Beiträge von Decima Lucilla

    Nach dem Opfer an Neptun durchquert Lucilla die halbe Stadt zu Fuß. Sie genießt die vielen Menschen auf der Straße, die Händler in ihren kleinen Geschäften, die wie überall anders im Imperium ihre Waren anpreisen, und die Garküchen am Wegesrand, aus denen der verlockende Duft nach dicker Suppe in halben Brotlaiben strömt. Vipsania hat ihr genau erklärt, wo sie in Ancona was findet und es ist nicht schwer, diesen Weisungen zu folgen. Wer sich in Rom auskennt und zurechtfindet, der schafft das auch in jeder anderen italischen Stadt. Das Heiligtum der Mater Magna lässt sich kaum als Tempel bezeichnen. Zwar bestehen viele Tempel nur aus einem einzigen Raum, doch dieses Heiligtum gleicht eher einem kleinen Haus und vermutlich war es das irgendwann einmal. Nachdem Lucilla ihre Sandalen ausgezogen hat, durch die Eingangstür tritt und der schwere Vorhang der diese verdeckt hinter ihr zu fällt, scheint es ihr, als betrete sie eine andere Welt. Dicke Rauchschwaden hängen schwer unter der niedrigen Decke, hüllen den Raum in einen süßlichen Duft, der Boden vor den seitlichen Wänden steht über und über voll von brennenden Talgkerzen und kleinen Öllampen und auf dem Altar stehen mehrere Schälchen mit Räucherungen, von denen der Rauch aufsteigt. Anders als in ihrem großen Tempel auf dem Palatin gibt es in diesem kleinen Tempel auch eine Darstellung der Mater Magna. Es ist eine Kybele-Statue auf deren Kopf eine Krone aus Türmen sitzt, in der Hand hält sie eine Ähre und ein Zepter, in der anderen ein kurzes Stück Zügel, doch der untere Teil der Statue - vermutlich war es einst ein Wagen, der von Löwen gezogen wird - fehlt.


    Lucilla verzichtet darauf ihr Haar mit der Palla zu bedecken, denn es gibt niemanden hier, der sie stören könnte. Ihre nackten Füße bewegen sich langsam über den mit Teppichen ausgelegten Boden zum Altar hin, vor dem sie sich niederkniet. Den Korb stellt sie wieder neben sich ab, holt dieses mal keinen Weihrauch heraus - wozu auch in diesem eh schon Rauchgeschwängerten Raum - sondern ein Bündel Blumen.


    "Mater Magna, Du hast in den letzen Wochen über mich gewacht, und dafür danke ich Dir. Auch wenn mein Lebensfaden manches mal dünn war, Du hast ihn zusammengehalten, hast mich sicher in Deinem Schoß bewahrt und mich zurück in mein Leben geführt." Sie nimmt einen Opferkuchen aus dem Korb und legt ihn neben die Blumen. "Für mein Leben danke ich Dir, doch ich bin heute hier, um für ein anderes um Deine Gunst zu bitten." Sie blickt flehend zu dem Kultbild auf, das steinern über sie hinweg blickt. "Ich weiß, er verdient Deinen Schutz nicht, nicht nur, weil er ein Mann ist, sondern auch, weil er ein schlechter Mensch ist, aber was soll ich denn tun?" Der steinerne Blick bleibt, Kybele zeigt keine Regung. Lucilla senkt ihren Blick wieder und holt noch einen weiteren Opferkuchen aus ihrem Korb. "Ich weiß nicht, wo er ist, aber Du weißt es sicher. Bitte denke einfach daran, dass mit seinem Leben auch meines sicher ist, eigentlich ist es also doch eher die Bitte um mein Wohl." Irgendwie ist das alles sehr verwirrend. Einen Mann zu Hassen und gleichzeitig für sein Leben Opfer zu bringen, das scheint Lucilla wie ein Fluch. Genau genommen scheint es ihr nicht nur so, denn es ist ein Fluch. "Auf jeden Fall," sie legt den Kuchen auf den Altar, "bitte pass auf Quintus Tullius Leben auf. Leiden soll er, soviel er es verdient, aber am Leben soll er bleiben."


    Ein feiner Windhauch bewegt den Vorhang an der Eingangstür, findet eine Lücke und lässt die Flammen im Inneren des Kultraumes ein wenig flackern. Ein erleichtertes, aber zaghaftes Lächeln findet auf Lucillas Gesicht und sie verharrt noch eine Weile schweigend. Im warmen Licht der Kerzen und mit dem süßlichen Duft der Räucherung hat der Raum etwas beruhigendes an sich, und es fällt Lucilla nicht schwer, noch ein wenig im Schutz der großen Mutter zu verweilen.

    Ein kleiner, rundlicher Mann mit wenig Haar auf dem Kopf, dafür mit um so mehr im Gesicht, klopft an die Tür der Casa an und teppert ungehalten mit der Fußspitze auf den Boden. Eigentlich hat er für solche Botengänge überhaupt keine Zeit, er ist immerhin der Hausvorsteher des hochgeschätzten Egilius Evander und steht nur vor der Porta, weil diese Botschaft so unglaublich dringend ist, dass ihn sein Herr noch am Stadttor Roms mit der Auslieferung beauftragt hat. Dass diese Botschaft so dringend ist, das bezweifelt Nugator - so der Name des Boten - sowieso, doch da nicht nur die reizende Vipsania seinen Herrn beturtelt hatte, sondern auch noch ihr Gast, die nicht minder reizende Decima, hatte Egilius Evander natürlich zugestimmt, sie so schnell und eilig wie möglich in der Casa Germanica vorbei bringen zu lassen. Und was Egilius Evander verspricht, das hält er - zumindest gegenüber weiblichen Wesen. Überhaupt bleibt ihm gegenüber Vipsania nicht viel übrig, nachdem sie ihn wieder einmal so fürstlich in ihrer Casa beherbergt hatte. Nugator war schon oft mit seinem Herrn in der Casa der edlen Vipsania gewesen und alles in allem hat sie sicherlich ziemlich viele Gefallen gut.


    Endlich wird die Tür geöffnet und Nugator atmet erleichtert auf. "Salve! Eine Nachricht, für den Senator Germanicus Avarus persönlich." Er drückt dem Ianitor die versiegelte Wachstafel in die Hand und empfiehlt sich dann wieder. "Verzeih, ich habe es eilig! Vale!" Wenn er sich beeilen würde, dann könnte er noch vor seinem Herrn im Stadthaus eintreffen.



    Liebster Medicus,


    Verzeih mir, dass du so lange nichts von mir gehört hast. Meine Reise hat ein wenig andere Bahnen genommen, als ursprünglich geplant, doch nun bin ich wieder in Italia. Es geht mir gut und ich werde bald wieder nach Roma kommen.


    In Liebe,
    deine Lucilla

    Einige Tage vor den Parentalia in Ancona:


    Die Tempel in Ancona sind lange nicht mit denen in Rom vergleichbar. Genau genommen sind eigentlich keine Tempel auf der Welt mit denen in Rom vergleichbar. Höchstens vielleicht die Tempelanlagen Ägyptens oder die der alten Götter in Athena, aber beide hat Lucilla in ihrem Leben noch nicht gesehen um einen Vergleich ziehen zu können. Allerdings hat sie gelernt, dass die Größe eines Tempels am Stiftungstag wichtig ist und dahingehend, was durch diesen Tempel gedankt werden soll, für die später darin Opfernden allerdings macht es keinen Unterschied, wie groß das Gebäude ist. Im Grunde bedarf es eigentlich gar keines Tempelgebäudes um den Göttern zu danken, ein Altar reicht völlig aus - wie ja auch die vielen Altäre überall in den Städten beweisen. Außerdem kann man schon ziemlich schnell vergessen, dass die Tempel Anconas nicht so groß wie die in Rom sind, wenn man erst einmal davor steht. Tempel haben es so an sich, dass sie groß wirken, sie werden auf Größe hin ausgerichtet und gebaut. Mag eine Casa oder Villa in ihrer Grundfläche einem Tempel gleichkommen, die verschwenderische Höhe wird sie nie erreichen. Mehrere Stockwerke sind es mindestens, die da ungenutzt über dem kleinen opfernden Menschen thronen - zumindest scheinen sie ungenutzt, denn für die Götter sind sie es natürlich nicht, die sind immerhin etwas größer als die Menschen. Doch dieser weite, leere Raum ist es, der das Gebäude in jedem Fall überdimensional und den Menschen darin winzig erscheinen lässt - ähnlich wie in der Aula Regia beim Kaiser.


    All das registriert Lucilla aber nur nebenbei, im Vergleich zu den Göttern wird sie immer winzig sein, egal ob in einem Tempel oder sonstwo. Sie betritt ehrfürchtig den Neptuntempel Anconas und zieht ihre Palla über das zum Opfern offene Haar. In der Hafenstadt ist der Tempel des Meeresgottes einer der prächtigsten, genau genommen einer der wenigen Tempel überhaupt. Vor dem Altar stellt Lucilla den mit einem Tuch bedeckten Korb ab und holt behutsam etwas Weihrauch hervor. Sie fragt sich - nicht zum ersten Mal in ihrem Leben - ob die Priester im Tempel eigentlich den lieben langen Tag nichts anderes machen, als darauf zu achten, dass die Räucherkohle immer glimmt, denn sie glimmt immer, wenn Lucilla für ein Opfer kommt, ganz egal in welchem Tempel. Diesen Gedanken abschüttelnd verteilt Lucila den Weihrauch auf der Kohle und wartet ein wenig, bis der wohlriechende Rauch in die Höhe emporsteigt, bevor sie mit ihrem Dank beginnt.


    "Großer Neptunus, Herrscher des Meeres, diese Gaben bringe ich Dir heute aus Dank, dass Du mir den langen Weg über Dein Reich gewährt und mich nicht zu Dir geholt hast. Gleichzeitig bitte ich Dich um Milde für diejenigen, die in Dein Reich hinabgesunken sind, für all diejenigen Unschuldigen, denen Dein Sturm und Dein endloses Meer das Leben nahm." Natürlich meint Lucilla damit nicht alle Menschen, die jemals auf dem Mare Internum untergegangen sind, sondern diejenigen des gallischen Handelsschiffes und sogar ein paar Piraten, denn einige von ihnen waren vielleicht gar nicht so schlecht, und natürlich Tetischeri. Doch das muss nicht ausgesprochen werden, denn Neptun würde das wissen, er ist immerhin dabei gewesen. Lucilla greift unter das Tuch und holt einen großen Opferkuchen aus dem Korb. Er ist noch etwas warm, denn sie hat ihn auf dem Weg erst frisch gekauft. Sie legt ihn auf den Altar und verharrt einen Moment lang in Stille in Gedenken an die verganene Zeit. Noch immer liegt die Erinnerung schwer auf ihrer Seele, doch langsam sackt sie tiefer und tiefer in ihr Bewusstsein hinab.

