen konnte. Ich blickte ihn mehrere Atemzüge an und stellte wieder einmal fest, welch drastische Veränderung er genommen hatte. Als er gerade erst zum Manne gereift war, zeichneten ihn Freundlichkeit und Fürsorge in besonderem Maße aus. Mit seinem Amtsantritt in Germania zeigten sich erste Veränderungen, die jedoch allesamt im Rahmen blieben und eine Folge der gestiegenen Verantwortung sein mochten, was sich allerdings schlagartig mit der Todesnachricht unserer Eltern änderte. Fortan prägten Gereiztheit, Ungerechtigkeit, teils sogar Grobheit sein Wesen, für das ich mich ursächlich nicht verantwortlich fühlte, auf das ich allerdings entsprechend reagierte, indem ich mich verstärkt in meine Trauer zurückzog. Ich fragte mich, was ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch an ihm mochte, und stellte fest, dass es vornehmlich die Erinnerung an den einst liebevollen Menschen war. Ich wusste nicht zu sagen, ob noch Anteile davon in ihm schlummerten oder ob dieser Charakterzug gänzlich abgestorben war.


    Als mir die Frage durch den Kopf ging, wie wohl Vater und Mutter seine Entwicklung beurteilen würden, riss ich meinen Blick von ihm los, betrachtete zunächst den Horizont, kurz darauf die heranrückende dunkle Wolkenfront und atmete einmal hörbar durch.


    „Nun, ich weiß nicht, wie es dir ergeht, aber ich finde es eher unüblich, wie selten wir uns sehen und sprechen“, antwortete ich in neutralem Tonfall, während ich den Blick von den Wolken löste und mich wieder ihm zuwandte. Allerdings veranlasste mich die eisige Ausstrahlung, vom Gesicht abzulassen und über die Brust seitlich nach rechts abzugleiten, um ein im Winde schaukelndes Blatt ins Auge zu fassen, das offensichtlich nur noch an wenigen Fasern hing. Ich hätte weiter sprechen können, unterließ es aber.


    edit: bissel rumkorrigiert.

    Weingut und Kelterei wurden ja nun zusammengelegt. Allerdings stehen die Betriebe noch einzeln, während die Produktion zusammenläuft. Geltet dieses Doppelpack jetzt als ein oder als zwei Betriebe? Zwei würde ich unpraktisch finden. Würde mir lieber gerne noch einen weiteren Betrieb zulegen, dafür vllt. die Kelterei abgeben, mit der ich bestimmt seit Monaten nicht mehr produziert hab, nun aber irgendwie gezwungen bin. Oder kann man die wohl separat verkaufen? Also, ich steige da momentan nicht durch. Die Kelterei produziert nämlich auch ohne eingestellten Sklaven, weil sie am Weingut dranhängt.

    Die Auskunft der Sklavin fiel für mich überraschend aus, denn ich hatte Corvinus im Haus erwartet. Stattdessen hielt er sich im Garten auf, in den es mich vor Augenblicken selbst noch gezogen hatte. Das Anwesen der Aurelier war jedoch groß genug, um nicht jeden Winkel einsehen zu können, selbst wenn ihn keine Gebäudeteile verdeckten, und die verschlungenen Wege, deren Ränder mit üppigem Bewuchs gesäumt waren, taten ihr übriges, um diejenigen vor Blicken weitestgehend zu schützen, die Entspannung, Ablenkung oder Erholung inmitten von Grünpflanzen suchten.


    Ich winkte ab, als die Sklavin sich anbot, mich zu ihm zu führen. Sie erhielt vielmehr den Auftrag, sich während meines Aufenthalts um Fiona und Minna zu kümmern. Nicht nur die Tatsache, dass ich selbstständig genug war, ließ mich vor einer Begleitung zurückschrecken, sondern auch das Wissen um meine nur rein äußerliche Gefasstheit. Ich wollte selbst das Schritttempo bestimmen, die Möglichkeit haben, zum Sammeln zu verweilen, und auch den Moment entscheiden, in dem ich auf ihn zutrat. Es würde nicht einfach werden, dessen war ich mir bewusst. Die kalten Hände, das unmerkliche Zittern, die Anspannung und das Herzklopfen taten ihr übriges, damit ich die Aufregung nicht vergaß. Ein Blick auf die ruhige Oberfläche des Wasserbeckens ließ mich jedoch beruhigt aufatmen. Ganz so schlimm, wie ich mich fühlte, sah ich wenigstens nicht aus. Das Gesichtspulver verbarg die Blässe, die hummerfarbene Palla die sacht bebende Gestalt. Ich atmete einmal tief durch und verließ die Villa auf dem mir bestens bekannten Weg, um in den Garten zu gelangen.


