Es war schon nach der Abenddämmerung, da Minervina sich gerade bereit gemacht hatte, sich ins Bett zu legen. Noch stand sie vor ihrem Spiegel und bürstete – unter Qualen – ihr langes, braunes Haar. Wieder einmal ging ihr sacht der Gedanke durch den Kopf, dass sie ganz ansehnlich war, was ihr aber nicht behaglich war. Als Kind war es ihr immer sehr gleich gewesen, doch heute fürchtete sie darum, an einen falschen Mann zu geraten, der ihr wegen des Aussehens schöne Augen machte und sich um sie selbst wenig scherte. Sicher konnte sie keine harmonische Ehe erwarten, denn ihr war auch der Stand wichtig, doch sie wollte nicht nur wegen ihrer nussbraunen Augen oder dem seidigen Haar erwählt werden, sondern weil der Mann sie auch im Wesen schätzte. Seufzend ließ sie die Bürste sinken und begann grob das Haar zu flechten, um bis zum Morgengrauen neue Knoten zu vermeiden. Es war erst ein paar Tage her, seit sie nach Rom gezogen war und sie vermisste bereits die ländliche Umgebung. Dafür allerdings nicht die weiten Wege bis zum Pantheon. Kaum dass sie das Band am Ende des Zopfes befestigt hatte, ließ sie Arme baumeln und starrte sich an. Nicht eine Unreinheit war in ihrem Gesicht zu erkennen und sie hatte eine gute Statur. Und doch war sie nicht glücklich. Was war dies für eine seltsame Welt, in der sie lebte? Als Kind hatte sie sich immer ein schönes Aussehen gewünscht und nun da sie es hatte, lag ihr nichts mehr daran.
Was davon war von ihrem Vater, was von ihrer Mutter? Während sie sich im Spiegel betrachtete, konnte sie bei ihren Augen den Vater ausmachen. Es war das gleiche Braun und ein warmer, freundlicher Blick, der manchmal in die Ferne zu sehen schien. Ob der Blick ebenfalls bei ihrem Vater diesen Ton hatte? Während sie ihr Gesicht betrachtete, überlegte sie, woher ihr Mund kam. Er hatte eine durchschnittliche Größe und keine übermäßig vollen Lippen, wodurch er gut zu ihrem schmalen Bau passte. Seufzend zog sie sich die Ohrringe aus den Läppchen. Das Haar hatte sie farblich von ihrem Vater, doch die Glätte von ihrer Mutter. Den dunkleren Hautton von ihrem Vater. Die Größe war individuell, denn ihr Vater war größer und die Mutter kleiner als sie. Sie warf sich den Zopf auf den Rücken und wandte sich dem Bette zu, als es an der Tür klopfte und sie leise „Herein!“ rief. Eine Sklavin kam mit einem um Vergebung bittenden Lächeln herein gehuscht.
„Es ist Post für Dich angekommen, Herrin. Verzeih, dass ich dies erst so spät bemerkte.“ bat sie, doch Minervina war ohnehin nicht in der Laune, nun einen strafenden Blick zu senden und nickte bloß müde, während sie das Pergament entgegen nahm. Wer sollte ihr denn nur schreiben? Gewiss war es Onkel Callidus, denn Mutter war schon auf dem Weg nach Rom. Gedankenverloren legte sie das Schriftstück auf die Ablage neben ihrem Bett und streifte die Sandalen ab. Kurz schweifte ihr Blick zu der Lyra – sollte sie vielleicht einmal wieder spielen? Seit sie in Rom angekommen war, war sie noch nicht einmal dazu gekommen. Sie ging auf sie zu und nahm das Instrument auf, um sich mit diesem auf ihr Bett zu setzen. Sacht glitten ihre Finger unbestimmt über die Saiten und die Klänge lösten einen leichten Schauer aus. Leise summte sie eine altbekannte Melodie, jene, die Marcus ihr damals vorgesungen hatte und sie lehrte. Die Worte kannte sie nicht mehr, doch die Melodie hatte sich in ihr Herz gebrannt. Sie war so voller Sehnsucht, dass es ihr unmöglich gewesen wäre, sie zu vergessen. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen, während ihre feingliedrigen Finger die Saiten mit Hingebung zupften. Sacht schloss sie die Augen und lauschte den Klängen und nach einigen Klängen später, war sie so stark in die Melodie versunken, dass sie fast glaubte, jemand anderes würde diese spielen und sie einfach nur lauschen.
Saite für Saite entspannte sich ihr Gesicht zu einem leichten Lächeln.