    Mondlos und düster zieht sich die Nacht über das Imperium Romanum dahin und während sich in Rom in dieser Dunkelheit nur Gauner und Verbrecher auf die Straße wagen, liegt über der kleinen Küstenstadt Ancona ein samtenes Tuch aus Ruhe und Frieden. Bis auf ein paar völlig überflüssige Nachtwächter, die gelangweilt im Schein ihrer Fackeln durch die Straßen schlendern, schlafen alle Bewohner der Stadt den Schlaf der Gerechten. Alle Bewohner? Nicht ganz. Ein verrückter, alter Mann sitzt in einer schäbigen Insula an der kleinen Flamme seiner einfachen tönernen Feuerschale und kichert unermüdlich vor sich hin, erzählt den Geistern des Feuers von der Jungfrau, die sich immer wieder selbst zur Jungfrau macht. Ein paar Straßen weiter in einer schönen, weiß getünchten Casa am Meer, die beinahe schon eine kleine Villa ist, rauft sich ein Eques im Schlaf die Haare - er ist Bankier und gehört nicht wirklich zu den Gerechten dieser Welt, doch zumindest ist ihm sein Schlaf vergönnt. Und ein Stück die Küste hinauf und wieder etwas ins Landesinnere, in einer kleinen Casa am Stadtrand wälzt sich Lucilla schweißgebadet in ihrem Bett und versucht verzweifelt aus dem Schlaf zu erwachen.


    Das erste Erwachen führt in bleischwere Dunkelheit, sie spürt den im Schlaf zitternden Körper des kleinen Galliers Aeddan an ihrer Seite. Sie hört das Schlurfen der Ruder, die unter unhörbarem Ächzen der Ruderer aus dem Wasser gezogen werden, gefolgt von dem dumpfen Platschen, das bei ihrem Eintauchen folgt. Das monotone Ächzen und Platschen wäre beruhigend, würde der Takt nicht durch ein scharfes Kommando durchbbrochen werden, ausgesprochen durch eine Stimme, die Lucilla nie wieder vergessen wird, und sie weiß, dass dies nur ein Traum ist. Erwachen, sie muss nur erwachen.


    Das nächste Erwachen endet in einer leicht schaukelnden Kabine, die Teil eines Schiffes ist, das sanft von den Wogen des Mare Internum getragen wird, und es geht einher mit einem leicht süßlichen Duft. Es ist der Duft nach dem Öl einer reichen Frau, einer Frau die längst tot am Meeresgrund liegt, deren Schmuck in der Truhe an Bord eines Schiffes liegen, das längst untergegangen ist, vielleicht gar nicht weit von eben dieser Position, die das schaukelnde Schiff gerade inne hat. Gleichsam ist es der Duft einer Sklavin, einer verängstigten Sklaven, die von Freiheit träumt, die Lucilla das Öl mit ihren Fingern an den Hals tupft und ihre Finger schließlich verschämt lächelnd über ihre eigene Haut streicht. Der Duft nach Tetischeri, der Sklavin die ebenfalls längst tot am Grund des Meeres liegt, ein Duft, den Lucilla nie wieder vergessen wird, und sie weiß, dass dies nur ein Traum ist. Erwachen, sie muss nur erwachen.


    Das nächste Erwachen wird wieder begleitet vom fernen Rauschen und Glucksen des Wassers des endlosen Mare Internum, von der weichen, warmen Hand über Lucillas Mund und vom eisig kalten Metall des Dolches an ihrer Kehle. Beinahe beruhigend hallen die geflüsterten Worte in ihren Ohren wider, 'Still oder ich töte Dich!', und einen Moment lang spürt sie Mitleid mit demjenigen, dem diese ausgelaugte Stimme gehört, dessen Blut in trägen Tropfen auf sie herniederfällt. Völlig apathisch lässt sie seinen Fluch über sich ergehen, nur ein leichter, eisiger Hauch breitet sich über ihren Körper aus, denn würde sie sonst eine Reaktion zeigen müssen, so könnte sie nur noch hysterisch lachen. Vermutlich hat er Recht, sie ist der Fluch, sie ganz alleine, doch mit diesem Wissen fühlt sie sich auf einmal sicher. Quintus Tullius bindet sein Leben an das ihre, er würde sie nicht im nächsten Augenblick umbringen und für sie besteht keinerlei Gefahr, denn bei den Göttern, er würde nicht einmal in naher Zukunft sterben. Hätten die Götter dies mit ihm vor, so wäre es längst geschehen. Kälte bleibt auf Lucillas Lippen zurück, als sich die Schritte des Piraten leise entfernen während sie regungslos an die hölzerne Decke in der Dunkelheit über sich starrt. Ihre Lippen bewegen sich, doch ihre Worte sind kaum mehr als der Hauch eines Flüsterns. "Mögen die Götter dir ein langes Leben schenken, Quintus Tullius, und mögen die Erinyen jede einzelne Sekunde davon begleiten."
    Langsam beginnt Lucillas Blick zu verschwimmen, kleine salzige Bäche rinnen aus ihren Augenwinkeln auf das harte Kissen hinab, das diese Bezeichnung eigentlich nicht einmal verdient. Das Blut des Piratenkapitäns trocknet auf ihren Wangen an und Kälte zieht durch Lucillas Körper, obwohl sie unter der warmen Decke liegt, eine Kälte, die Lucilla nie wieder vergessen wird, und sie weiß, dass dies nur ein Traum ist. Erwachen, sie muss nur erwachen.


    Das letzte, das tatsächliche Erwachen findet in Ancona statt. Lucilla erwacht in einem weichen Bett, doch Quintus Tullius ist kein Traum. Er ist weit weg, vielleicht, und doch hat Lucilla permanent das Gefühl, seinen Körper dicht an dem ihren spüren zu können, seinen Geist neben dem ihren stehen zu sehen, und sein Flüstern mit dem Säuseln des Windes vor den Fenstern zu vernehmen. Es ist Tage her, seit sie sich von Horatalus verabschiedet hatte, mit den Worten, dass er ihr eine Nachricht nach Rom senden solle wenn er Quintus Tullius eingefangen hat, denn ihr Wunsch, bei seiner Kreuzigung anwesend zu sein, gelte noch immer. Doch längst war es nicht mehr ihr Ansinnen, bei seinem Tod Erleichterung zu verspüren, denn sein Tod würde auch der ihre sein. Lucilla hat keine Ahnung, was sie tatsächlich tun würde, doch sie glaubt nicht daran, dass der Pirat sich einfangen lassen wird. So verachtenswert Quintus Tullius auch ist, er ist nicht dumm.


    Mit Nichts in Ravenna angekommen war Lucilla froh gewesen, dass Hortalus ihr weiteres Geleit bis nach Rom zugesichert hatte, doch sie wollte den Dienst der Classis nicht zu lange in Anspruch nehmen. Sie ließ sich und Ambrosius bis nach Ancona bringen, zur Casa Vipsania, in der eine alte Freundin Großtante Drusillas lebt, bei welcher Lucilla als junges Mädchen ein paar Mal mit ihrer Großtante zu Besuch gewesen war. Vipsania freute sich Lucilla zu sehen und als sie ihren Zustand bemerkte, stellte sie kaum Fragen. Sie sorgte dafür, dass Lucilla - und auch Ambrosius in den Sklavenunterkünften - das beste Essen, neue Kleidung und ausgiebige Bäder bekam, und stellte es ihr frei, so lange zu bleiben, wie sie will.


    Obwohl Quintus Tullius immer um sie herum zu sein scheint, genießt Lucilla die Ruhe und Einsamkeit Anconas. Sie macht sich keine Gedanken darüber, wie die Zeit vergeht, denn mit der Ankunft in Italia verspürte sie mit einem Mal nur noch wenig Drang nach Rom zu gelangen. Sie fürchtet sich vor den drängenden Fragen, auf die sie keine Antwort weiß. Wenn es etwas gibt, was sie mit ihrer Erinnerung tun möchte, dann ist dies weder sich daran zu erinnern, noch darüber zu reden. Sie will nicht von den vielen Toten auf dem gallischen Handelsschiff berichten, nicht von dem irren Blick in Tuillius Augen als er sie gepackt und verschleppt hat, nicht von dem kleinen Aeddan, der seinem Fieber erlegen ist, nicht von den grausamen Piraten, nicht von Tetischeri, die tot am Meeresgrund liegt, nicht von dem hässlichen Dardashi, nicht von der Schuld, die an ihren Händen klebt, von dem Römer, der tot am Grund des Meeres liegt, aber nicht ertrunken, sondern erstochen von einer Römerin, und schon gar nicht möchte sie über Quintus Tullius sprechen oder den Fluch, der sie letztlich nur selbst eingeholt hat und an ihr klebt wie eine tote Fliege an der Wand. Tagein, tagaus sitzt Lucilla im Peristyl des Hauses, genießt die warmen Sonnenstrahlen des milden Winters, genießt selbst den scharfen Wind, der ab und an durch den Garten weht, genießt das Dahinfliegen der Tage ohne Furcht und das fürsorgliche Gluckenverhalten Vipsanias.


    Wenn Lucilla in der tiefe der Nacht schweißgebadet aus ihren Albträumen erwacht, dann genießt sie dieses Erwachen. Und je weiter die Tage voranschreiten, desto weniger erwacht sie in den Nächten und desto eher dreht sie sich dann einfach nur um und schläft weiter, in Ruhe bis zum nächsten Morgen.


    /edit: Link

    Nach Hortalus fällt nun Lucilla ersteinmal in Schweigen. Nicht, dass die Situation in den letzten Tagen je einfach gewesen wäre, doch trotz der Rückkehr zu ihrem Leben im geliebten römischen Imperium scheint alles nur noch komplizierter zu werden. Nicht Lucilla hat den Fluch gewirkt, da ist sie langsam sicher, nein Quintus Tullius ist der Fluch, und nun haftet er ihr an.