    Mein Blick tastete sich über Sträucher und Staudenansammlungen, während ich zusätzlich Acht gab, mit dem feinen Schuhwerk, in keine Wasseransammlungen inmitten des Kieses zu geraten. Immer wieder betrachtete ich die Wege, machte manches Mal einen Bogen, mitunter reichte auch ein großer Schritt. Ein blauer Leuchtpunkt, der durch spärliches Laubwerk schimmerte, zog schließlich meine Aufmerksamkeit an. Ich entschied mich zum Leidwesen meiner Schuhe für eine Abkürzung quer über die Rasenfläche, um Gelegenheit zur Besinnung zu haben, und verhielt den Schritt.
    Wir hatten uns einige Zeit nicht gesehen und noch länger nicht mehr gesprochen. Er trug die Haare anders und wirkte ernster als ich ihn in Erinnerung hatte. Ein Umhang verdeckte viel von seiner Gestalt, die sich vermutlich kaum geändert und die ich daher noch gut in Erinnerung hatte. Ich spürte, er war mir längst noch nicht egal, doch bevor sich dieses Gefühl inflationsartig in mir ausbreitete, setzte ich mich wieder in Bewegung und trat von hinten an ihn heran, aber da war ein Klos im Hals – ich schwieg. Bevor ein angestrengtes Schlucken den Weg zum Artikulieren freimachen konnte, erhielt ich eine Unterweisung in Pflanzenpflege, die – weil sie so überraschend kam – die Verspannung in mir lockerte und sogar ein Lächeln bewirkte. Der Pflegling, um den es ging, war mir unbekannt, demnach musste es sich um eine Neuerwerbung handeln. Ich folgte seinen Ausführungen, die gewiss nicht an mich gerichtet sein sollten, ließ ihn ausreden und sprach ihn anschließend an, ohne jedoch aus seinem Rücken zu treten.


    „Er darf nicht gegossen werden?“ Durch das neutrale Thema versagten zum Glück die Stimmbänder nicht, was ich erleichtert registrierte. Meine Nachfrage resultierte aus echter Verwunderung, hatte ich doch bisher immer alle neu gesetzten Pflanzen eher reichlich als spärlich mit Wasser versorgen lassen. „Diese Blattform habe ich auch noch nie gesehen“, fügte ich kurz darauf an. 'Kein Wunder', dachte ich. 'Ägyptische Pflanzen kenne ich nicht. Ägyptische Tiere schon eher, denn meine Zuchthengste stammen aus dieser Provinz. Vielleicht ist die andere Pflege darauf zurückzuführen'. Mir war klar, dass dieses Bäumchen schlagartig an Bedeutung verlieren würde, sobald sich Corvinus umdrehen würde, trotzdem klammerte ich an mich an den Pflegeansprüchen dieses Gewächses fest.

    Das Kraut der Zwiebelgewächse war um diese Jahreszeit längst verwelkt und verrottet, daher gähnte Leere an den Stellen, die mir dafür bekannt waren, im Frühjahr einen schönen Farbteppich in diesen Garten zu zaubern. Ich fragte mich, wer wohl jetzt für die Gartengestaltung sorgte und ob meine Zöglinge an Ort und Stelle bleiben durften. Minnas Frage schreckte mich aus den Gedanken und stieß gleichzeitig die Überlegung an, was ich auf die Nachfrage antworten sollte. Ich wandte den Kopf und suchte ihren Blick, ließ zwei Atemzüge vergehen und erwiderte leise: „Erinnerungen, Minna. Sie kommen immer dann, wenn man sie nicht braucht.“ Ein Mundwinkel schien zu lächeln, eine Schulter zu zucken, aber in Wirklichkeit zupfte nur der Wind an der Palla und pustete eine Haarsträhne ins Gesicht.


    „Ja, dann lass uns mal die Villa betreten“, sagte ich mehr zu mir als zu ihr, während ich mich in Bewegung setzte. Plötzlich spürte ich die klamme Kleidung und begann zu frösteln. Einerseits wünschte ich mir warme, trockene Wäsche, andererseits besaß ich nun einen Grund, die unweigerlich aufkommende Aufregung, wie auch immer sie sich bemerkbar machen würde, darauf zu schieben. Ich fasste die Palla enger, als ich auf die Porta zu und am Ianitor vorbei schritt.


    „Melde mich bei Corvinus an“, gab ich einer Sklavin in Auftrag, doch bevor ich den Eingangsbereich durchquert hatte, verhielt ich den Schritt, drehte mich um und hob den Arm. „Ach, warte. Das ist Blödsinn.“ Fast hätte ich mich selbst zum familienfremden Besuch degradiert. „Ich suche ihn selbst auf, sag mir einfach, wo er sich gerade aufhält.“

    Viele Wochen waren seit Ostia ins Land gegangen. Regen und kalter Wind beherrschten Rom, in dem ich mich wieder niedergelassen hatte. Der Kontakt zu meinem Vater war spärlich, Ofella hatte ich bis zu ihrer Abreise, mit Ausnahme auf dem Weinfest, nicht zu Gesicht bekommen. Ab und an führte ich Gespräche mit Epicharis, ansonsten vergrub ich mich in der claudischen Villa. Irgendwann erreichte mich die Bestätigung der Entlobung, die mich zwang, der Realität ins Auge zu sehen. Es dauerte wiederum Tage, bis ich mich dazu durchringen konnte, der wohl schwierigsten Begegnung meines Lebens nicht länger aus dem Weg zu gehen. Zu sagen, es wäre nicht alles besprochen, war maßlos untertrieben, denn im Grunde stand ich vor einem einzigen Fragezeichen. Aber Antworten mochten die Situation auch nicht besser machen, das war mir klar. Dennoch ...


    Die Frage, was ich dann eigentlich hier wollte, ging mir durch den Kopf, als die Sänfte das Anwesen meiner ehemaligen Familie erreichte. Vielleicht war es Orientierung, möglicherweise auch eine rückständige Klärung, eine abschließende Regelung, ich konnte es nicht sagen. Nieselregen fiel auf die hochgesteckten Haare, als ich dem Reisegefährt entstieg und der Porta zuschritt. Einer der Sklaven klopfte, denn ich wollte nicht wie sonst üblich unangemeldet eintreten. Eine Erklärung sparte ich mir jedoch, an diesen Boten zu geben, immerhin kannte mich annähernd jeder der aurelischen Sklaven und der Ianitor sowieso. Mein Blick schweifte während der Wartezeit über die Gartenanlage. Einsicht bot ausgerechnet der Teil, in den ich vor Jahren die verschiedenen Zwiebelgewächse einbringen ließ. Ungeachtet des Wetters setzte ich mich in Gang und strebte den Beeten zu, während die Sklaven zurückblieben.

