Mondlos und düster zieht sich die Nacht über das Imperium Romanum dahin und während sich in Rom in dieser Dunkelheit nur Gauner und Verbrecher auf die Straße wagen, liegt über der kleinen Küstenstadt Ancona ein samtenes Tuch aus Ruhe und Frieden. Bis auf ein paar völlig überflüssige Nachtwächter, die gelangweilt im Schein ihrer Fackeln durch die Straßen schlendern, schlafen alle Bewohner der Stadt den Schlaf der Gerechten. Alle Bewohner? Nicht ganz. Ein verrückter, alter Mann sitzt in einer schäbigen Insula an der kleinen Flamme seiner einfachen tönernen Feuerschale und kichert unermüdlich vor sich hin, erzählt den Geistern des Feuers von der Jungfrau, die sich immer wieder selbst zur Jungfrau macht. Ein paar Straßen weiter in einer schönen, weiß getünchten Casa am Meer, die beinahe schon eine kleine Villa ist, rauft sich ein Eques im Schlaf die Haare - er ist Bankier und gehört nicht wirklich zu den Gerechten dieser Welt, doch zumindest ist ihm sein Schlaf vergönnt. Und ein Stück die Küste hinauf und wieder etwas ins Landesinnere, in einer kleinen Casa am Stadtrand wälzt sich Lucilla schweißgebadet in ihrem Bett und versucht verzweifelt aus dem Schlaf zu erwachen.
Das erste Erwachen führt in bleischwere Dunkelheit, sie spürt den im Schlaf zitternden Körper des kleinen Galliers Aeddan an ihrer Seite. Sie hört das Schlurfen der Ruder, die unter unhörbarem Ächzen der Ruderer aus dem Wasser gezogen werden, gefolgt von dem dumpfen Platschen, das bei ihrem Eintauchen folgt. Das monotone Ächzen und Platschen wäre beruhigend, würde der Takt nicht durch ein scharfes Kommando durchbbrochen werden, ausgesprochen durch eine Stimme, die Lucilla nie wieder vergessen wird, und sie weiß, dass dies nur ein Traum ist. Erwachen, sie muss nur erwachen.
Das nächste Erwachen endet in einer leicht schaukelnden Kabine, die Teil eines Schiffes ist, das sanft von den Wogen des Mare Internum getragen wird, und es geht einher mit einem leicht süßlichen Duft. Es ist der Duft nach dem Öl einer reichen Frau, einer Frau die längst tot am Meeresgrund liegt, deren Schmuck in der Truhe an Bord eines Schiffes liegen, das längst untergegangen ist, vielleicht gar nicht weit von eben dieser Position, die das schaukelnde Schiff gerade inne hat. Gleichsam ist es der Duft einer Sklavin, einer verängstigten Sklaven, die von Freiheit träumt, die Lucilla das Öl mit ihren Fingern an den Hals tupft und ihre Finger schließlich verschämt lächelnd über ihre eigene Haut streicht. Der Duft nach Tetischeri, der Sklavin die ebenfalls längst tot am Grund des Meeres liegt, ein Duft, den Lucilla nie wieder vergessen wird, und sie weiß, dass dies nur ein Traum ist. Erwachen, sie muss nur erwachen.
Das nächste Erwachen wird wieder begleitet vom fernen Rauschen und Glucksen des Wassers des endlosen Mare Internum, von der weichen, warmen Hand über Lucillas Mund und vom eisig kalten Metall des Dolches an ihrer Kehle. Beinahe beruhigend hallen die geflüsterten Worte in ihren Ohren wider, 'Still oder ich töte Dich!', und einen Moment lang spürt sie Mitleid mit demjenigen, dem diese ausgelaugte Stimme gehört, dessen Blut in trägen Tropfen auf sie herniederfällt. Völlig apathisch lässt sie seinen Fluch über sich ergehen, nur ein leichter, eisiger Hauch breitet sich über ihren Körper aus, denn würde sie sonst eine Reaktion zeigen müssen, so könnte sie nur noch hysterisch lachen. Vermutlich hat er Recht, sie ist der Fluch, sie ganz alleine, doch mit diesem Wissen fühlt sie sich auf einmal sicher. Quintus Tullius bindet sein Leben an das ihre, er würde sie nicht im nächsten Augenblick umbringen und für sie besteht keinerlei Gefahr, denn bei den Göttern, er würde nicht einmal in naher Zukunft sterben. Hätten die Götter dies mit ihm vor, so wäre es längst geschehen. Kälte bleibt auf Lucillas Lippen zurück, als sich die Schritte des Piraten leise entfernen während sie regungslos an die hölzerne Decke in der Dunkelheit über sich starrt. Ihre Lippen bewegen sich, doch ihre Worte sind kaum mehr als der Hauch eines Flüsterns. "Mögen die Götter dir ein langes Leben schenken, Quintus Tullius, und mögen die Erinyen jede einzelne Sekunde davon begleiten."