Jede Melodie schien ein Schritt zu sein, der sie tiefer in eine Welt führte, die keine Grausamkeiten kannte. Eine Welt, von der sie seit jenem Tag in Tarraco regelmäßig träumte. Als dann aber ihre Lider begannen sich zu öffnen und sie beim Anblick der Öllampe gewahr wurde, wie spät es war, legte sie Hand auf die Saiten um das Instrument zum Verstummen zu bringen. Sie stellte es rasch wieder fort und sah sich in ihrem Zimmer um. Schade nur, dass die Sklavin so rasch wieder gegangen war, denn jetzt könnte sie gut noch etwas Wasser vertragen. Doch gleich. Sie dämmte das Licht der Öllampe und ließ sich auf dem Bett nieder, wobei ihr Blick allerdings wieder zu dem Brief ging, den sie schon jetzt wieder vergessen hatte. Sanft griff sie nach dem gut genutzten Pergament und rollte es auf.
An Rediviva Minervina, Villa Tiberia, Roma.
Salve Minervina,
erinnerst du dich noch an mich? Ich bins Marcus, nun ich musst mal wieder an dich denken und entschloss mich dir zu schreiben. Ich hoffe die Adresse ist richtig, falls nicht wird sich wohl jemand anders über den Brief freuen oder auch nicht. Wie auch immer, ich hoffe es geht dir gut in Roma und deine Ausbildung geht vorran. Ich habe es hier in Germanien relativ gut, ein schönes Landgut und einen netten Gallier als lustige Gesellschaft, auch wenn ich sagen muss dass ich von Germanien noch nicht allzu viel gesehen habe. Zumindest keine baumhohen Barbaren. Bevor dieser Brief ins alberne abdriftet, die Gefahr ist ja bei mir durchaus vorhanden, will ich dir noch sagen dass ich dich vermisse und ab und zu wünschte dass wir uns nicht aus den Augen verloren hätten. Wir sehen uns eines Tages wieder. Ich komme bald eventuell nach Roma, wenn mein Arbeitgeber es genehmigt. Eventuell sehen wir uns dann. Nun... Ich würde mich über eine Antwort freuen. Schreibe ans Landgut des Prudentius Commodus, wenn du magst. Ich muss leider wieder an die Arbeit. Das heißt dass ich jetzt zum Ende komme.
Du hast immernoch einen Platz in meinem Herzen. Der Tag den wir erlebten wird uns wohl noch weiter verbinden.
Auf bald.
Marcus Hipparchus.
Die zu ersichtende Schrift war ihr vollends unbekannt und mit gestiegener Skepsis begann sie die Zeilen im matten Dämmerlicht zu lesen. Allerdings musste sie das Pergament wie von Schwindel ergriffen weg halten, als sie den Namen ‚Marcus’ las. Es konnte nur ein Marcus sein, doch dies wiederum schien unmöglich. Er wusste weder, wo sie war, noch konnte er in der Lage sein.. Doch sie entschloss sich diese Gedanken ruhen zu lassen und erst einmal den Brief zu lesen. Während sie las, kam sie zu dem Schluss, dass es keine Zweifel geben konnte. Es musste sich einfach um jenen Marcus von dem schicksalsträchtigen Tag handeln. Wie lang war es nun her? Vier Jahre mussten es sein. Doch niemand anderes würde diesen trockenen Humor besitzen, niemand, den sie kannte. Bald allerdings musste sie wieder den Blick abwenden. >dass ich dich vermisse< hallte in ihr wieder und ungläubig ging ihre Hand zu ihrer Stirn. Diese Worte lösten wahrlich einen Taumel in ihr aus, der dazu führte, dass sie sich wieder aufrecht hinsetzte. Er hatte sie vermisst? Vermisst.. Konnte man denn überhaupt solch starke Gefühle hegen, denn schließlich kannte man sich nur einen Tag? Doch sie kannte die Antwort, denn auch sie hatte ihn vermisst. Auch wenn diese Sehnsucht mit jedem weiteren Tag gedämmt wurde. Und nun wuchs in ihr auch eine Freude, dass er es geschafft hatte und dass es ihr gut ging. Und vor Allem, dass sie endlich Nachricht von ihm hatte. Sie merkte jetzt, dass sie tatsächlich darauf gewartet hatte. Fieberhaft suchte sie die Zeile, an welcher sie abgebrochen hatte, wieder und fuhr mit dem Lesen fort. Und als sie letztlich seinen erlösenden Namen gelesen hatte, ließ sie sich nach hinten fallen.
„Aua!“ rief sie aus, denn sie hatte dabei völlig vergessen, dass hinter ihr nicht das weiche Bett, sondern die harte Wand saß. Schließlich baumelten ihre Beine den Bettrand hinunter. Doch lang hielt die Verstimmung nicht an. Sie hatte einen Platz in seinem Herzen, hatte er geschrieben. Und das brachte ihr Herz wiederum dazu, leicht zu hüpfen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass es die alte Verliebtheit wie in Kindheitstagen war, doch die Freude konnte sie nicht leugnen. Und vermutlich war es auch ‚nur’ die Freude über diesen Brief. Den Brief, den sie nun mit einem leichten Lächeln neben ihrem Kissen plazierte. Jener, über den sie am morgigen Tage weiter grübeln würde. Sie kuschelte sich sacht in ihr Leinen und schloss die Augen.