    Ich überlegte nicht, was ich meiner Schwester auf die Nachfrage, die mit unumstößlicher Gewissheit kommen würde, antworten sollte, sondern grübelte selbst über die erfolgte Formulierung nach. Entweder befand ich mich zum Augenblick der Äußerung in einem schockartigen Zustand, sodass alles an mir vorbei flog, oder ich hatte es ihm nachhinein verdrängt, um das Entsetzen in Grenzen zu halten. Und entsetzt war ich über sein Auftreten, seine Denkweise, seine Ungerechtigkeit, seine Gefühllosigkeit gewesen, ohne Frage. Doch der Schmerz lag in der Vergangenheit, ich hatte mein Herz verschlossen und wehrte mich dagegen, dass jemand oder etwas daran rührte.


    Ich spürte ihre Hand auf meinem Arm, hörte ihre Worte, hätte gerne an sie geglaubt, aber als ich mich umdrehte lag dennoch eine starre Maske auf meinem Gesicht. Das einfühlende Verhalten meiner Schwester empfand ich jedoch als wohltuend, ebenso ihre Worte, sie brachen meine Abwehr auf, daher gab ich nach und setzte mich. Mit einem wunden Ausdruck in den Augen blickte ich sie an.


    „Er hat sowas angedeutet, ja“, wisperte ich. Noch immer ruhten meine leicht vergrößerten Augen auf ihrem Gesicht, als könne ich von dort irgendeine Erklärung bekommen. „Ich kann mich allerdings nur noch schemenhaft an seinen Besuch in Ostia erinnern. Es kommt mir alles so unwirklich vor. Hat er denn inzwischen einmal mit Vater gesprochen?“


    Immerhin wäre dies ein notwendiger Schritt, falls er sein Vorhaben tatsächlich umsetzen wollte, woran ich allerdings mit der Kraft meines Herzens zweifeln wollte, es aber nur zeitweise vermochte. Im Augenblick gelang es mir schlecht. Ich seufzte. Epis letzte Worte waren im Grunde kein Trostpflaster, aber sie wirkten dennoch so. Nicht dass ich ihm etwas Schlechtes wünschte, aber wenn mich meine Familie nun schützend umfangen würde, wenn sie auf meiner Seite stehen würden, wäre das eine wertvolle Hilfe für den Fall der Fälle.


    „Epi, ich verstehe nicht warum, er hat mir wehgetan. Ich habe nichts Schlechtes gesagt oder getan. Meine Abreise nach Ostia kann doch nun wirklich kein ausreichender Grund für eine Entlobung sein. Oder?“

    Das Fest war bereits in vollem Gange, als ich die Casa betrat. Meine Verspätung ließ sich zum einen durch die verlangsamte Entschlussfassung und zum anderen durch die langwierige Prozedur des Schminkens und Frisierens erklären. Je unwohler ich mich fühlte, umso mehr Kosmetika ließ ich auflegen. Vor allem Lidschatten und Gesichtsweiß boten die Möglichkeit, sich dahinter zu verstecken. Am heutigen Tage tat eine üppige Perücke aus blondem Haar ihr übriges, um mein Äußeres erheblich zu verwandeln.
    Minna verschaffte uns innerhalb kürzester Zeit den Eintritt in die Casa. Trotz der Aufmerksamkeit, die das Auffinden des Brautpaares und meiner Schwester bedurfte, stellte ich fest, dass sich gerade diese Sklavin erstaunlich schnell eingelebt, auf angenehme Weise eingefügt und zu einer wirklichen Bereicherung geworden war. Das Gespräch mit meinem Vater über ihre zukünftige Verfügung stand noch aus, wie mir in diesem Moment bewusst wurde.
    Während ich mich an der Tür positionierte, um zunächst einen Überblick über die anwesenden Personen zu bekommen, bereute ich es bereits insgeheim, meiner Schwester hierher gefolgt zu sein. Sie war weniger auf meine Begleitung angewiesen als ich auf ihre, weil sie hier einige Redaktionskolleginnen zu treffen hoffte. Die Acta interessierte mich nicht sonderlich, daher wusste ich noch nicht einmal zu sagen, um welche Personen es sich dabei handelte. Glücklicherweise waren wenigstens die Braut und der Bräutigam unter all den unbekannten Römern zu erkennen. Ich nickte meinen beiden Sklavinnen zu, als ich auf das Paar zusteuerte, damit sie mir – mit den Geschenken in der Hand – folgen würden; einer der Gründe, weswegen ich auf ihre Anwesenheit bestand.


    „Der Götter Segen und meine Glückwünsche für eure Verbindung“, sagte ich, nachdem sowohl die Decima als auch der Senator für einen Moment durch nichts abgelenkt waren. „Claudia Deandra“, stellte ich mich vor. „Ich begleite meine Schwester, wenngleich ich sie aus den Augen verloren habe.“ Wie zur Bestätigung ließ ich den Blick durch den Raum schweifen, kehrte aber sogleich wieder zum Ausgangspunkt meiner Betrachtung zurück. „Diese beiden Bücher sind zur Vervollständigung der Bibliothek gedacht“, erklärte ich meine Geschenkidee, denn ich nahm an, dass ich gebildete Römer vor mir hatte, die Wert auf eine umfangreiche Literatur legten. Mit einem Blick forderte ich meine Sklavinnen auf, die Gaben zu überreichen.