    Als Cluvius Hortalus von seinem Bruder spricht, zieht es Lucilla das Herz zusammen. Sie kann ihn gut verstehen, viel zu gut, auch sie hatte dem Mörder ihres Onkels und den Feinden ihrer Soldaten den Tod gewünscht. Doch gleichzeitig überkommt Lucilla ein furchtbares Gefühl der Schwere und Schuld. Der weiche, warme Mantel des Seemannes scheint mit jeder Schneeflocke, die sich darauf nieder lässt, schwerer und schwerer auf ihren Schultern zu lasten. Lucilla dreht sich zur See hin und stütz sich auf der Rehling ab, schließt einen Moment lang die Augen und atmet tief die frische, Sinne klärende Seeluft ein. Wer weiß schon, wie Hortalus Bruder ums Leben kam und wer ihn wirklich getötet hat. Vielleicht war es Quintus Tullius. Doch vielleicht war es auch eine Römerin, eine, die Quintus Tullius danach aus welchen Gründen auch immer geküsst hat. Vielleicht hieß sie Lucilla, immerhin gibt es sicherlich viele Lucillae im Imperium Romanum. Quintus Tullius würde am Kreuz hängen, keine Frage, er hat es verdient, doch was ist mit jener Lucilla, die die Schuld am Tod eines Römers trägt? Sollte sie nicht eigentlich auch hängen? Was nützt es ihr, sich von Quintus Tullius zu befreien, wenn sie danach vielleicht eh der Fluch der Schwester des toten Römers treffen und richten würde?


    "Vergeltung ist ein furchtbarer Fluch. Sie ist beinahe so schlimm wie Quintus Tullius." Langsam öffnet Lucilla die Augen und starrt hinaus auf das dunkle, doch nun wieder so friedliche Mare Internum. Die feinen Schneeflocken, die aus dem Himmel herabtanzen, rieseln auf das Wasser hinab und hören in dem Moment auf zu existieren, in dem sie die Oberfläche berühren. Nein, sie hören nicht auf zu existieren, sie werden nur Teil eines größeren Ganzen. "Mein Fluch ist Quintus Tullius, mein Leben wird nie wieder so sein, wie es war. Wenn du ihn kreuzigst, dann wird es mir eine Freude sein, dir die Nägel zu reichen." Sie dreht sich vom Meer fort und blickt den Kapitän an. "Doch bitte, gibt mir zuvor die Gelegenheit, dieses Band zu lösen. Ich bin sicher, dass es irgend eine Möglichkeit gibt, den Fluch aufzuheben. Mit einem Ersatzopfer für die Götter oder etwas in dieser Art. Ich muss nur irgendwen fragen, der sich damit auskennt, einen Haruspex oder Pontifex. Wenn du ihn so lange nur am Leben lassen kannst?"


    Lucilla ist sich nicht sicher, wie viel sie von Hortalus verlangen kann. Natürlich sind in ihrer Vorstellung alle römischen Soldaten ehrenhaft, allerdings muss man immer vorsichtig sein, wenn Vergeltung im Spiel ist. Doch zumindest scheint er keiner von diesen Menschen zu sein, die die Götter nicht mehr ehren. Sie ruft sich die Karten des Cursus Publicus in Erinnerung. Ravenna, Italia, das klingt wie Musik in ihren Ohren. Doch wenn das Schiff irgendwo vor der africanischen Küste segelt, dann wäre dies noch ein weiter Weg. "Welche Route wirst du bis Italia nehmen? Wo genau sind wir überhaupt?" Sie blickt zum blutroten Himmel hinauf. Eigentlich will Lucilla nur so schnell wie möglich zurück nach Rom.

    Zitat

    Original von Marcus Vinicius Hungaricus


    Hmm... wenn du mir zeigst, daß die Forschung meint, daß Frauen keinen Wein trinken durften, lass ich mich gern überzeugen.


    Dabei stellt sich mir die Frage, geht es jetzt um das Trinken von purem Wein oder auch um das Trinken von mit reichlich Wasser verdünntem Wein? Und wenn ihr hier auch vom verdünnten Wein, bzw. eigentlich ja dann vom Wasser mit einem Schuss Wein (dem vielgerühmten Spritzer :D) redet, was tranken die Frauen dann? Essigwasser? Und was ist mit dem leckeren Mulsum?

    Niemand hat Lucilla nach ihrem Namen gefragt, niemand hat überhaupt irgendwas gefragt. Zwischen Gischt und Sturm und der Aufforderung, sich unter Deck zu begeben, hat ein Seemann sie mit den Worten getröstet, dass sie keine Angst haben muss, dass sie keine Gefangene mehr ist. Man wollte ihr Ambrosius wegnehmen, doch Lucilla hat ihn vehement in Schutz genommen, hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass er zu ihr gehört und dass niemand ihn anzurühren hat. Außer ihr natürlich. Da der Sklave auf dem Weg zwischen den beiden Schiffen sein Schwert verloren oder fallen lassen hatte, ist für niemanden ersichtlich, ob er an Bord der Harpyia ein Gefangener war oder ein Pirat, doch an Lucillas Wort will anscheinend niemand zweifeln. Im Grunde hat auch keiner Zeit dafür, denn die Soldten sind vollauf damit beschäftigt, das Schiff aus der Gefahr zu manövrieren.


    Am Abend bringt ein junger Seemann etwas zu Essen und zu Trinken in die Kabine, doch Lucilla hat kaum Hunger und schiebt das meiste zu Ambrosius hin. Obwohl sie sehr froh ist, dass der Sklave bei ihr ist, redet sie kaum ein Wort mit ihm und hängt nur ihren Gedanken nach. Früh schon verzieht sie sich unter die Decke in die harte Koje, doch die halbe Nacht über macht sie kein Auge zu, nicht nur, weil das Schiff noch immer von den Wellen hin und hergeworfen wird wie das Blatt einer Rose in der Badewanne, wenn man mit den Händen einen kleinen Wannensturm produziert. Am folgenden Tag bleibt Lucilla lange liegen, noch immer tobt der Sturm, das karge Frühstück, welches vorbei gebracht wird, verschmäht sie. Gegen Mittag dann schält sie sich langsam aus der Decke heraus und richtet sich mit Ambrosius Hilfe einigermaßen her. Als er an ihren Haaren herumfuhrwerkt, bricht sie endlich das Schweigen. "Wenn du über die Schifffahrt so gemeckert hast, wie in meiner Nähe, dann warst du sicher ein mieser Pirat, Ambrosius. Aber ich bin wirklich froh, dass sie dich am Leben gelassen haben."


    Später dann begibt sich Lucilla, in einen dicken Wollmantel gehüllt, an Deck und fragt sich zum Kapitän des Schiffes durch. "Cluvius Hortalus?" Am Vortag, in den Kampf mit Tullius verwickelt, hatte der Kapitän einen viel jüngeren Eindruck gemacht. Heute sieht er eher aus wie ein gebrochener Mann, obwohl seine Haltung die eines aufrechten, römischen Soldaten ist. "Mein Name ist Decima Lucilla, ich möchte dir dafür danken, dass du mich von Bord dieses Schiffes geholt hast. Ich werde dafür sorgen, dass man deinen Namen in Rom zu würdigen weiß, mein Bruder ist Senator Decimus Meridius und mein Verlobter Senator Germanicus Avarus." Eine kurze Pause, dann fährt sie zögernd fort. "Was ist ... was wird mit den Gefangenen geschehen?"


    Beim Gedanken an Tullius zieht es Lucilla das Herz zusammen. Am liebsten würde sie sich wünschen, dass er im tiesten Kerkerloch verrecken möge, doch ganz so einfach ist es nicht, denn im gleichen Herzschlag bangt sie um sein Leben. Dieses Bangen ist es auch, das ihr die nächsten Worte aus dem Mund sprudeln lässt. "Der Piratenkapitän, Quintus Tullius ... er ... du musst dafür sorgen, dass er am Leben bleibt. Das ist ... das ist unglaublich wichtig." Sie schaut Hortalus aus großen, verzweifelten Augen an. "Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Er überfiel mit seinen Männern das Schiff, auf dem ich nach Rom reisen wollte, er stand plötzlich in der Tür der Kabine und sah aus, als würde er direkt aus dem Hades kommen. Ich dachte, er will mich umbringen, und ich bin sicher, er wollte das auch tun. Wenn ich schon sterben musste, dann sollte er dafür leiden müssen, dann sollte er ebenfalls samt seines ganzen Schiffes untergehen. Ich ... also ... ich habe einen Fluch auf ihn gesprochen ... einen ... naja ... ziemlich starken Fluch ... ich habe mein Leben mit seinem verknüpft, sein Leben von meinem abhängig gemacht." Die ganze Sache macht Lucilla doch ein bisschen verlegen. Natürlich sprechen römische Frauen ständig Flüche, gegen unliebsame Konkurrentinnen, gegen die politischen Feinde ihrer Ehemänner oder gegen den Händler, der den Stoff partout nicht günstiger verkaufen will. Aber dabei geht es eher darum, dass jemand einen Tag lang nicht von der Latrine kommt, dass ein Mann einen Monat lang nicht seine Frau beglücken kann, oder dass sich eine hässliche Warze auf der Nase bildet. Außerdem redet man auch nicht darüber.


    "Wie du siehst, war ich durchaus erfolgreich, immerhin lebe ich noch. Allerdings ... also ... ich weiß nicht, ob das ganze auch im umgekehrten Fall wirkt. Ehrlich gesagt, ich bin damit etwas überfordert. Ich habe auch keinen blassen Schimmer, wie man so einen Fluch wieder lösen kann." Sie schaut Hortalus verzweifelt an. "Ich habe soetwas schließlich noch nie getan. Deswegen muss er am Leben bleiben. Denn wenn er ... dann ... ich habe Angst, dass ich dann ebenfalls ... verstehst du?" Lucilla ist nicht dazu in der Lage, den Satz zu Ende zu sprechen, nicht, nachdem sie sich schon in Sicherheit, in Rom sieht. Und auch nicht, nachdem sie nun endlich aus Tullius Gewalt befreit ist, ihr Leben jedoch trotzdem von ihm abhängt. Wie sie diesen Mann nur hasst.

