Jede ruckhafte Bewegung schreckt Lucilla auf, so auch als Tullius aufsteht. Eigentlich ist der ganze Tag nur eine einzige Anspannung. Selbst wenn sich Lucilla nach außen hin etwas lockerer gibt, so erwartet sie im Inneren doch ständig, dass irgendetwas passiert. Dass sich Dardashi mit einem Säbel auf sie stürzt, dass Tullius ihr ein Messer in den Bauch rammt, dass ein Pirat durch die Tür stürmt und ihr den Kopf abschlägt, selbst die einfältige gallische Vorstellung dass ihr der Himmel auf den Kopf fällt scheint ihr nicht mehr so abwegig wie früher. Sie verfolgt Tullius mit ihren Blicken, die schließlich auf den Truhen voller Schätze kleben bleiben. Irgendwo hier sind vermutlich auch ihre Einkäufe aus Germania, wenn sie nicht mit dem Handelsschiff bis auf den Grund des Meeres gesunken sind. So wie Ambrosius. Armer Ambrosius. Im ersten Augenblick ist vielleicht noch mehr als Sorge und Bedauern in Lucillas Blick. Ein Hauch von Gier, ganz zart, aber doch nicht zu leugnen. Wie die Frau eines Senators oder hohen Patriziers zu leben, das ist es auch, was Lucilla immer verfolgt hat, zumindest seit den Tagen, seit sie zu Großtante Drusilla nach Rom gekommen ist und von ihr in das Spiel um Ansehen, Macht und Geld eingeführt wurde. Ist sie so viel anders als er? Was wäre geschehen, wenn die Decima nicht so viel Einfluss gewonnen hätten und ein Senator für Lucilla nur mehr als angemessen ist? Was, wenn sich keine mächtigen Männer für sie interessiert hätten? Wäre sie über Leichen gegangen, um in anderem Fall an einen heranzukommen, an Geld, an Macht, das Leben einer echten Römerin? Das Schicksal hat ihr zum Glück andere Wege bestimmt und wahrscheinlich wäre Lucilla vor Gram eingegangen, doch ein kleiner Rest von Zweifel bleibt bestehen solange man das hintergründige Glühen in ihren Augen sieht, deren Blicke über Tullius Schätze schweifen.
'Nichts!' Das ist ziemlich wenig, was Lucilla bieten kann und die Erkenntnis ist ernüchternd. Um Zeit zu schinden widmet auch sie sich dem Ei, doch ihr Appetit rückt merklich in den Hintergrund ihrer Aufmerksamkeit. Drohen? Meridius würde Tullius bis ans Ende der Welt jagen, wenn sie ihn darum bittet. Nein, wahrscheinlich müsste sie nicht einmal darum bitten. Als wären ihre Gedanken nicht ständig völlig unpassend, wird Lucilla auf einmal klar, dass sie tatsächlich die Letzte ist, die Meridius von seinen Geschwistern geblieben ist. Würde sie nicht mehr zurückkehren und es würde auch nur der kleinste Verdacht bestehen, dass Piraten ihre dreckigen Finger im Spiel haben, dann würde er ausziehen, jeden Hafen umdrehen und das ganze Mare Internum umwühlen, bis jeder einzelne Pirat an einem Kreuz hängt. Ja, Lucilla ist davon überzeugt, dass er dazu in der Lage wäre. Doch wenn sie nun ihren Namen nenen würde, dann hätte sie jegliche Macht darüber verloren, so wie Quintus Tullius über den seinen.
Die Entscheidung nimmt der Kapitän ihr selbst ab, indem er ihr ein Angebot unterbreitet. Als er sich etwas näher zu ihr beugt, weicht Lucilla instinktiv unmerklich zurück. Sie blickt ihn aus großen Augen an, als er von ihr die Aufhebung des Fluches verlangt. Danach ... bei den Göttern! Ist es das? Einige Wochen Gesellschaft? Einige Wochen! Lucilla erwidert Tullius Blick mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck. Sie mag ein wenig einfältig sein in dieser Hinsicht, doch dumm ist sie nicht. Ihr Körper ist ihr tatsächlich neben ihrem Leben auch noch geblieben. Von ihrer Mutter schon früh zu Bescheidenheit ermahnt, hat Lucilla nie nachvollziehen können, warum dieser Körper auf Männer so anziehend wirkt. Doch dass er wirkt hat so mancher bewiesen. Sollte Quintus Tullius ebenfalls nur so einfach gestrickt sein? Womöglich gehört das zu seinem Plan? Womöglich nimmt er sich von jedem Schiff eine Frau mit, lässt sie erst tagelang in dem engen Loch darben, damit sie verzweifelt und sich ihm in seiner Güte an den Hals wirft? Und nach einigen Wochen? Wenn er mit ihr fertig ist? Dann wirft er sie doch noch über Bord zu den Fischen.
Lucilla lächelt. Es ist das Lächeln der Verzweiflung. Der Wal würde sie nicht wieder Lebend ausspucken. Er würde sie kräftig durchkauen, durch seine Verdauung jagen und sich hinterher der ungenießbaren Reste entledigen. Ihre Stimme wird hart.
"Wenn ich den Fluch aufhebe, was bleibt mir dann noch? Nichts. Du willst meine Gesellschaft haben? Nimm sie dir, Quintus Tullius, so wie du dir alles nimmst. Brauchst du mein Einverständnis für dein schlechtes Gewissen? Ich glaube nicht, denn ich glaube nicht, dass du überhaupt eines hast. Ich werde hier an Bord bleiben und tun, was du sagst, denn welche Wahl habe ich schon? Doch meinen freien Willen wirst du nicht bekommen. Und wenn ich am Boden liege, zerfetzt von deinem Säbel weil dir mein Anblick keinen Spaß mehr bereitet, und sich mein Leben aus dieser Welt löst um hinüber ins Elysium zu ziehen in die Arme meiner Ahnen, dann werde ich wissen, dass dein Leben sich mit mir auflöst, doch dass auf dich kein Elysium wartet, keine Ahnen, welche dich in ihren Kreis aufnehmen. Denn auf dich wartet nur endlose Qual, Quintus Tullius, bei den Göttern des Infernos, du wirst verdammt sein auf ewig an deinem Reichtum und deiner Macht zu ersticken, nur um sie wieder zu erbrechen um sie erneut zu verschlingen!"
Lucilla greift nach dem Glas und stürzt einen großen Schluck Wein hinunter. Der Schmerz in ihrer Kehle, die Hitze, die in ihren Kopf steigt sollen ihr nur recht sein. Hatte sie auch nur einen winzigen Augenblick geglaubt, lebend aus diesem Alptraum zu entkommen, so sind alle Hoffnungen mit diesem Essen verflogen. Quintus Tullius ist genau das, was er ist, ein grausamer Priat, und vielleicht ist sie doch Decima genug um sein widerwärtiges Leben durch ihres zu beenden. Denn bleibt ihr eine andere Wahl?