    Nun ja, ich hatte erwartet, dass meine Schwester wenig begeistert über meine Zurückgezogenheit war, also nahm ich ihre Bemerkung gelassen - eine Entschuldigung sollte reichen. Die Angewohnheit, mich mehrfach zu entschuldigen, wollte ich endlich einmal abstreifen. Als sie das Stichwort ‚Ostia’ für den Beginn meines Berichtes gab, holte ich bereits Luft, um mit einer Schilderung des Auslösers und der nachträglichen Vorfälle zu beginnen, als sie etwas von Entlobung sprach. Augenblicklich weiteten sich meine Augen, die angestaute Luft verließ geräuschvoll meinen Mund und mein Kopf näherte sich ihr um Nuancen, während sich mein Blick fragend auf sie richtete.


    „Nicht mehr verlobt? Ähm …“ Mir verschlug es für Momente die Sprache. Natürlich stand diese Situation mal im ostianischen Raum, aber wenn dem tatsächlich so wäre, sollte doch wohl ich am ehesten davon wissen, dachte ich bei mir. Oder mein Vater. Ich fragte mich, ob er mir diese Nachricht eventuell noch nicht zukommen lassen hatte, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Epi hatte gesagt, die Sklaven verbreiten diese Gerüchte. Flüchtig überlegte ich, ob es diejenigen gewesen sein konnten, die mit mir in Ostia waren, oder ob es sich um Sklaven handelte, die einem möglichen Treffen zwischen Corvi und meinem Vater beigewohnt hatten. Letzteres erschien mir aber auch wieder unlogisch, denn wenn selbst Epicharis nichts wusste, dann musste der Informationsherd außerhalb dieser Villa zu finden sein. Bliebe also doch Ostia als Quelle dieser Weißheiten übrig. Ich warf einen Blick auf den Ring mit den Pferdeköpfen, erinnerte mich, dass ich einmal ebenfalls erwogen hatte, die Verbindung zu lösen, stellte fest, dass es gut war, diesen Gedanken niemals ausgesprochen zu haben, und versuchte mir, Corvis Worte noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, aber vergeblich. Etwas in mir schien sich erfolgreich gegen diese Erinnerung zu wehren. Weder der Wortlaut noch die damalige Deutung lagen mir in Erinnerung.


    „Ich, ähm…“ Meine rechte Hand spielte am Ohrring. „Ah, ich hasse Sklavengeschwätz!“, brauste ich plötzlich auf, erhob mich und trat an das Fenster. Bestimmt würde Epi nachbohren, aber ich hatte etwas Zeit gewonnen.

    Mein Blick folgte Priscas Kopfbewegung, als sie zum Sternenhimmel sah. Der Anblick vermochte mich für geraume Zeit von unserem Gespräch ablenken, denn die Weite des Firmaments strahlte Ruhe, Schönheit, Geheimnisvolles und Vertrautes zugleich aus. Zwei der Sterne mussten meine Eltern sein, meine ehemaligen. Mir wurde bewusst, dass sie mich auf jedem meiner Schritte beobachten konnten, und ich beschloss, ihnen Kummer weitestgehend fernzuhalten. Priscas Berührung brachte mich in die Wirklichkeit zurück, ich schaute sie an. Ein Händedruck oder eine Umarmung konnten mehr sagen als Worte, beides nahm ich dankbar an. Die nächsten Augenblicke vergingen weiterhin schweigend, weil jeder seinen Gedanken nachhing, aber in Priscas Nähe spielte es keine Rolle, ob das gegenseitige Verstehen wortlos oder mittels Aussagen verdeutlicht wurde, es begleitete uns stets. Und obwohl ich nach gewissem Nachdenken ihrerseits bereits mit einer Einschränkung bezüglich ihrer vorherigen Aussage, meine Unbeherrschtheit betreffend, gerechnet hatte, wiederholte sie ihre Überzeugung, die meine Selbstzweifel nunmehr völlig verdrängten. Sie bewertete meine Reaktion als menschlich.


    „Danke.“ Mein erleichtertes Lächeln vervollständigte die Aussage zu einem knappen Satz. „Leider verfüge ich auch nicht über eine bewundernswerte Selbstbeherrschung und es macht dich mir eher noch sympathischer, wenn du ebenfalls kleine Fehler hast. Ich weiß, Perfektion wird angestrebt und mangelnde Selbstbeherrschung ist ein Fehler, ich kenne die Predigten. Sicher, man lebt friedlicher je weniger man sich aus der Ruhe bringen lässt. Gemütsruhe soll sogar erlernbar sein, sofern die Götter uns nicht von Geburt an damit beschenkt haben, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie tatsächlich erlernen möchte. Vermutlich lebt man beherrscht weniger intensiv.“


    Die Pause zwischen den Themen währte kurz. Prisca richtete meine Gedanken wieder auf Corvi, als sie weiter sprach. Wie immer, wenn ich neue und mir klug erscheinende Gedankenergüsse aufnahm, stellte sich eine innerliche Begeisterung ein, die mich kurzfristig in Schweigen hüllte, bevor ich nach erfolgter Prüfung der Aussage meine Anerkennung äußerte.