    Das Tosen des Windes ist noch schlimmer, als beim letzten Sturm, doch die Situation mag ähnlich sein. Lucilla weiß es nicht, denn beim letzten Sturm saß sie unter Deck unter einer Decke mit einer Schüssel und einem Löffel in den Händen. Heute steht sie an Deck, mitten in einem Gemetzel das Seinesgleichen sucht - zumindest in ihrem Leben - und hält ein Schwert in ihren Händen, ein schweres, römisches Schwert. Außerdem kann sich Lucilla an den letzten Sturm schon fast nicht mehr erinnern, es kommt ihr vor, als wäre das in einem anderen Leben gewesen. Auch heute kommt es ihr so vor, als wäre dies ein anderes Leben, nicht ihres, als wäre sie in ein falsches Leben hinein gerutscht, aus dem sie nur keinen Ausgang mehr findet. Wie durch einen Schleier nimmt sie den Tod um sich herum wahr und ihr Hirn weigert sich beharrlich, die Bilder, die von ihren Augen kommen, zu verarbeiten, denn andernfalls wäre sie entweder in Ohnmacht umgekippt oder endlich in den verdienten Wahnsinn gefallen. Nur den Kampf zwischen Quintus Tullius und Cluvius Hortalus nimmt Lucilla mit voller Aufmerksamkeit wahr. Jeder Stich in sein Fleisch, jede Wunde am Körper des Piratenkapitäns bringt Lucilla der Genugtuung ein Stück näher. Noch in einem Augenblick bangt sie um den römischen Kapitän, ihre größte Hoffnung auf die Rückkehr zu ihrem eigenen Leben, doch Bangen ist nicht nötig, denn sein Schwert findet seinen Weg gezielt in Tullius Schenkel. Im nächsten Augenblick dann kracht schon der Körper des Piraten auf den Boden, doch im gleichen Herzschlag durchfährt es Lucilla wie ein Blitz. Sie reißt erschrocken die Augen auf als der Römer sein Schwert zum tödlichen Stoß hebt, lässt die Waffe in ihren Händen fallen und öffnet den Mund. Mehr als ein erstickter Schrei der im Rauschen der See und des Sturmes vergeblich ist, kommt jedoch nicht aus ihrer Kehle.


    Dardashi ist es, der das Schicksal noch einmal wendet, und danach geht plötzlich alles ganz schnell. Neptun streckt seine Arme gierig nach der Harpyia aus und rüttelt ungeduldig an seinem Opfer, bis das Schiff nach- und sich dem Meeresgott hingibt. Völlig unfähig irgend eine Entscheidung zu treffen lässt sich Lucilla willenlos von dem römischen Kapitän mitreißen. Doch im Gegensatz zu Cluvius Hortalus kümmert sie sich sehr wohl um ihren Ambrosius. Noch in der gleichen Bewegung, da der Kapitän sie mit sich zieht, packt Lucilla in einem Reflex ihren neben sich stehenden Sklaven mit der freien Hand am Oberarm und zieht ihn ihrerseits ein Stück mit, bis er sich von seinem eigenen Schrecken gelöst selbst in Bewegung setzt. Im Normalfall hätte Lucilla wohl keinen Schritt auf die Enterbrücke getan, geschweige denn darüber hinüber. Doch in diesem Augenblick sind ihre Gedanken nicht wirklich bei der zu überwindenden Höhe bis zum Meeresgrund und da die Wellen immer wieder weit am Rumpf der Schiffe hinauf schlagen ist der 'Boden' auch gar nicht mehr so weit weg.


    An Bord der Ulpia bleibt auch Lucilla nichts übrig, als mit anzusehen, wie die Harpyia mit Mann und Maus von der gierigen See verschluckt wird. All die elenden, widerlichen Piraten ereilt ihr gerechtes Schicksal, trifft das Ende, das sie selbst so oft ausgeteilt haben. Trotzdem empfindet Lucilla keine Freude, keine Genugtuung, nicht einmal Gleichgültigkeit. Das ganze Leben scheint nur noch aus Tod zu bestehen, mehr Tod, als es für ein einzelnes Leben gut ist. Im gleichen Augenblick, da kein halbes stadium entfernt unzählige Menschen in den Tod gerissen werden, geht auf der Ulpia das Leben unbarmherzig weiter. Und es geht drunter und drüber. Zumindest scheint es für eine Landratte wie Lucilla so, obwohl natürlich jeder genau weiß, was er zu tun hat und in der gegenwärtigen Situtation kein Mann einen überflüssigen Handgriff tut. Lucilla jedoch ist völlig fehl am Platz, wie eigentlich fortwährend in der letzten Zeit. Da der Kapitän sie erst einmal stehen lässt um sein Schiff aus dem Sturm heraus und in Sicherheit zu bringen, lässt sie sich dort wo sie steht auf einer Kiste nieder. Sie hört die Schreie nachhallen, sie hört Tetischeris verzweifelten Ruf in ihren Ohren und sie hört die Piraten, die ihre derben Lieder singend auf den Meeresgrund hinab in den Hades fahren. Erschüttert bleibt Lucilla einfach auf der Kiste sitzen, lässt sich nicht vom Sturm stören und nicht von den römischen Seeleuten. Sie bleibt einfach nur sitzen und fängt an zu Weinen, ohne dass es irgendwer sehen könnte, denn ihr Gesicht ist von der Gischt nass, ebenso wie ihr Haar und ihr Kleid. Nur das leichte Beben ihres Körpers verrät ihre Gefühle vielleicht, doch sie kann es sich leisten zu Weinen. Sie kann sich alles leisten, denn mag das Meer noch so zornig sein, mag der Sturm die Segel zerreißen, Lucilla ist in Sicherheit und nun kann ihr nichts mehr passieren. Denn sie ist umgeben von Römern, auf einem römischen Schiff und Quintus Tullius ist am Leben.

    Noch immer hat Lucilla nicht begriffen, was geschehen ist. Sie hat einen Menschen, einen Römer getötet. Sie hat das Schwert gehalten, das seinen Tod bedingte. An ihren Händen klebt das Blut eines Römers, eines Sohnes, eines Ehemannes, eines Bruders, eines Vaters, eines Cousins. Seiner Familie würde man erzählen, er sei beim Kampf mit den Piraten umgekommen. Und dabei starb er durch die Hand einer Römerin, durch Lucillas Hand. Wer weiß, vielleicht kam Proximus gar nicht durch das Schwert eines Germanen ums Leben. Vielleicht wollte er eine Römerin retten, die von einem Germanen angegriffen wurde. Vielleicht hat sie ihm ein Schwert in den Bauch gerammt. Vielleicht starb Mercator gar nicht durch die Hand eines elenden Mörders. Vielleicht wollte er einer Dame in Not zu Hilfe eilen und rannte in ihr Messer hinein. Vielleicht starb Flaccus gar nicht durch die Gewalt einer Sklavin, vielleicht war es ihr Herr? Bei allen Göttern, wer weiß schon, wieviele Römer durch Römer sterben, wenn der Tod so schnell kommen kann?


    Mit der langsam dämmernden Erkenntnis wird Lucilla merkwürdig ruhig und egal, was passiert, es würde sie nicht mehr wundern. Es würde sie nicht wundern, wenn sich das Meer endlich auftut und die Harpyia mit seinem gewaltigen Schlund verschlingen würde. Es würde sie nicht wundern, wenn der Himmel sich lösen und auf sie herab stürzen würde. Es wäre kaum seltsam, würde Avarus über die Enterbrücke der römischen Galeere kommen, um sie zu retten, selbst die Anwesenheit des Kaisers oder sogar Hungis samt seiner Ehefrau Livia würden Lucilla kaum mehr verwundern. Ein Löwe an Bord, Tibicines-Spieler um dieses Schauspiel musikalisch zu begleiten, eine Rose die zwischen den Planken des Schiffes emporwachsen würde, es könnte Lucilla nicht mehr schocken, denn in diesem Augenblick ist sie weit jenseits von Gut und Böse, und wo sie eine Zeit zuvor noch an ihrem Verstand gezweifelt hat, beginnt sie langsam, dies alles für die Normalität zu halten. Ihr früheres Leben ist so weit von ihr entfernt, wie es weiter nicht sein könnte. Eine Lucilla im Triclinium der Casa Decima scheint ihr so unwahrscheinlich, dass sie nicht mehr real sein kann. Wer weiß schon, ob sie überhaupt noch Decima Lucilla ist, denn der Name ihrer Gens beginnt schon lange zu verblassen.


    Doch gerade als Lucilla sich willenlos in die trübe, grelle, dumpfe und gleichsam verlockend glänzende Welt des Verrücktseins fallen lässt, als nichts mehr in dieser Welt sie verwundern, nichts mehr sie aus der Fassung bringen kann, da geschieht etwas, was selbst in diesem Wahnsinn unmöglich und undenkbar ist. Hat sie bisher angenommen, dass sie Quintus Tullius hasst und sie ihn verabscheut, so wird sie wieder eines besseren belehrt. Denn sie hasst und verabscheut ihn abgrundtief. Wie kann er es wagen, wie kann er es einfach so wagen, sie in dieser völlig absurden Situation an sich zu ziehen und ihr seine abscheuliche Froschzunge in den Hals zu stecken, ihr, Decima Lucilla, der Verlobten des Senators Germanicus Avarus, Schwester des Triumphators Decimus Meridius und Auctrix P.P.A. der imperialen Zeitung des Kaisers!? Lucilla wird mit so einer Wucht zurück in die Realität gerissen, dass sie kaum reagieren kann, dass sie sich weder gegen den Kuss des Piraten wehren, noch ihn erwidern könnte, wenn sie dies wollen würde, was sie jedoch auf keinen Fall tun wollte, nicht einmal, wenn er der letzte Mann auf dem ganzen Mare Internum wäre. Wäre sie Quintus Tullius zu einer anderen Zeit in einer anderen Welt begegnet, womöglich hätte sie durchaus Gefallen an ihm finden können. Schlecht sieht er ja nicht aus, mit seinen dunklen Haaren, den dunklen Augen und dem Blick, bei dem so manche Frau dahinschmelzen würde, wenn sie es denn könnte. Doch Lucilla kann nicht. Seit dem ersten Augenblick, seit Quintus Tullius wie ein Ochse in die Kabine auf dem gallischen Handelsschiff gestürmt ist, ist er bei ihr untendurch und als brutaler, hässlicher, rauhbeiniger und widerlicher Seeräuber abgestempelt. Da hilft kein Kuss, im Gegenteil, eer macht es alles nur noch schlimmer. Doch zumindest sorgt er dafür, dass sich die düsteren Wolken um Lucillas Geist etwas lichten.


