Zum Glück fragt Corvinus nicht nach, welche Geschichten Lucilla schon alles erlebt hat. Denn nichts könnte Lucilla dann noch davon abhalten, von den Geschichten zu erzählen, die sie schon erlebt hat. Zugegeben, so viele sind es eigentlich nicht und so toll sind sie auch nicht, aber das heißt ja nicht, dass man nicht den ganzen Tag drüber erzählen könnte, ohne Punkt und Komma, einen Satz nach dem nächsten. Auf der anderen Seite entgehen dem Magistrat tatsächlich ein paar Kuriositäten, vom heimlichen Kuss mit Spartakuss - dem größten, schönsten, tollsten und unglaublichsten Gladiator aller Zeiten, über die aufregendste Nacht die je eine Frau in Rom mit dem größten, schönsten, tollsten und unglaublichsten Senator aller Zeiten verbracht hat, bis hin zur Piratenkreuzfahrt auf dem Mare Internum mit dem widerwärtigsten, abscheulichsten, schrecklichsten und scheußlichsten Piraten aller Zeiten (der aber trotzdem ziemlich gut aussieht, was Lucilla natürlich niemals zugeben würde).
Aber Corvinus Frage wiegelt sowieso alle kuriosen Schwärmereien ab. "Ja, natürlich ist Avarus Senator. Aber es gibt ja solche und solche und ich kann dir beim Furunkel meiner Großtante Drusilla versichern, dass er auf keinen Fall für dieses Gesetz gestimmt hat. Das wäre ja noch schöner." Fast ist sie ein bisschen beleidigt. Corvinus scheint sich nicht im Senat auszukennen, immerhin ist Avarus manchmal sogar als Geizhals und Raffzahn verschrien, da würde er sich mit so einem Gesetz bestimmt nicht selbst das Wasser abgraben. "Er hängt an seiner Architektur wie ich an meinem Marmor." Genau genommen hängt damit auch Avarus an Lucillas Marmor. "In Africa haben wir auch einen Marmorbruch besichtigt, hach, ich wünschte, ich könnte meine Anteile dort ausbauen, aber wozu, wenn ich doch alles verkaufen muss." Lucilla seufzt theatralisch. "Avarus hat dort das Postwesen besichtigt, in Africa meine ich. Solche Stationsüberwachungen sind von Zeit zu Zeit notwendig und ich reiste mit ihm, immerhin war ich selbst lange genug im Cursus Publicus und das war geschickter, als einen aktiven Praefectus Vehiculorum von seiner Arbeit abzuziehen. Hach, die Gegend ist wirklich unglaublich! Bezaubernd und erschreckend, immerhin gibt es nicht nur Oasen dort sondern auch endlose Wüste. Es ist fast noch beeindruckender als Germania, obwohl ich Germania absolut bezaubernd finde, noch nie habe ich eine Provinz gesehen, die so grün ist. In Alexandria waren wir allerdings nicht, obwohl Avarus vom Imperator die Erlaubnis dazu erhalten hatte. Aber uns fehlte schlichtweg die Zeit, man kann so eine lange Reise einfach schlecht planen, vor allem nicht die kleinen Zwistigkeiten, die in manchen Dörfern und Städten dort herrschen."
Schon wieder ins Plaudern verfallen wird Lucilla zum Glück unterbrochen, als die Tür sich öffnet und ihnen Einlass gewährt wird. Ein wohliger Schauer überkommt Lucilla, das ist ja sowas von aufregend! Live und in Farbe ist sie dabei wenn ein Magistrat der Stadt Rom seinem Amt nachgeht und möglicherweise einen unfassbaren Fall von Erbschaftshinterziehung aufdeckt! Jocasta wird schon in Ohnmacht fallen, wenn sie das nur erzählen wird! Mutig und voller Elan dringt Lucilla in die Casa ein. Es ist immer noch alles ein bisschen schmuddelig, so wie es Marullus hinterlassen hat.
Lucilla setzt sich zu Corvinus, nickt und raunt ihm leise zu: "Der alte Mann hatte für eine schicke Wohnung nichts übrig, angeblich hätte er sowieso die Hälfte davon ja gar nicht mehr gesehen, hat er immer gesagt. Aber Marullus hat im Viertel alles gesehen und gehört, er hatte nur keine Lust auf den ganzen Dreck und die Arbeit in der Casa. Ihn hat es nicht gestört, aber ich wette, Crassipes wird das ganze Haus auf den Kopf stellen, sobald das Erbe durch ist, immerhin gehört ja auch ein dicker Batzen Sesterzen dazu." Woher sie das alles weiß, erwähnt Lucilla besser nicht. Aber da der Vigintivir ja sozusagen ebenfalls ein Eingeweihter ist, geht sie davon aus, dass er es auch nicht wissen will.
Hirrius Crassipes tritt hoch erhobenen Hauptes in das Atrium. Er sticht aus der Szenerie wie purpurne Schuhe zu einem grünen Kleid - obwohl das bei ganz speziellen Anlässen durchaus der Hingucker sein kann. Er trägt eine Toga, als wäre er eben auf dem Weg aus dem Haus gewesen, in edlem blauen Stoff, darunter eine ebenso qualitativ hochwertige Tunika und eine Kette aus dicken goldenen Gliedern um den Hals - vermutlich seine Vermögensanlage. Obwohl Lucilla ihr Geld auch gerne in Schmuck anlegt, findet sie diese Art der Zurschaustellung des Vermögens bei Männern immer ein bisschen albern. Vor allem, weil ja doch immer deutlich wird, dass außer diesem Kettchen nicht viel da ist, während bei einer Frau der Schmuckbehang nur vom allgemeinen Level ihres Vermögens kündet. Vielleicht mag sie Crassipes aber auch nur nicht, weil Marullus schon so einiges über ihn erzählt hatte.
"Salve, decemvir litibus iucandis, salve auctrix Decima. Willkommen im bescheidenen Heim meines Onkels. Ich gehe davon aus, du kommst wegen Marullus Testaments? Ich wusste gar nicht, dass die vigintiviren die Erbschaften neuerdings persönlich überbringen. Etwas zu trinken?" fragt er und klatscht in die Hände, worauf hin direkt eine Sklavin angesprungen kommt.