    „Du besitzt Lebensweisheit, Prisca. Und das, obwohl du so jung an Jahren bist. Um ehrlich zu sein, wäre ich nicht von allein auf den Gedanken gekommen, dass Männer der Überzeugung sein könnten, wir Frauen würden für solches Handeln Verständnis aufbringen. Nehmen wir einmal an, du hast Recht, dann besteht ihr Fehler aus Unkenntnis oder schlimmstenfalls aus Gedankenlosigkeit. Das macht den Akt als solchen nicht besser, aber vielleicht erträglicher.“ Meine Brauen zogen sich zusammen, was stets ein Zeichen für angestrengtes Nachdenken war. „Vorerst“, betonte ich. So lange, wie wir still darauf hoffen, sie mögen von selbst ihren Irrtum begreifen. Das wiederum bedeutet, wir müssen mit ihnen sprechen.“


    Erst jetzt gewahrte ich, wie mich Prisca zeitweise musterte, weil ich auf ihrem Antlitz nach einer Antwort suchte. Ein winziges Kopfschütteln und Schulterzucken, das von Ratlosigkeit zeugte, leitete meine Frage ein. „Was glaubst du, wie er darauf reagieren würde, wenn ich ihn einmal darauf anspreche?“

    Ich fuhr zurück, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde, und fühlte mich ertappt wie als kleines Mädchen, als ich an der Tür lauschte, hinter der ich Mutter und Vater vermutete. Wissen konnte man das nie bei den nachfolgend merkwürdigen Geräuschen, aber von der Logik her musste es stets so gewesen sein, wenn ich sie doch mit eigenen Augen hineingehen sehen hatte. Ein böser Blick traf Nordwin, der mich fast zu Tode erschrocken hatte, bevor ich Epis Zimmer betrat. Zum Nachdenken kam ich allerdings nicht, weil ich in alt bekannter Art umarmt und liebevoll zugedichtet wurde. Erst nachdem sie mich aus ihren Armen entlassen hatte, konnte ich sie meinerseits begrüßen.


    „Tut mir leid, Epi. Ich hatte mich verkrochen, weil es so viel zu grübeln gab.“ Ich setzte eine schuldbewusste Miene auf, während ich mich ergeben zu einem Sessel schieben ließ. Und obwohl die Zeit recht knapp zum Umdrehen war, schaffte ich es noch rechtzeitig, bevor ich dem Druck von Epis Händen nachgab und mich auf die Sitzfläche fallen ließ. Dem Fragenerguss, der mich gänzlich unvorbereitet traf, folgte Apfelmost in einem Becher, den ich dankend annahm und zunächst einen Schluck trank. Nach dem Absetzen gewahrte ich ihren gespannten Blick, musste schmunzeln und zuckte gleichzeitig ratlos mit den Schultern.


    „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Und was meinst du mit: ‚Ich habe davon gehört’? Wovon denn? Eigentlich wollte ich dir von einer großartigen Lebensweisheit berichten, die sich gerade in meiner jetzigen Situation wunderbar anwenden ließe. Na gut, sofern ich sie alleine anwenden kann.“


    Ich seufzte vernehmlich. „Ach, Epi. Es ist so viel passiert.“ Vermutlich würde ich mehr als eine Stunde Monolog benötigen, um auch nur annähernd die Vorfälle der letzten beiden Jahre anzureißen. Allein das letzte halbe Jahr bot Stoff für einen ganzen Nachmittag, wenn man ihn auswalzen würde.

    Die Tage vergingen ohne nennenswerte Ereignisse. Ostia schien ebenso wenig Anreiz für einen Ausflug zu bieten wie Mantua, also weilte ich häufig auf meinem Zimmer, stellte Überlegungen an, las in irgendwelchen Büchern, dachte nach. Bei der Lektüre stieß ich auf einen Absatz, der mich nicht nur nachdenklich machte, sondern regelrecht bannte. Wieder und wieder las ich jene Zeilen, grübelte über diese einleuchtenden Zeilen nach und fragte mich, warum ich nicht selbst auf so schlaue Gedanken gekommen war. Um sie mit jemand zu teilen, rutschte ich vom Bett, setzte mich zunächst auf die Kante, legte den rechten Zeigefinger an die entsprechende Stelle und schlug das Buch zu.
    Lange musste ich nicht überlegen, wen ich besuchen wollte: Epi, meine Schwester, und Prisca, meine ehemalige Nichte, mit der ich bisher vieles geteilt hatte, lagen nahe. Ich entschied mich am heutigen Tage für meine Schwester, weil sie im Vergleich zu Prisca in weitaus weniger eingeweiht war. Ein Umstand, den ich hätte längst abändern sollen, aber immer vor mir hergeschoben hatte. Dabei lag meine Zurückhaltung keineswegs an ihr, sondern allein an meinem Bedürfnis nach ungestörter Nachdenkzeit. Gleichzeitig befreiten Gespräche mit Freundinnen immer, ich wusste das, und heute war mir danach.


    Ich erhob mich, verließ mein Zimmer und steuerte voller Tatendrang auf Epis Cubiculum zu. Die Hoffnung, nicht in das Redaktionsgebäude der Acta gehen zu müssen, trug mich bis vor ihre Tür. Ich hielt das Ohr nahe an das Holz, bevor ich mit den Fingerknöcheln anklopfte, konnte aber nicht in Erfahrung bringen, ob mein Versuch vergeblich sein würde.

    Zitat

    Original von Claudia Epicharis
    Sie hatte notgedrungen auf die erlabte Begleitung verzichtet und war allein gekommen, nur mit ein paar Sklaven im Gefolge. Eigentlich hatte Epicharis ja Deandra mitnehmen wollen, denn sie hatte das Gefühl, dass gerade Ablenkung ihr ganz gut tun würde, doch ihre ältere Schwester hatte sich weder überzeugen noch überreden lassen. Dennoch hatte Epicharis ihr gesagt, dass sie gern noch nachkommen konnte, sollte sie es sich anders überlegen.