    Schon wieder steht sie einfach nur völlig fassungslos da, als er wieder von ihr ablässt, ihr Körper scheint ihr so schwer, dass sie es nocht nichteinmal schafft, Tullius eine schallende Ohrfeige zu geben. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben und die Erschütterung der Ohrfeige, die er sich wegen all dem hier noch einhandeln würde, würden noch die Barbaren hinter dem Limes spüren. Lucilla starrt auf das Schwert in ihren Händen. Es ist unglaublich schwer, sie kann es kaum heben, Tod und Verderben kleben daran. Sie will es wegwerfen, doch nicht einmal dazu kann sie ihre Hände bewegen. Womöglich könnte sie ... ? Lucilla lugt um den Großmast herum, Tullius ist bereits in den nächsten Kampf verwickelt. Wenn sie von hinten nur wieder die Klinge gegen seinen Rücken hält ... Aber Lucilla bringt auch das nicht fertig. Was, wenn sie wieder den falschen treffen würde? Was, wenn noch mehr Römerblut an ihren Händen kleben würde? Und wäre Piratenblut so viel besser als Römerblut? Lucilla wünscht sich in ihr Bett zurück, nach Hause in die Casa Decima, wo die schwierigste Entscheidung diejenige ist, ob sie zum Frühstück Wasser oder Traubensaft trinken soll.


    Dass Ambrosius auf einmal neben ihr steht, scheint das natürlichste der Welt zu sein. Obwohl Lucilla danach ist, ihm um den Hals zu fallen, ihn zur drücken und vielleicht sogar abzuküssen, hält sie nur weiterhin das Schwert in ihren Händen, dessen Klinge schwer nach unten zieht. Sie hat keine Ahnung, auf welcher Seite Ambrosius kämpft, doch da er überhaupt nicht kämpft ist das nicht so wichtig.
    "Nur noch Straßen." antwortet sie knapp und nickt schwach. Und dann, ganz leise, fast unhörbar im sausenden Wind und begleitet von einer Träne, die in den Gischttropfen auf ihrer Wange unsichtbar bleibt, folgt ein: "Ich bin so froh, dass du am Leben bist, Brosi." Denn Ambrosius scheint wie der gütige Geist aus einer anderen Welt zu sein. Selbst wenn er hier herum rennt wie ein Pirat, Ambrosius ist und bleibt Ambrosius, er ist und bleibt Lucillas Brosi und er verkörpert alles, was Lucilla verloren geglaubt hat - in diesem Augenblick verkörpert Ambrosius Rom.

    Lucilla hat kaum Zeit sich von dem Schock, dass Ambrosius am Leben ist, zu erholen, denn plötzlich geht es auf dem Schiff drunter und drüber. Von unten bäumen sich die Wellen auf, spritzen die Gischt bis weit über die Reling, von Oben ziehen dunkle Wolken über das Schiff und hüllen es in einen düsteren Sturm. Dazu wird plötzlich das andere Schiff auf dem Rücken einer Welle nah an die Harpyia herangetragen, der Angriff beginnt. Wahnsinn. Lucilla findet sich umgeben von Wahnsinn, und dass sie noch immer an Deck steht und sich kaum rühren kann, das zeugt vermutlich von ihrem eigenen Wahnsinn. Doch es geschieht alles so schnell und so merkwürdig, dass sie völlig den Kopf verliert, überhaupt nicht mehr weiß, wo sie hin sollte. Unter Deck wäre eine Möglichkeit, doch bei der rauhen See hat sie viel zu große Angst, dass das Schiff von Neptun hin und her geschüttelt und schließlich in die Tiefen des Meeres hinabgezogen wird und dann möchte sie nicht im Bauch des Ungeheuers stecken. Obwohl bei diesem Wetter auch an Deck nicht viel Aussicht auf Überleben besteht. An Deck herum zu stehen ist aber auch keine gute Idee, nur knapp vor Lucillas Füßen rollt eine dicke eiserne Kugel über die Planken, über das halbe Schiff und darüber hinaus ins Meer hinein. Aber das ist längst nicht alles. Die wahnsinnigen anderen Piraten entern doch tatsächlich die Harpyia! Als der bullige Tabat an Lucilla vorbei stürmt, weicht sie zurück und stolpert über irgend etwas am Boden. Mit einem spitzen Schrei, der völlig in der Geräuschkullisse des Sturmes, die jetzt noch vom ersten Kampflärm verstärkt wird, untergeht, fällt sie hart auf ihr Hinterteil und schlägt sich zu allem Übel auch noch den Kopf an einem Fass an.


    Benommen greift sich Lucilla an den Hinterkopf und reibt über eine Beule, die sich unter ihren Fingern gewaltig anfühlt, tatsächlich aber nicht besonders schlimm ist. Links von Lucilla steht ein Fass und rechts von ihr eine Kiste, über die sie gerade so drüber blicken kann. Mehr oder weniger schlecht in diesem Versteck in Sicherheit zieht Lucilla die Füße ein und bleibt erst einmal sitzen. Der Nebel wird immer dichter, trotzdem sieht sie nur allzu genau das spritzende Blut, das überall auf dem Schiff verteilt wird. Ein Mann stürzt direkt vor ihrem Schlupfwinkel auf die Planken, seine Augen starren weit aufgerissen direkt zu Lucilla und sie will ihm gerade bedeuten, dass er sie nicht verraten soll, da fällt ihr auf, wie sich das Holz unter seinem Bauch immer dunkler färbt. Zögernd streckt sie ihren Fuß aus und tippt an den toten Körper, zieht ihn dann eilig wieder ein und bemerkt nun, wie sehr sie schon wieder zittert. Plötzlich jedoch reißt auch Lucilla die Augen auf und starrt den Mann an. Es war ein Soldat der Classis! Ein Römer! Keine Piraten greifen die Harpyia an, sondern Römer, echte Römer! Lucillas Herz klopft laut, bis hinauf in ihre Ohren, denn ihre Rettung ist zum Greifen nah.


    Ihre Hoffnung lässt Lucilla alles vergessen. Wenn sie diese Gelegenheit nicht nutzt, dann würde sie es nur bereuen. Sie kämpft sich mühsam gegen den Sturm und die Gischt auf und kneift ihre Augen zusammen. Möglichst allen Kämpfen ausweichend und in der Hoffnung, sich mit aller Kraft ihrer Gedanken vielleicht unsichtbar machen zu können, schiebt sie sich langsam übers Deck. Vielleicht würde sie es auf das andere Schiff schaffen. Doch würden die Römer sie einfach so an Bord lassen? Wer weiß, ob sie nicht auf alles einstechen, was sich von dem Piratenschiff nähern würde? Doch für solche Gedanken ist es etwas zu spät. Tatsächlich schafft es Lucilla ein ganzes Stück unbehelligt voran zu kommen. Doch plötzlich reichen ihr die Götter einen Säbel aus dem Himmel herab, eine glänzende Klinge direkt vor ihre Nase, wie eine Aufforderung sie zu ergreifen. Ohne zu zögern befreit Lucilla den Säbel aus dem Tau, dann jedoch weiß sie nicht mehr recht weiter. Sie hat noch nie etwas größeres als ein Opfermesser in ihrem Händen gehalten. Mit Proximus hat sie sich als Kind ein paar mal mit Holzschwertern duelliert, aber immer, wenn er nur ein bisschen nach vorne zugestochen hat, ist Lucilla schrechhaft fortgehüpft. Meistens hat sie am Ende die Holzwaffe nach ihrem Cousin geworfen und ist dann so schnell wie möglich davon gerannt, möglichst in die Nähe ihrer Mutter, wo Proximus nicht mehr schlagen durfte.


    Mit beiden Händen hält sie den Säbel fest vor sich, sie würde einfach alles aus dem Weg fegen, was ihr in die Quere kommt. Ja, genau so würde sie das machen. Wenn nur nicht alles so ein Durcheinander wäre. Lucilla wendet ihren Kopf zur Seite, irgendwo muss hier auch Ambrosius sein, wenn er nicht doch nur ein Trugbild gewesen ist. Sie blickt noch einmal suchend zur anderen Seite und bemerkt dabei nicht, wie das kämpfende Knäul aus Tullius und römischem Soldat sich ihr nähert. Erst einen Faustschlag später, als ein Körper hart gegen die Klinge fällt und diese sich in die Seite des Mannes bohrt, oder besser gesagt der Mann sich auf die Klinge schiebt wie ein Stück Fleisch auf einen Spieß, liegt Lucillas Aufmerksamkeit wieder vor ihr. Nur noch Herzschläge lang behält sie den Säbel in ihren Händen, dann lässt sie ihn mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund panisch los, als würde er wie heiße Kohlen glühen. Sie starrt auf den Mann, der sich erstaunt zu ihr umdreht, starrt in seine Augen, die sie anblicken, als wäre sie eine römische Dame und völlig fehl am Platz mittem im Kampf auf einem Piratenschiff. Er öffnet den Mund, doch es kommt nur schwerer Atem daraus hervor, dann geht der Mann langsam in die Knie, sein Blick fixiert noch immer Lucilla und Lucillas Blick hängt an seinen Augen, bis er zur Seite kippt und auf den Holzbrettern liegen bleibt.


    Die Welt um Lucilla herum scheint stehen zu bleiben. Die Kämpfe an Deck der Harpyia verblassen zu einem grauen Schlieren, das schwarze Meer hält in seiner Gewalt inne, nur der Wind haucht quälend Laut an Lucillas Ohren vorbei. Dicke, schwere Gischttropfen legen sich auf Lucillas Wangen und sie weiß, ohne es zu sehen, dass sie dunkelrot sind. Eiskalt zerrt der Wind an ihrem Kleid ohne es zu bewegen, das Schiff schwankt schwerelos auf den schaumigen Wellen dahin und ein gerissenes Segel der Harpyia schlägt mit jedem Herzschlag krachend gegen einen Mast. Das Mare Internum bebt, die Harypia bebt, oder vielleicht ist es auch nur Lucillas Körper, der bebt. Fassungslos hebt sie ihren Blick von dem Toten und schaut Quintus Tullius an.

    Zitat

    Original von Quintus Germanicus Sedulus
    War aber net Deines oder? ;)


    Nein, zum Glück nicht. Wenn die Mauer vor meinem Fenster zusammenkracht, dann hab ich ein großes Problem. :D

    Ich hatte heute Mittag aus dem Fenster Ausblick auf ein Auto unter einem gewaltigen Backsteinhaufen, samt zahlreicher etwas planloser Feuerwehrmänner außen herum. Heute Morgen stand es noch neben einer (doch recht massiv wirkenden) Mauer ...

    Zitat

    Original von Titus Helvetius Gabor
    Hey, Wahnsinn! Ist das richtig, dass ich laut avatar Senator bin? Oder liegt das bloß an meinem onkelchen??


