Lucilla erwacht ausgeruht früh am nächsten Morgen. Die stabile Lage des Betts und der ereignisreiche Vortag führen sogar fast dazu, dass sie verschläft, doch Ambrosius weckt sie natürlich rechtzeitig. Nach einem kurzen Besuch in den nahen Thermen findet sie sich zum Frühstück im Speiseraum der Mansio ein, wo Avarus bereits wartet. Nach dem fülligen Schlemmen am letzten Abend hat Lucilla nicht wirklich großen Hunger und so begnügt sie sich mit ein paar Kleinigkeiten zum Frühstück.
Die anschließende Arbeit wird aufgeteilt. Avarus würde sich am Vormittag auf dem Markt um eine Kamelkarawane, Personal und Vorräte für die Weiterreise kümmern. Natürlich hat Lucilla ihm angeboten, dass sie ihn begleiten könnte, doch er hat dankend mit dem Hinweis auf ihre extrem wichtige Aufgabe im Officium des hießigen Praefectus Vehiculorum abgelehnt. Lucilla kommt dies im Prinzip auch nicht ungelegen, sie hat ihren Verlobten schon auf dem Schiff davon überzeugt, dass es besser wäre, wenn sie die Überprüfungen im Officium übernehmen würde. Denn natürlich ist Avarus der Legatus Augusti cursu publico, doch von der täglichen Arbeit eines Praefectus Vehiculorum hat er trotzdem keine Ahnung. Dafür würde er den Nachmittag dann mit der Inventur der Mansio verbringen dürfen.
So kommt es, dass Lucilla etwas später die Regia erreicht. Im seichten Licht der frühen Morgensonne sieht das Gebäude mindestens so imposant aus, wie am späten Nachmittag, wenn nicht sogar noch mehr. Sie meldet sich bei dem Scriba hinter der Eingangstür an und dieser beschreibt ihr den Weg zum Officium des Preafectus Vehiculorum. Auch im Verwaltungstrakt der Regia sind die Gänge nicht minder beeindruckend als im Wohntrakt. An einer Säule bleibt Lucilla einen Augenblick stehen um sich nochmals die außergewöhnliche Struktur anzusehen. Als sie jedoch bemerkt, dass ein Soldat, der an einer Tür Wache steht, sie merkwürdig mustert, lächelt sie verlegen und geht schnell weiter bis zum Officium des Praefectus Vehiculorum von Mauretania Caesariensis, Marcus Varius Tacitus. Sie streicht noch einmal über ihr Kleid, zieht den Umhängegurt des Leinenbeutels auf ihre Schulter zurück, klopft und wartet, bis sie hineingebeten wird.
"Salve, Varius Tacitus. Ich bin Decima Lucilla, Praefecta Vehiculorum von Italia, und im Zuge der Inspektionsreise des Legatus Augusti cursu publico hier."
"Salve, Praefecta. Ich dachte mir schon, dass ihr heute kommt, die Tabellarii haben gestern von eurer Ankunft berichtet. Setz dich doch. Wie war die Reise?"
Lucilla setzt sich und lässt ihren Blick durch das Officium schweifen. Es ist etwas größer als ihres, kein Wunder, die ganze Regia ist ja auch größer, als die Curia in Itialia. Allerdings sieht es etwas unordentlich aus, Papyri stapeln sich in den Regalen und in einer Ecke sogar auf einem Haufen auf dem Boden, über den Schreibtisch liegen allerlei Wachstafeln und Griffel verstreut und Lucilla bemerkt sofort den dicken Tintenfleck, der sich schon tief in das Holz des Tisches eingegraben hat. Außerdem hat der Preafectus eine Menge persönliche Kleinigkeiten verstreut, in den Regalen stehen tönerne Figurinen, einige stellen wohl Götter, andere Sagengestalten oder Tiere dar. Auf dem Schreibtisch prangert in einer Ecke ein bronzener Löwe mit vergoldeter Mähne, was nicht unbedingt Lucillas Geschmack trifft, doch sie muss zugeben, dass das Officium durch dies trotz der Unordnung eine etwas persönlichere Note bekommt. "Danke, die Reise verlief recht gut. Einen kleinen Sturm hatten wir, jedoch nichts Außergewöhnliches."
Tacitus steht auf, geht zur Tür und weist einen Scriba vor dem Officium an, etwas zu Trinken zu holen. Als er wieder hinter dem Schreibtisch sitzt, pflegen sie vorerst etwas belanglose Konversation, tauschen Neuigkeiten aus und plaudern ein wenig über ihre Tabellarii, bevor sie sich schließlich der Arbeit widmen.
"Das sind die Versandlisten der letzten Monate." Der Praefectus schiebt der Praefecta einige Papyrusrollen hin, von welchen sie die erste nimmt und entrollt.
"Oh. Was bedeutet der Kreis beim Zustellungsdatum?" Lucilla zieht verwundert die Augenbrauen zusammen.
"Ah so, ja, das ist nur so eine Markierung. Der zuständige Tabellarius hat dann vergessen, mir zu sagen, wann er den Brief abgeliefert hat, dann mache ich eben einen Kreis in die Liste."
"Aha. Aber hier steht doch überhaupt kein Zusteller?"
"Ja, mhm, da habe ich dann wohl vergessen, einzutragen, wer das war."
Mit einem skeptischen Blick legt Lucilla die Liste weg und nimmt die nächste zur Hand. Eine regelrechte Furche bildet sich auf ihrer Stirn. "Hier fehlen ja die Gebühren."
"Oh, ähm, das war im März, nicht wahr? Ja, also da habe ich mal die Gebührenauflistung eingespart. Man kann sie doch eh aus der Briefart berechnen."
"Es könnte sich doch auch um Beträge von Wertkarten handeln. Woraus wird das dann ersichtlich?"
"Wertkarten?"
"Habt ihr keine Wertkarten?"
"Äh... also... nein..."
"Aber davon gehört hast du schon?"
Tacitus windet sich ein wenig auf seinem Stuhl und Lucilla bemerkt ein paar feine Schweißtropfen auf seiner Stirn, welche nicht unbedingt nur von der Hitze kommen. "Hast du die aktuell gültigen Vorschriften da?"
"Sicher... moment... hier irgendwo... mhm... vielleicht da... ach nein, im Regal..."
So langsam wundert die Praefecta überhaupt nichts mehr. Schon bei der Übersicht über die Dokumente aus Caesarea in Italia ist ihr klar gewesen, dass irgendwas in dieser Abteilung falsch läuft. Zum Glück ist ihr ähnliches bei keiner anderen Provinz aufgefallen, so wäre dieses erste Chaos vielleicht und hoffentlich auch das größte.