    ... und nach einigem Überlegen, reichlichen Gegenargumenten und anschließendem Verwerfen hatte ich mich doch noch dazu aufgerafft, mich - wenn auch verspätet - für diese Hochzeitsfeier herrichten zu lassen. Gegen die Teilnahme sprachen meine Abneigung gegen Klatsch und Wein sowie meine private Situation, die mich kaum als unterhaltsamen Hochzeitsgast auszeichnen würde. Dafür sprachen die Ablenkung und die Gesellschaft für meine Schwester, wenngleich ich mich auch als Gesellschafterin derzeit vollkommen ungeeignet hielt. Vielleicht machte es die Situation leichter, dass ich hier kaum Angehörige meines Standes treffen würde. Mit ziemlicher Sicherheit würde mich hier jedoch keine Theaterveranstaltung mit beschämenden Inhalt erwarten, was mich durchaus beruhigte. In Begleitung meiner Sklavinnen Aintzane und Minna trat ich an die Porta heran und wartete darauf, dass eine der beiden für den Einlass sorgten.

    Offensichtlich war mein Anliegen kompliziert, denn Hungi versank in Schweigen. Möglicherweise tüftelte er aber auch bereits an einem Lösungsweg. Für mich, die ihn gerade erst wenige Minuten kannte, war es annähernd unmöglich, sein Verhalten richtig einzuschätzen. Da half weder ein sorgfältiges Mustern seiner Gesichtszüge, das Lesen in seinen Augen oder das Analysieren seiner Mimik und Gestik, sofern die überhaupt vorhanden waren. Es half also alles nichts, ich musste abwarten, bis er sich zur Sache äußerte, was nach Momenten des Nachdenkens auch geschah. Ich hob überrascht die Brauen, denn wieder einmal stellte ich fest, dass ich weder mit der Politik noch mit den Gesetzen besonders vertraut war. Es gab nach seiner Aussage also Betriebe, deren Führung noch nicht einmal als erlaubt oder unerlaubt für Senatoren und Patrizier festgelegt war.


    „Tja, bei dem strittigen Betrieb handelt es sich um eine Töpferei. Ich war bislang der Meinung, die Weiterverarbeitung von Ton, als Erdrohstoff, sei für meinen Stand erlaubt. Die Tongrube befand sich ursprünglich sogar in aurelischem Besitz.“


    Trotz der kursierenden Hitzepartikel, die der Wein in mein Blut entsendet hatte, funktionierte der Verstand noch klar, wenn auch etwas langsamer als sonst. Mein Interesse war allgemein geweckt, der Weingenuss machte mich redseliger und Hungis Verhalten flößte Vertrauen ein. Ich hob den Becher zum Zeichen, dass ich Durst verspürte, wenngleich mir klares Wasser lieber als der verdünnte Wein gewesen wäre. Einen Hinweis darauf sparte ich mir aber, weil meine Gedanken bereits wieder um das Thema ‚Betrieb’ kreisten.


    „Auf welche Betriebe trifft denn die unsichere Gesetzlage zu? Ich meine, der eher geringere Fehler bei der Führung.“ Ich verstand auch nicht, wieso die Sachlage „noch nicht genau gesichert“ war, wann dies der Fall sein würde, usw. Viele Fragen, aber es gehörte sich nicht, den Gespächspartner zu überhäufen.

    Die Anspannung bewirkte, dass sich meine aneinander gelegten Hände zu Fäusten ballten, als im Zuge des vierten Aktes die Sklavin, die offensichtlich meine Rolle spielte, sich derart offensichtlich anbiedernd verhielt, wie sich eben nur eine Sklavin verhalten konnte. ICH würde niemals vor der versammelten Familie sehnsuchtsvoll seufzen. Ich hasste sie, den Autoren und diese Aufführung dafür. Vor allem, als diese dumme Pute auch noch den Corvusdarsteller kräftig gegen das Schienbein trat. Dieses Verhalten war nicht nur primitiv, es war beschämend. Ich blickte weder nach rechts noch nach links, blieb in starrer Haltung sitzen und wünschte mir das Ende dieses Stücks herbei.
    Nach einem weiteren Akt, schien es endlich erreicht zu sein. Stille breitete sich aus, die mir ein Verlassen des Tablinums unmöglich machte. Mein Blick hing noch immer gebannt auf den Darstellern, als ich seitlich ein rhythmisches Klatschen vernahm. Mein Kopf wandte sich der Geräuschquelle zu, ich erfasste Prisca – meine Freundin Prisca – und riss vor Erstaunen die Augen auf. Der Schreck, die Ungläubigkeit, ja das Entsetzen saß mir in den Gliedern, als sie zur Bühne schritt.


    „Prisca. Doch nicht du“, murmelte ich in der Annahme, sie sei nicht nur als Zuschauer begeistert, sondern womöglich doch Initiator dieses Stücks. Nach lobenden Worten kam jedoch irgendwann die Erklärung, dass es sich bei der Aufführung offensichtlich um eine Eigenmächtigkeit der Sklaven handeln würde. Der Schock, Prisca könne die Autorin sein, verschwand in dem Moment, als sie eine Auspeitschung für die Sklaven zur Abstimmung stellte. Ich atmete erleichtert aus, legte meine Hand auf das Dekolleté und spürte, wie erhitzt vom Stress der Körper im Gegensatz zu den Händen war. Der Herzschlag dröhnte durch den Brustkorb, ich fühlte mich miserabel und wollte so schnell es ging aus meinem ehemaligen Elternhaus. Mein Blick war erneut von Unverständnis gekennzeichnet, als einige Gäste in den Applaus einfielen, wobei ich in der Annahme ging, es müsse jeder die Ähnlichkeiten mit realen Personen erkannt haben. Meine Auffassung, die furchtbarste Rolle in diesem Stück zugewiesen bekommen zu haben, hätte mir zum jetzigen Zeitpunkt niemand ausreden können. Und natürlich war es für diejenigen amüsant, die weitaus besser weggekommen waren. Was aber amüsierte Corvinus, der soeben erklärte, ihm habe das Stück gefallen? Ein zweites Mal richteten sich meine Augen auf eine mir wichtige Person – zuerst Prisca, nun er. Wie konnten gerade diese beiden Menschen eine solch verzerrte Parodie meiner Person zulassen?