    Ein Mausklick auf eines der Icons neben dem Avatar öffnet dir die erklärende Legende.
    Das Icon bedeutet, dass du im Ordo Senatorius bist, und kommt daher, weil dein Vater im Ordo Senatorius ist und diesen an dich vererbt. Dein Vater ist in diesem Ordo, weil er vor der CH-Rerform noch Aedil war. Senator ist deswegen allerdings keiner von euch beiden, das sieht man daran, dass der Hintegrund beige ist. :)

    Die dritte Stunde nach tiefster Nacht:


    Es nahet im Brausen auf hohem Meer ein wunderliches Weib,
    der Blick so kühn, und so blank die Wehr, und so herrlich der wonnige Leib.
    Die Wellen leis plätschern um ihren Fuß und neigen sich vor der Dame,
    im Jubel entbieten sie ihren Gruß, Lucilla ist ihr Name.
    Aus Träumereien aufgeschreckt staunt sie den Neptun an:
    "Bist endlich, du Herrliche, aufgeweckt, behersch nun den Ozean.
    Nimm hin mein Szepter und meine Kron, dein sei sie ohne Neid und ohne Weh.
    Nimm hin meine Macht als des Schicksals Lohn, holde Lucilla zur See!"
    Es jubeln und singen im Meeresgebiet die Nixen mit fröhlichem Sinn:
    "Dir gilt unsre Liebe, dir tönt unser Lied, dir, holden Gebieterin!
    Wir schirmen und schützen dich Tag und Nacht, die Schiffer holn wir dir her,
    in sonnigem Glanze erglüh deine Macht, Lucilla tief im Meer!"


    Kurz vorm Morgengrauen:


    Aus der schwarzen Nacht blickt einsam der Morgenstern her,
    die Dünung schaukelt das Schiff sacht auf dem weiten, endlosen Meer.
    Leise über den sanften Wogen zieht die Harpya ihren Lauf,
    dann steigt bald am fernen Himmelsbogen die Tagessonne auf.
    Muntres Regen, muntres Treiben wird im Ozean erweckt durch ihren Glanz
    und die bunten Wellen spielen tosend sich auf zum turbulenten Meerestanz.
    Doch an Bord ist es still und düster, statt laut singender Piraten und Heiterkeit
    hört man keine Menschenseele, man sieht keine Freude und auch kein Leid.
    Leise in den sanften Wogen senkt sich die Stille auf die Planken hinab
    und der Sonne heller Strahlenschleier spannt sich über dieses düstre Grab.
    Keine Rose schmückt die Stelle und kein Mausoleum zeigt den Ort,
    nur die Möwen und der Wind streifen einsam über Lucillas Grab hinfort.


    Am Morgen:


    Lucilla erwacht fröstelnd und braucht einige Herzschläge, bis sie ihre Gedanken sortiert hat. Sie erinnert sich an merkwürdige Träume, doch zum Glück fällt ihr keiner mehr davon ein. Vorsichtig hebt sie die Decke und schaut darunter. Dann seufzt sie erleichtert, da sie noch am Leben und sogar in einem Stück am Leben ist. Sie reckt sich und schält sich bibbernd aus der Decke. Ein Schiff mit Fußbodenheizung wäre nicht schlecht. Langsam und bedächtig macht sich Lucilla daran, sich herzurichten. Sie glaubt über sich Fußgetrappel zu vernehmen, doch vielleicht ist es nur das Schlagen eines Segels an einen Mast. Doch wenn sie schon nachsehen muss, ob noch irgendwer an Bord am Leben ist, möchte sie dabei wenigstens ordentlich aussehen. Sie bürstet sorgfältig ihre Haare, bindet sie locker zusammen, reinigt sich so gut wie möglich mit dem Wasser vom Vortag aus der Schale und zieht das Kleid vom Vorabend an, auch wenn es vielleicht für eine Bestattung unangemessen ist. Sie betrachtet ihr Gesicht in der Wasserschale und greift auch noch zu dem kleinen Ölfläschchen, das noch immer auf dem Tisch steht. "Was mache ich hier überhaupt?" fragt sie sich schließlich leise. "Wahrscheinlich werde ich schon verrückt. Prima, so habe ich mir mein Ende immer vorgestellt. Als verrückter Lemur auf dem Meer zu enden. Das erste Anzeichen von Wahnsinn war es schon immer Selbstgespräche zu führen, das hätte ich also schon einmal erledigt. Danach ..."


    Lucilla verstummt, als sie ein leises Klopfen an der Tür hört. Klopft Mercur an die Tür an, wenn er kommt um die Seele zu holen? Ihr Herz tut einen kleinen Freudensprung, als Tetischeri die Kabine betritt. "Tetischeri! Guten Morgen!" Lucillas Augen folgen dem Tablett auf den Tisch, sie hat unglaublichen Hunger, wenn sie genauer darüber nachdenkt. Doch ihre Aufmerksamkeit wird schnell von den Worten der Ägypterin gefesselt, bis die Tür auffliegt und der Wind eine Gestalt hereinweht, die direkt aus dem Hades zu kommen scheint. Tullius hat es wohl nicht für notwendig befunden, sich für den Tag herzurichten. Dunkle Ringe umranden seine Augen, sein Haar sieht zerzaust aus und seine Wangen eingefallen. Lucilla hat keine Ahnung, wie genau die Pest sich äußert, aber womöglich fängt es so an? Andererseits, nach durchgefeierten Nächten sahen ihre Brüder und Cousins auch schon so aus. Gerade als Lucilla die Stille zu schwer wird, und sie schnippisch fragen will, was ihr Herr und Meister befielt, da bricht der Kapitän die Stille selbst und fordert Lucilla auf, den Fluch zu lösen.


    Noch ehe sie darüber nachdenken kann, ob sie ihm sagen soll, dass sie keine Ahnung hat, wie sie das anstellen soll, da wird Tullius schon wieder an Deck gerufen. Lucilla schaut ihm zweifelnd hinterher und als die Tür durch die Bewegungen des Schiffes und den durch alle Ritzen ziehenden Wind zufällt, schüttelt sie den Kopf. "Männer!"
    Das schlimmste an der ganzen Situation ist natürlich, dass er Recht hat. Natürlich wusste Lucilla das schon vor ihm, aber ihr ist noch immer keine Lösung eingefallen. Allerdings hat sie es auch nicht wirklich eilig. Ein paar Piraten weniger wären sicher nicht so schlimm, hauptsache ein paar würden das Schiff an Land steuern. Dann sollen sie sich eben beeilen, so weit kann das Land ja nicht entfernt sein, denn wer ist schon so verrückt und steuert in dieser Jahreszeit mitten übers Meer? Nichteinmal Piraten können so verrückt sein, außerdem erwähnte der Kapitän am Vorabend, dass Hispania nicht weit ist. Und wenn doch?
    "Argh! Ich hasse dieses elende Piratenpack! Die machen mich noch ganz wahnsinnig! Da! Ich rede schon wieder mit mir selbst!"
    Wütend stößt sie die Tür auf, packt das Tablett und macht sich auf den Weg an Deck. Sie würde das Frühstück den Göttern übereignen im Versuch den Fluch durch ein Opfer zu lösen. Irgendwie müssen die Götter schließlich zu überzeugen sein. Mit energischem Schritt stampft Lucilla über die Holzplanken und kämpft sich schließlich an Deck vor, das Treiben der Piraten um sich herum völlig ignorierend.


    Auch den Sturm ignoriert Lucilla, zumindest versucht sie es, auch wenn es nicht leicht ist, sich gegen den starken Wind voranzukämpfen. Auf einmal jedoch hält sie wie vom Donner gerührt inne. Langsam öffnet sich ihr Mund, der scharfe Wind zieht ungehindert dort hinein, und sie zieht ein Gesicht, als würde sie einen Lemur sehen. Und tatsächlich, das tut sie. Denn dort an Deck steht Ambrosius. Ambrosius! Mit einem Krachen, das sicherlich nicht unbedingt leise wäre, wenn es nicht durch den Sturm völlig übertönt würde, schlägt das Tablett samt Schüssel, Becher, Essen und Wein auf dem Boden auf. Hinter Ambrosius schiebt sich langsam ein Schiff in Lucillas Blickfeld.


    Wiegende Wellen, wallende Fluten schaukeln hernieder und wieder zur Höh,
    tragen das Boot flink über die wilde, schäumende, brausende See.
    Ein stürmischer Wind weht die Harpya hin in dunkle, unbegrenzte Weiten,
    zu fernem, unbekanntem Ziel, getrieben durch die Launen dreier Gottheiten.
    Von Strudeln umlauert, von Ungeheuern beäugt und vom Feinde gejagt,
    doch allen Gefahren zum Trotz pflügt das Schiff durch die See mit unablässiger Fahrt.

    Lucilla drückt sich an die Wand und macht sich so dünn wie möglich, um möglichst wenig aufzufallen. Als der bullige Tabat an ihr vorbei geht und nicht schlecht vor sich hin mieft hebt Lucilla ihre Hand, fächert sich Luft zu und verdreht mit einem leisen "Urgs!" die Augen. Alle an Bord sind Tiere, da gibt es keinen Zweifel, und dieses Exemplar im Speziellen ist ein Eber. Zum Glück wird der Gestank bald durch den seltsamen Vogel Dardashi verdrängt, den ein Duft nach Kräutern begleitet, der Lucilla an die Räuchermischungen erinnert, welche man um die Totenbahren herum räuchert um den Geruch des Todes zu überdecken. Sie schaudert und das Bild Tertias entsteht vor ihrem inneren Auge, einer bleichen Tertia auf der Totenbahre im Atrium der Casa Decima in Tarraco. Dies ist ein Bild, das sie so nie gesehen hat, doch es erscheint so unglaublich real, dass sie die Welt um sich herum nur mit wenig Aufmerksamkeit bedeckt, wortlos das Tuch von dem Pirat entgegen nimmt und diesem nur verwirrt nachschaut, unsicher was das nun wieder bedeuten soll.


    Von den Wellen sanft dahin getragen schaukelt das Schiff beinahe beruhigend in der Dunkelheit und selbst das leise Getrappel der Füße über die Planken hat wenig Bedrohliches an sich. Durch die vielen Geräusche hindurch sind es Dardashis Worte, die das Unheil auf leisen Sohlen verkünden. Aufgrund ihrer enormen Neugier hat Lucilla ihre Lauschtechniken schon in jungen Jahren perfektioniert und obwohl sie aufgrund des Windes und der Wellen nicht alles versteht, so hört sie doch ganz deutlich das Wort Pest, so als würde Dardashi flüstern, dieses eine Wort jedoch laut in die Welt hinausschreien. Erschrocken schlägt sich Lucilla die Hand vor den offenen Mund um ihrerseits jeden Laut des Entsetzens zu ersticken. Erst als sie panisch tief einatmet wird ihr bewusst, dass das in Öl getränkte Tuch samt ihrer Hand vor ihrem Mund ist. Die teilweise scharfen, beißenden Gerüche ziehen durch ihren Rachenraum, durch den Hals und auch bis in die Nase hinauf. Langsam werden Lucillas Augen größer und größer, ihre Nasenflügel beben gefährlich und sie hat das Gefühl gleich bersten zu müssen, wie eine Glaskanne, die auf den Boden fällt und in tausend Stücke zerspringt.