Langsam beginnt Lucillas Blick zu verschwimmen, kleine salzige Bäche rinnen aus ihren Augenwinkeln auf das harte Kissen hinab, das diese Bezeichnung eigentlich nicht einmal verdient. Das Blut des Piratenkapitäns trocknet auf ihren Wangen an und Kälte zieht durch Lucillas Körper, obwohl sie unter der warmen Decke liegt, eine Kälte, die Lucilla nie wieder vergessen wird, und sie weiß, dass dies nur ein Traum ist. Erwachen, sie muss nur erwachen.
Das letzte, das tatsächliche Erwachen findet in Ancona statt. Lucilla erwacht in einem weichen Bett, doch Quintus Tullius ist kein Traum. Er ist weit weg, vielleicht, und doch hat Lucilla permanent das Gefühl, seinen Körper dicht an dem ihren spüren zu können, seinen Geist neben dem ihren stehen zu sehen, und sein Flüstern mit dem Säuseln des Windes vor den Fenstern zu vernehmen. Es ist Tage her, seit sie sich von Horatalus verabschiedet hatte, mit den Worten, dass er ihr eine Nachricht nach Rom senden solle wenn er Quintus Tullius eingefangen hat, denn ihr Wunsch, bei seiner Kreuzigung anwesend zu sein, gelte noch immer. Doch längst war es nicht mehr ihr Ansinnen, bei seinem Tod Erleichterung zu verspüren, denn sein Tod würde auch der ihre sein. Lucilla hat keine Ahnung, was sie tatsächlich tun würde, doch sie glaubt nicht daran, dass der Pirat sich einfangen lassen wird. So verachtenswert Quintus Tullius auch ist, er ist nicht dumm.
Mit Nichts in Ravenna angekommen war Lucilla froh gewesen, dass Hortalus ihr weiteres Geleit bis nach Rom zugesichert hatte, doch sie wollte den Dienst der Classis nicht zu lange in Anspruch nehmen. Sie ließ sich und Ambrosius bis nach Ancona bringen, zur Casa Vipsania, in der eine alte Freundin Großtante Drusillas lebt, bei welcher Lucilla als junges Mädchen ein paar Mal mit ihrer Großtante zu Besuch gewesen war. Vipsania freute sich Lucilla zu sehen und als sie ihren Zustand bemerkte, stellte sie kaum Fragen. Sie sorgte dafür, dass Lucilla - und auch Ambrosius in den Sklavenunterkünften - das beste Essen, neue Kleidung und ausgiebige Bäder bekam, und stellte es ihr frei, so lange zu bleiben, wie sie will.
Obwohl Quintus Tullius immer um sie herum zu sein scheint, genießt Lucilla die Ruhe und Einsamkeit Anconas. Sie macht sich keine Gedanken darüber, wie die Zeit vergeht, denn mit der Ankunft in Italia verspürte sie mit einem Mal nur noch wenig Drang nach Rom zu gelangen. Sie fürchtet sich vor den drängenden Fragen, auf die sie keine Antwort weiß. Wenn es etwas gibt, was sie mit ihrer Erinnerung tun möchte, dann ist dies weder sich daran zu erinnern, noch darüber zu reden. Sie will nicht von den vielen Toten auf dem gallischen Handelsschiff berichten, nicht von dem irren Blick in Tuillius Augen als er sie gepackt und verschleppt hat, nicht von dem kleinen Aeddan, der seinem Fieber erlegen ist, nicht von den grausamen Piraten, nicht von Tetischeri, die tot am Meeresgrund liegt, nicht von dem hässlichen Dardashi, nicht von der Schuld, die an ihren Händen klebt, von dem Römer, der tot am Grund des Meeres liegt, aber nicht ertrunken, sondern erstochen von einer Römerin, und schon gar nicht möchte sie über Quintus Tullius sprechen oder den Fluch, der sie letztlich nur selbst eingeholt hat und an ihr klebt wie eine tote Fliege an der Wand. Tagein, tagaus sitzt Lucilla im Peristyl des Hauses, genießt die warmen Sonnenstrahlen des milden Winters, genießt selbst den scharfen Wind, der ab und an durch den Garten weht, genießt das Dahinfliegen der Tage ohne Furcht und das fürsorgliche Gluckenverhalten Vipsanias.
Wenn Lucilla in der tiefe der Nacht schweißgebadet aus ihren Albträumen erwacht, dann genießt sie dieses Erwachen. Und je weiter die Tage voranschreiten, desto weniger erwacht sie in den Nächten und desto eher dreht sie sich dann einfach nur um und schläft weiter, in Ruhe bis zum nächsten Morgen.
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