    Essen? Triclinium? Völlig ausgeschlossen, nichts wäre zum jetzigen Zeitpunkt absurder, als etwas zu essen. Ich erhob mich, stellte ein Zittern der Beine fest, straffte jedoch die Haltung, um für niemand meine Schwäche sichtbar werden zu lassen. Plötzlich stand Aintzane unweit von mir. Ich winkte sie heran, um für andere möglichst unhörbar meine Anweisungen zu geben.


    „Gib Prisca, Corvinus und meinem Vater meinen Aufbruch bekannt. Sag, es geht mir nicht gut. Ich erwarte deinen Bericht bei der Porta.“


    Während meine Füße die Schritte von allein setzten, kreisten meine Gedanken um den Inhalt des Theaterstücks.

    Im weiteren Verlauf der Vorstellung, bei dem immer wieder die eindeutige Aufforderung dieses Camrynverschnitts an den Gastgeber kam, wich langsam mein Entsetzen und wandelte sich mehr und mehr in Wut. Das schmerzhafte Ziehen in der Herz- und Bauchgegend ebbte ab, stattdessen füllte sich scheinbar der gesamte Brustkorb mit einem ungeahnt hohen Druck, sodass ich an mich halten musste, um jene Aggression nicht herauszulassen. Was bildete sich eigentlich diese Sklavin ein? Wie vermessen zudem von dem Autor dieses Stückes? Wie taktlos von Corvinus, dieses Thema in die Öffentlichkeit zu bringen! Es seinen Gästen als Belustigung zu servieren. Allein der Fortlauf des Theaterstücks bewirkte, dass ich weiterhin auf meinem Platz sitzen bleiben musste und an niemand meinen Ärger abreagieren konnte. Gleichwohl linderte dies nicht den Druck, sondern verschärfte ihn eher noch. Trotz allem um eine relativ neutrale Ausstrahlung bemüht, konnte ich das erboste Funkeln der Augen nicht unterdrücken, als die Handlung auf der Bühne fortschritt und in Szene 4 auch noch ein Dialog in den Vordergrund rückte, den ich auf meine Person bezog.


    Wenigstens redete die Darstellerin Diana in der Folge keinen Müll, sondern äußerte allesamt Ansichten, die jemand in dieses Stück gebracht hatte, der mich offensichtlich gut kannte. Noch immer fragte ich mich, wer dafür verantwortlich war, denn ich wehrte mich innerlich nach einiger Überlegung doch dagegen, die Verantwortung bei Corvinus zu suchen. Bei allen Fehlern, die er hatte, aber hinterhältig, taktlos oder gar bösartig war er nicht. Bei den Göttern, wer aber trug sonst die Schuld?!


    Angespannt wie ein Pfeil, der inzwischen in tödliches Gift getränkt worden war, verfolgte ich Wort für Wort auf der Bühne. Und plötzlich ... ein Patzer ..., bei dem ich nicht sagen konnte, ob er gewollt war oder nicht. Camryn stürzt in ihrer Rolle als Camylla von der Bühne und landete - wie konnte es anders sein? - unmittelbar vor Corvinus, ihrem eigentlichen Herrn und nicht dem Schaustellerkollegen. Ich rollte entnervt die Augen über so viel Anbiederei, die für mich kein Zufall mehr sein konnte. Angewidert schaute ich fort. Mein Blick suchte wieder Prisca. Wenn ich sie doch nur zwischendurch einmal fragen könnte, von wem dieses Stück war, und wer, zum Hades, die Erlaubnis zur Aufführung gegeben hatte.

    Hungaricus war für mich auf eine gewisse Art unkalkulierbar. Erwartete ich, dass er geschäftstüchtig wurde, wagte er einen Vorstoß, der eher auf das Konto des Mannes in ihm ging als auf das des Rechtskundigen oder der wohlwollenden Vaterfigur. Und erwartete ich Ernsthaftigkeit, erfolgte ein Lachen. Eine gewisse Nervosität machte sich in mir breit, als er unerwartet den Oberkörper vorbeugte, was nicht unbedingt zur Stellung der Nachfrage notwendig gewesen wäre - die musternden Augen, der direkte Blick … dem ich noch nicht einmal ausweichen konnte. Ein Lächeln, das die aufkommende Verlegenheit überspielen sollte, rettete mich über den Moment, in dem ich gewahr wurde, dass die Durchblutung der Gesichtshaut stieg. Es dauerte länger als üblich, bevor ich wegen unzureichender Geistestätigkeit zu einer Antwort fähig war.