    "Haaatschiiiih!" In einer gewaltigen Schallwelle breitet sich das Niesen um Lucilla herum aus, fegt alles beiseite, was ihm in den Weg kommt, donnert durch jede Ritze des Schiffes, reißt jeglichen Laut mit sich und segelt auf den Wogen des Windes schließlich bis übers gesamte Mare Internum, bis an die Küste Hispanias, Italias, Africas, vielleicht sogar noch weit übers Land bis hinauf nach Germania, um dann irgendwo kurz hinter den Grenzen des römischen Imperiums zu verklingen. Zumindest kommt es Lucilla so vor.


    Erleichetert atmet sie auf, denn trotz allem ist soweit sie es feststellen kann noch alles an ihr dran und sie in einem Stück. Sie hält den Atem kurz an und lauscht, doch durch ihr Niesen hat sie den interessanten Teil des Gespräches zischen Dardashi und Tullius, in dem es um die römische Galeere ging, verpasst. Gerade will sie wieder Luft holen, da kommt Tabat erneut an ihr vorbei. Sie wartet mit dem Luft holen bis er an Deck verschwunden ist und bindet dann das Tuch vor Mund und Nase. Ihre Nase kribbelt noch etwas, doch sie muss nicht noch einmal niesen. Als Dardashi wieder nach unten geht und sie auffordert, ihm zu folgen, tut sie dies wortlos. Der Weg zur Kabine kommt ihr endlos lang vor, es ist beinahe stockdunkel. Erst jetzt dämmert wieder das unheilvolle Wort in ihr hinauf, das Tuch vor Mund und Nase wird ihr samt des Geruches und ihrer Assoziationen bewusst. Wo noch eben Tertia auf der Totenbahre lag, erkennt sich Lucilla nun selbst. Eingenebelt durch den duftenden Weihrauch liegt sie neben dem friedlich dahinplätschernden Wasser im Impluvium und in der Ferne, irgendwo im Atrium und doch unerreichbar, stehen schemenhafte Verwandte, von denen nur das klagende Trauerlied zu hören ist.


    Beinahe stolpert Lucilla gegen Dardashi, als dieser anhält um die Tür zu öffnen. Da sie nicht zur Seite geht, um ihn vorbei zu lassen, zwingt sie ihn mit in die Kabine hinein, ob er dies vorhatte oder nicht. Sie schließt die Tür hinter sich und lehnt sich dagegen, auf einmal ist es merkwürdig still an Bord.
    "Wir werden alle sterben." Es ist keine Frage, sondern eine Tatsache, die Lucilla leise flüstert um der Stille genüge zu tun, aber doch laut genug, dass Dardashi ihre Worte ohne Probleme versteht. "Es ist der Fluch. Seit dem Moment, seit ich mein Leben an das von Quintus Tullius gebunden habe, ist es zum Ende verurteilt, nicht wahr? Die Götter zürnen nur dann nicht, wenn er mich frei lässt, doch Quintus Tullius wird mich nicht gehen lassen. Seine Männer werden um ihn herum wegsterben und sein Leben wird zum Hades, doch er wird mich nicht gehen lassen, bis der Fluch schließlich sein Ende in unserer beider Tod findet." Was Lucilla nicht vor Dardashi zugeben wird, was ihr aber nur allzu klar ist, ist die Tatsache, dass sie den Fluch nicht einmal auf andere Weise lösten könnte, wenn sie dies wollte. Denn sie hat keine Ahnung, wie man einen Fluch wieder aufhebt. Tante Drusilla hat ihr unzählige Möglichkeiten beigebracht einen Fluch zu sprechen, ihn zur Wirkung zu bringen, ihn auch noch zu verstärken, doch wie man ihn wieder löst, davon hat sie nie etwas gesagt. Es hat ja auch nie im Leben jemand damit gerechnet, dass Lucilla irgendwann auf ihr eigenes Leben einen Fluch sprechen wird.


    In einer wütenden Bewegung reißt sie sich das Tuch vom Gesicht, ihr Flüstern gleich einem Zischen. "Das hat überhaupt keinen Sinn, es sieht nur albern aus. Ich werde so oder so sterben, aber nicht an der Pest, sondern am Starrsinn eines verrückten Piraten! Es scheint der Fluch der Decima zu sein, alleine und einsam zu sterben! Wusstest du, dass ich auf dem Weg zum Grab meiner Schwester war, als ihr mich ... aufgegriffen habt? Sie starb mitten in Rom, ohne dass irgendwer von der Familie bei ihr war! Mein Vater starb allein in Germania, mein Bruder in Hispania aber fern von Tarraco, der andere Bruder gar nicht fern in Tarraco und trotzdem allein, meine andere Schwester auch ohne Beistand. Und ich werde mitten auf dem Mare Nostrum sterben und es wird noch nicht einmal irgendwer davon wissen!" Entsetzt weiten sich Lucillas Augen. "Dea Tacita! Ich werde ja nichtmal sterben!" Das Flüstern nimmt einen langsam hysterischen Tonfall an. "Niemand wird mich bestatten! Keine Reinigung, keine Bestattung, ich werde auf diesem Schiff zugrunde gehen! Ich bin dazu verdammt als Lemur zu enden, wie mein geliebter Ambrosius! Bei Mors und Morta, ich werde eine verdammte Seele auf diesem verdammten Schiff werden, bis in alle Ewigkeiten mit einer Meute verdammter Piraten!" Das ist endgültig zu viel. Auf einmal kullern dicke Tränen aus Lucillas Augen. "Was habe ich nur getan? Hab ich die Götter nicht immer geachtet? Warum strafen sie mich jetzt so sehr?" Ihr glasiger, anklagender Blick trifft Dardashi, als wüsste der auf alle Fragen die Antworten. Lucilla schnieft und versucht, die Tränen mit ihrem Ärmel weg zu wischen, was nicht wirklich gelingt, denn es kommen ständig neue nach. Wie sollte es auch anders sein? Immerhin sitzt sie gefangen auf einem Schiff voller Piraten samt eines wahnsinnigen Kapitäns, das Schiff wird gerade eben von einem Seeungeheuer oder anderen Piratenschiff angegriffen weshalb der Kapitän auf die glorreiche Idee gekommen ist, ein paar Fässer über Bord zu werfen, dazu ist die Pest ausgebrochen und wahrscheinlich ist zu allem Überfluss jetzt auch noch ihr Makeup verlaufen!


    Die LXX. Ausgabe der Acta Diurna ist soeben erschienen. Wir wünschen unseren Lesern viel Freude und Information mit dieser neuen Ausgabe.


    Die Redaktion.



    Die Themen dieser Ausgabe:
    - Neuerungen hinsichtlich des Cursus Honorum
    - Änderungen am Codex Militaris
    - Weitere Dekrete des Kaisers
    - Vota pro salute principis der Fratres Arvales
    - Kurznachrichten aus aller Welt
    - uvm.

    Durch das ganze Schiff zieht sich der Duft des Essens und begleitet Tullius und Lucilla auf ihrem Weg nach oben, wie auch das gedämpfte Stimmengewirr der feiernden Piraten. Als sie vor dem Kapitän die Treppe nach oben steigt, beeilt sich Lucilla, denn obwohl ihr Kleid natürlich bis zu den Knöcheln reicht und Tullius es nicht auf ihren Körper abgesehen hat ist die Treppe einfach zu steil und man kann nie vorsichtig genug sein. Oben drängt es sie förmlich danach ihre Nase in den Wind zu stecken und den Duft nach Meer tief einzuatmen, so wie sie es oft am Hafen oder am Stand von Tarraco getan hat. Doch Tullius kommt ihr zuvor und Lucilla verwirft ihr Vorhaben aus reinem Trotz. Sie würde keine Ähnlichkeiten zwischen ihm und ihr zulassen, zwischen einem Piraten und einer Römerin. Später vielleicht, wenn er irgendwo anderst hinschaut, dann würde sie die Seebrise durch ihre Nase ziehen, vorher nicht.


    Ihr Trotz wird weiter angestachelt durch seine Erläuterungen. "Ein Teil Roms sein zu dürfen wiegt alles auf!" Kann dieser Mann einfach nicht verstehen, um was es geht? Wie hart hat Lucilla dafür gekämpft in Tarraco als Römerin angesehen zu werden, ihre Herkunft abzuschütteln. Die vielen Entbehrungen, die vielen Sesterzen für Schuhe, Kleidung und Tand, die nicht immer einfachen gesellschaftlichen Verpflichtungen, all das Drum und Dran fegt er einfach mit seinen Behauptungen über Bord. Krieg, Sklaverei, Plünderung - das sind für Lucilla alles theoretische Begriffe, deren Vorkommen fern ihres Lebens liegen. Das Schlimmste, was ihr bisher im Leben passiert ist, ist auf einem Piratenschiff zu landen und vom Kapitän mit Hummer bewirtet zu werden. Zudem bleibt ihr überhaupt keine andere Wahl, als an das Gute Roms zu glauben. Ihre halbe Familie kämpft und stirbt dafür, wie könnte sie ihren Bruder und ihre Cousins hassen, für das was sie tun? Selbst wenn sie miterleben würde, wie Meridius Legionen ganze Dörfer unschuldiger Germanen überrennen würden, sie würde die Augen abwenden und in ihrer heilen kleinen Welt stecken bleiben.


    Darum ist es auch unmöglich für sie darüber nachzudenken, warum die Römer Griechenland erobert haben. Wann war das überhaupt? Das muss ja noch in der Republik gewesen sein, vielleicht sogar davor. Genau so wie Aegypten. Eine furchtbar alte Geschichte, die mit der aktuellen Lage überhaupt nichts zu tun hat. Außerdem können die Länder nur froh sein, ohne Rom wäre ihre Kultur längst untergegangen. Aber auch das sagt Lucilla nicht, denn ein ganz, ganz leiser Zweifel tief in ihr drin bleibt doch. Allerdings wird der bald wieder ziemlich schnell durch die Frechheit des Kapitäns verdrängt. "Oh ja, sehr gut seid ihr! Gierig und roh wie Tiere! Und außerdem ... " Lucilla zieht die Augenbrauen zusammen und folgt Tullius Blick nach seinem Fluch. "Was ist?"