    „Hm, ja? Für mich ist es eines“, erwiderte ich nur zögerlich, was Hungi hoffentlich nicht auf fehlende Überzeugungskraft zurückführen würde. „Nehme ich eine Strafe an, dann fühle ich mich auch schuldig“, setzte ich daher etwas flüssiger nach.
    Plötzlich verspürte ich ebenfalls Durst und trank einige Schlucke der für mich gefährlichen Flüssigkeit. Praktisch zusehends färbte sich dadurch das Wangenrot noch eine Nuance tiefer. Wie gut, dass ich sicher saß, dachte ich bei mir. Wein fuhr mir in aller Regel sofort in die Beine und den Kopf, weil ich ihn nicht gewöhnt war. Über die möglichen Auswirkungen dachte ich momentan auch nicht nach, denn zum einen verspürte ich Durst, zum anderen arbeitete mein Hirn auf Hochtouren, um den Gastgeber richtig deuten und verstehen zu können.


    „Ja, also… Ich habe offensichtlich so einen Betrieb geführt, wobei ich immer der Annahme war, die Weiterverarbeitung von aus dem Boden gewonnenen Gütern sei erlaubt. Davon einmal abgesehen habe ich mir den Betrieb nicht gekauft, sondern vor vielen Jahren geerbt. Ich habe ihn einfach zugeschrieben und die Betriebsführung genehmigt bekommen und mich darauf verlassen, dass dies seine Ordnung hat. Mir kam daher auch der Gedanke an eine Art Gewohnheitsrecht, aber ich bin kein Fachunkundiger auf dem Gebiet des Rechts.“


    Nicht bewusst, aber offensichtlich, um die Hände zu beschäftigen, drehte ich den Weinbecher mehrmals um die eigene Achse.

    Ich konnte nach Priscas einführenden Worten durchaus behaupten, gespannt auf dieses Theaterstück zu sein. Mit einem Lächeln empfing ich sie, als sie sich von der Bühne in den Zuschauerraum begab und ganz in meiner Nähe Platz nahm.


    „Ich wusste gar nicht, dass du Interesse und Talent zum Spielleiter hast“, flüsterte ich ihr zu, bevor sich die Vorhänge zur Gänze öffneten und das Stück begann.
    Der Vorstellung der Darsteller folgte die erste Szene, beides nahm meine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Zusehends entstand eine winzige Falte zwischen den Brauen, die sich, je mehr das Stück voranschritt, noch vertiefte. Zu viele Ähnlichkeiten zwischen den Personen und der Handlung mit erlebten, wenn auch vergangenen, Situationen drängten sich auf, als dass ich die Parallelen noch länger fernhalten konnte. Langsam wurde ich mir der Tragweite dieses Theaterstückes bewusst. Und nicht nur der Tragweite, sondern auch der mir zugedachten Rolle: ‚Falls deine Verlobte zu emotional ist ...’ Ein Schauer des Schreckens lief mir über den Rücken.


    Bei Camyllas Anfrage an Corvus, ob sie es ‚wie immer’ machen, und seiner Erwiderung, nicht jetzt, sondern später, konnte ich das aufkommende Entsetzen nur noch dürftig in Grenzen halten. Herzklopfen stellte sich ein, eine imaginäre Faust drückte schmerzhaft in die Magengegend und die Fingerspitzen der linken Hand legten sich schützend vor den Mund, um keinen Entsetzenslaut herausschlüpfen zu lassen. Mit schreckensgeweiteten Augen schaute ich in der Hoffnung zu Prisca hinüber, sie möge mir eine stumme Antwort auf meine Frage nach dem Ausgang dieses Stückes geben. An ein Happyend konnte ich kaum glauben, vielmehr fürchtete ich mich vor jeder neuen Szene. Meine mühsam aufgebaute innere Distanz zu den Vorkommnissen der Vergangenheit kam ins Schwanken. Beobachten konnte man dies freilich nicht, aber der starre Blick zur Bühne, die fahle Gesichtshaut, die kalten Hände waren äußere Anzeichen meines Unwohlseins. Dabei wollte ich nie wieder Schwäche zulassen...

    Oh, ich hatte nicht beabsichtigt, Prisca ein Kompliment zu entlocken, aber nichtsdestotrotz freute ich mich natürlich über ihre Worte.


    „Das ist lieb, danke“, erwiderte ich ihr lächelnd. Mit Prisca war alles unkompliziert, ich fühlte mich stets wohl, sogar aufgehoben, und dass, obwohl sie jünger als ich war. Und ich dachte ebenfalls nicht daran, ihre Hand loszulassen – zumindest so lange nicht, bis sie mit dem Weinopfer begann. Ich bedauerte, auf sie wegen der Vorbereitungen für das angekündigte Theaterstück verzichten zu müssen, sah aber selbstverständlich die Notwendigkeit ein. Prisca verabschiedete sich mit einem Händedruck und der Aussicht, sich später noch einmal zu treffen. Ich nickte, denn genau das würde mich freuen, bevor ich ihrem Blick folgte. Sie hatte Corvinus und Helena ins Auge gefasst, aber da ich nichts besonderes in einer Unterhaltung zwischen Verwandten fand und mir ohnehin vorgenommen hatte, nicht übertrieben oft über ihn nachzudenken, wandte ich alsbald wieder den Kopf und schaute Flavius an. Ich für meinen Teil wollte gerne ins Tablinum umziehen, um mir einen guten Platz zu sichern.


    Wie es schien, hatte er ähnliche Pläne, und ich wollte mich bereits mit den Worten „Sehr gerne“ in Richtung des Tablinums drehen, um mich in seiner Begleitung zum Austragungsort des Lustspieles zu begeben, als er meine Bewegung mit einer Entschuldigung unterbrach und forteilte. Ein gewisses Amüsement entbehrte die Situation nicht, die sich nachfolgend abspielte. Ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als er durchaus hörbar seinen Sklaven zurechtwies. Da er allerdings anschließend nicht zurückkehrte, schloss ich mich kurzerhand dem Menschenstrom an, der dem Tablinum zustrebte.