    Der Pirat denkt gar nicht daran, ihr zu antworten. Typisch. Doch sein überhasteter Aufbrucht bringt Lucilla endlich die notwendige Ungestörtheit. Sie wendet sich zufrieden dem Meer zu und zieht die frische Seeluft ein. Über ihr glitzern vereinzelte Sterne am dunklen Winterhimmel, doch Lucilla kann kein Sternbild entdecken. Das liegt nicht daran, dass sie keines kennen würde, ihr Onkel Proximus hatte ihr so manches in Verbindung mit einer Geschichte gezeigt. Doch über dem Meer hängen einige Wolken, die manche Sterne verdecken. Auf einmal wird Lucilla bewusst, wie dunkel es ist. Sie dreht sich um, doch das Licht an Deck ist verloschen.


    "Was ..." setzt Lucilla zu einer Frage an, doch Tullius Ruf nach den Männern schneidet ihr schon wieder den Satz ab. Typisch. Sie schüttelt genervt den Kopf und amüsiert sich heimlich bei dem Gedanken, dass das Licht ausgegangen ist und der großartige Kapitän es nun nicht schafft, es wieder anzuzünden und dazu seine Männer braucht. Doch die Freude währt nicht lange, als die angetrunkenen Männer nach oben stürmen. Manche stürmen mehr, manche weniger, diese torkeln dann eher, doch allesamt achten sie nicht auf Lucilla. Lucilla ihrerseits achtet jedoch genau auf sie, vor allem darauf, keinem im Weg zu stehen, denn sie möchte nur ungern durch einen unbedachten Stoß über Bord gehen - so gern sie auch von Bord gehen würde. Dass die Situation ernster ist, als es im Dunkeln den Anschein hat, realisiert Lucilla erst, als sich die Nachricht der Gefechtsbereitschaft über das Deck wälzt. Ihre Augen weiten sich erschrocken. Greifen die Piraten etwa auch Nachts andere Schiffe an? Womöglich ist auch ein Seeungeheuer aus den Tiefen des Meeres hervorgekommen! Dann jedoch schnappt sie leises Geflüster über ein sie verfolgendes Schiff auf.


    "Och nein, nicht schon wieder ..." Ihre einzige Eklärung ist ein anderes Piratenschiff. Wer sollte sonst so verrückt sein, in der Nacht ohne Lichter ein anderes Schiff zu verfolgen? Sie blickt sich ein wenig panisch um. Unter Deck gehen? An Deck bleiben? Unter Deck wäre sie vorerst sicher sicherer, allerdings käme sie vielleicht nicht rechtzeitig nach oben, wenn das Schiff untergeht. Zudem würde sie nicht sehen, was passiert. Andererseits könnte es sehr gefährlich werden hier oben. Langsam schiebt sich Lucilla zur Treppe hin und steigt noch langsamer hinab, bis nur noch ihr Kopf über Deck schaut. Ihr größtes Laster, ihre unstillbare Neugier, verbietet es einfach, sich ganz zurückzuziehen.

    Das Schiff wird auf den Wellen hin und hergerissen und pflügt ziellos durch den Ozean. Lucillas Gedanken und Gefühle werden auf Tullius Worten schwimmend genau so hin und her gerissen und pflügen ziellos durch den Ozean der Unschlüssigkeit. Von der Ziellosigkeit des Schiffes hat Lucilla keine Ahnung, darum stört sie das weniger. Ihre eigene Unschlüssigkeit aber ärgert sie ein bisschen. Entscheidungsfreude hat man ihr noch nie nachgesagt und schlimmer als am Markt zu stehen und nicht zu wissen, ob man jetzt die Sandalen aus rot oder die aus gelb gefärbtem Leder kaufen soll ist es, nicht zu wissen welchen Argumenten man Glauben schenken soll. Auf dem Markt kann man immer noch einfach beide Sandalenpaare kaufen. Mit den Argumenten ist das nicht so einfach. Noch vor wenigen Herzschlägen war sich Lucilla völlig sicher gewesen, dass sie nicht nur Tullius Person in Frage stellt, sondern sein ganzes Leben, das Schiff, auf dem sie sich befindet, die Piraterie und die Lebensweise aller Männer an Bord. Doch sein Vergleich bringt sie etwas aus dem Konzept. Natürlich hört sich das alles recht wahr an, was er sagt, doch diese Betrachtungsweise der Dinge würde nun Lucilla und Lucillas ganzes Leben in Frage stellen. Sie bemerkt kaum den jungen Mann, der Dardashi aus dem Raum holt. Sie hört noch nichteinmal zu, was er sagt, registriert nur den leicht panischen Unterton in seiner Stimme. Doch dass es an Bord panisch zugeht irritiert sie weitaus weniger, als wenn alles völlig harmonisch wäre. Wahrscheinlich ist es sogar diese Störung des friedfertigen Abends, die das Bild des Piratenschiffes wieder ins rechte Licht rückt. Doch selbst ohne die Untermalung durch die Musik des sanften Piraten bleibt eine Stimmung in der Kajüte zurück, die so gar nicht hierherpassen will.


    Es ist diese vordergründige Stimmung eines gepflegten Abendessens mit anregender Diskussion, die Lucilla dazu verleitet, frei heraus zu reden, so wie sie es sonst auch tut, wenn nicht gerade das sprichwörtliche Schwert des Damokles über ihr hängt. "Du vergleichst dich also mit dem Kaiser?" fragt sie schnippisch. "Dann hätten wir ja schonmal eine Eigenschaft, die einen Piraten ausmacht: Größenwahn." Die Decima sind schon immer kaisertreu gewesen, sogar schon bevor sie das Bürgerrecht bekommen haben. Sie waren auch vorher schon eine wohlhabende Familie, doch sich Römer nennen zu dürfen und dies auch noch zu sein, dies war der bisherige Höhepunkt der Familiengeschichte. Lucilla ist in diesen Römer-Wahn hineingewachsen und auch für sie gibt es nichts erstrebenswerteres, als alle Anzeichen von Nicht-Römertun zu tilgen. Natürlich wird sie immer irgendwie ein Landei bleiben, aber sie hat genug römische Marotten angenommen, um dies perfekt zu überspielen. "Wir vertreiben die Barberei aus der Welt und noch wurde jede Provinz, welche wir in unser Reich aufgenommen haben, zu einem Hort des Friedens und des Wohlstandes! Schau dir Hispania an, was glaubst du, was für ein schweres und mühsames Leben die Bevölkerung dort hatte? Ein einfaches Leben ohne Sinn und Zweck, dazu die Barbaren aus dem Süden, welche das Land mit ihrer Bosheit überzogen haben. Und heute ist es eine der reichsten und herrlichesten Provinzen im ganzen Imperium. Die Römer bringen den Aquädukt, die sanitären Einrichtungen, Straßen, medizinische Versorgung, Schulwesen, Wein, öffentliche Bäder, Sicherheit, Frieden und Kultur."


    Kultur umfasst in Lucillas Vorstellung hauptsächlich große Märkte, viele und großartig gefeierte Feiertage, die Annehmlichkeit von Thermen und viele und oft abgehaltene Gastmähler und private Feiern. An Literatur und Wissenschaft denkt sie dagegen weniger. Lucilla hat keine großartige Ausbildung genossen, wie manche andere Frauen in Rom oder wie vorwiegend patrizische Frauen, die dafür durchs halbe Imperium geschickt werden, so wie Livia. Am Anfang in Tarraco gab es wichtigeres, wohin das Geld der Familie floss und später dann wurde ihre Erziehung vollständig von Großtante Drusilla in Rom übernommen. Großtante Drusilla hat ihr immer eingetrichtert, dass eine Frau nie genug wissen kann und dass sich eine Frau für alles, auch politisches Geschehen interssieren muss. Doch die Wissenschaften sind etwas für Griechen und alle Literatur, die nicht ins Lateinische übernommen wurde, braucht man auch nicht zu kennen. 'Frauen, die das rechte Auftreten beherrschen, brauchen nicht mit hochtrabenden Rezitationen auf sich Aufmerksam zu machen.' hat Drusilla ihre Weisheit auf einen Punkt gebracht. Und Recht hat sie, Lucilla hat noch nie irgendwas zitieren müssen, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, obwohl sie ein paar Passagen aus Ovids ars amatoria perfekt beherrscht.


    "Germania braucht eben etwas Zeit, außerdem war ich gerade in Germania. Dort lässt es sich ausgesprochen gut leben mit den römischen Errungenschaften. Ich bin über wunderbare Straßen gereist, wo findet man das schon, außer im römischen Reich? Und die in Germania geborenen Menschen begrüßen all diese Annehmlichkeiten. Mein Cousin hat eine einstige Germanin geheiratet, sie ist übrigens sehr nett und hat überhaupt nichts von einer Barbarin, und sie ist sogar Comes. Was sollte eine Frau dagegen haben die Frau eines römischen Praefectus zu sein? Absolut nichts, sage ich dir! Viele Germanen treten den Hilfstruppen bei um ihr Bürgerrecht zu erwerben, denn sie wollen alle Römer sein. Mein Bruder hat sehr viel dafür getan, dass diese Provinz erblüht und eines Tages wird man dort genau so wunderbar leben können wie in Hispania oder Gallia oder sonstwo." Tullius Argumente über Versklavung und Arroganz übergeht Lucilla, nicht etwa, weil sie arrogant wäre, sondern einfach deshalb, weil das völlig außerhalb ihres Vorstellungsvermögens liegt. Über solche Dinge hat sie sich noch nie Gedanken gemacht. Natürlich fragen kleine römische Kinder manchmal nach, woher die vielen Sklaven kommen, doch dann hören sie Geschichten von den gütigen Göttern, die ein jedes Wesen an seinen Platz stellen. Obwohl Lucilla ihre Sklaven schon immer gut behandelt hat, hat sie auch später nie über deren Schicksale nachgedacht. Sie sind da, wo sie sein sollen, sie verrichten die Arbeit und solange ist alles in Ordnung. Wenn sie das nicht mehr tun, dann ist das nicht Lucillas Angelegenheit, sondern die des anwesenden Hausherrn.


    Lucilla erhebt sich träge von der Kline, macht aber keine Anstalten Tullius Arm zu ergreifen. "Vielleicht sollten wir in dieser ... Beziehung ... ein wenig Abstand wahren. Es sei denn, du bestehst darauf." Es graut ihr davor, diesen Mann zu berühren, der momentan zwar nicht mehr ganz so furchtbar erscheint, aber doch nichts anderes ist, als ein widerwärtiger, grausamer Pirat.