Ich begrüße Sie wieder zur Vorlesung. Letztes Mal haben wir uns zum Schluß mit der Interpretation beschäftigt und die verschiedenen Arten der Interpretation uns angesehen.
Innerhalb dieser 5 Arten gibt es keinen Vorrang einer bestimmten Methode. Weisen die einzelnen Ergebnisse aber in unterschiedliche Richtungen, so ist zu prüfen, für welches Auslegungsergebnis die überwiegenden Argumente sprechen.
Schließlich möchte ich Sie noch auf eine begriffliche Unterscheidung hinweisen: Aus Anlass eines Rechtsstreits kann es sein, daß der Gesetzgeber – welcher auch immer – eine Interpretation tätigt. Nehmen wir folgende Situation an: der Gesetzgeber erklärt den Begriff „fremd“ in einem neuen Absatz irgendeines Paragraphen des Codex Iuridicialis. Es hat sich unter Juristen eingebürgert, eine solche Situation als „authentische Interpretation“ zu bezeichnen, da nur jenes Organ eine Rechtsvorschrift „authentisch“ interpretieren kann, das die interpretierte Rechtsvorschrift selbst erlassen hat. Genau genommen handelt es sich aber nicht um eine „Interpretation“, dh um einen RechtsERKENNTNISakt, sondern um einen RechtsSETZUNGSakt: der Gesetzgeber hat ein bestehendes Gesetz novelliert, er bringt damit zum Ausdruck, daß er eine von ihm erlassene Rechtsvorschrift schon immer in einem bestimmten Sinn verstanden wissen wollte.
Wenn Sie nun das alles durchgearbeitet haben, jedes Gesetz drei- oder noch öfter durchgelesen haben, halten Sie nun Ihr Interpretationsergebnis in der Hand. Aber: Häufig wird Juristen vorgehalten, daß sie mit Auslegungstricks jenes Ergebnis „herbeiinterpretieren“, das sie haben wollen (allerdings ist es legitim, als Advocatus Argumente für einen bestimmten Rechtsstandpunkt zu entwickeln). Schließlich steht es nicht im Belieben des Interpreten, ob er – konfrontiert mit einer gesetzlichen Aufzählung – a) den Umkehrschluß oder e-contrario-Schluß ziehen soll, daß daher alles nicht ausdrücklich Genannte nicht erfasst sein soll oder b) im Wege der Analogie schließen soll, daß daher auch alle gleichartigen Sachverhalte erfasst sein sollen. Vielmehr muß es sich als Ergebnis der vorher genannten Interpretationsmethoden erweisen, ob die Tatbestandsumschreibung eine abschließende sein soll, die den e-contrario-Schluß gebietet (im Besonderen Teil des Codex Iuridicialis können Sie davon ausgehen), oder ob der Tatbestand bewußt offen formuliert wurde, sodaß auch alle gleichartigen Fälle analog zu behandeln sind. Genau der letzte Halbsatz bringt mich zu einem weiteren wichtigen Punkt in meiner Vorlesung, nämlich: Die Regelungslücken und die Analogie sowie das Ermessen.
Im Rahmen Ihrer Tätigkeit als Jurist werden Ihnen in den Gesetzen viele Lücken auffallen, tatsächlich kann niemand ein Gesetz schaffen, das vollkommen frei von Lücken ist. Das liegt zum einen daran, daß jedes Gesetz, jede Norm, so allgemein wie möglich formuliert werden muß, um soviele Sachverhalte wie möglich damit abzudecken, zum anderen daran, daß der Gesetzgeber einen bestimmten Sachverhalt, der regelungsbedürftig wäre, nicht vorhersehen konnte. Genau das ist eine sogenannte „echte Lücke“, die im Wege der Analogie geschlossen werden darf. Kommt man hingegen im Wege der Interpretation zu dem Ergebnis, daß eine Unvollständigkeit nicht planwidrig ist, daß es sich nicht um ein Versehen des Rechtssetzers handelt, so liegt auch keine Lücke vor und man darf sie nicht unter Anwendung der Analogie schließen.
Es gibt mehrere Arten der Analogie: Die Gesetzesanalogie orientiert sich an Regelungen desselben Gesetzes (also innerhalb zB der Lex Mercati), die Rechtsanalogie an Regelungen artverwandter Gesetze (Beispiel: Vergleich zwischen Codex Militaris und Lex Vigilum), die Rechtsgrundsatzanalogie an der gesamten Rechtsordnung. Es ist wohl naheliegend, daß der Interpret die Rechtsgrundsatzanalogie nur subsidiär anwendet, da sie überaus schwierig ist und umfassende Rechtskenntnisse voraussetzt.
Manchmal ist eine Behörde befugt, nach „Ermessen“ vorzugehen. Was bedeutet das? Meist muß die Behörde so vorgehen, wenn – und nur wenn – im Gesetz nicht alle entscheidungserheblichen Umstände explizit und detailiert aufgeführt sind, meist dann, wenn dies legistisch auch nicht möglich wäre. Die Behörde hat aber in einem solchen Fall auch kein „Wahlrecht“, sondern muß im Sinne des Gesetzes vorgehen. Am besten kann ich Ihnen das wohl so verdeutlichen: Im Codex Iuridicialis sind zu den Straftatbeständen verschiedene Strafrahmen festgelegt. Wird nun der Angeklagte schuldig gesprochen, sagen wir wegen § 78 Fahrlässige Körperverletzung, ist es gegen den Sinn des Gesetzgebers, wenn der Angeklagte das höchste Strafmaß zugesprochen bekommt, wenn er dem Opfer nur eine leichte Blessur angetan hat. Jedoch ist es unzulässig darüber zu streiten, ob der Angeklagte 9 oder 10 Tage Haft bekommen soll. Bewahren Sie also immer das Augenmaß!
Dieses Beispiel bringt mich zur richterlichen Praxis. Das Gericht bzw. die Verwaltungsbehörden sprechen für den individuell-konkreten Fall verbindlich aus, was „rechtens“ ist. Eine solche Entscheidung schafft nur für die Behörde und für die Parteien – und damit meine ich nicht die Factiones – verbindliches Recht, man nennt dies ius facit inter partes. Sie haben daher für Dritte nie die „Kraft eines Gesetzes“, sind also nicht als „Rechtsquellen“ anzusehen. Dennoch muß die Rechtsprechung der Höchstgerichte und der ständige Verwaltungsbrauch beachtet werden. Warum dies? Wenn ein Richter oder eine Behörde in einem Fall, der einem andern gleich oder ähnlich gelagert ist, plötzlich anders entscheidet, ohne bessere Gründe für sein Vorgehen angeben zu können, ist dies möglicherweise Willkür. In einem solchen Fall wird vielleicht wegen Rechtsbeugung oder Amtsmißbrauch zu ermitteln sein.
Zum Schluß des einführenden Teils in das allgemeine Recht möchte ich nur noch kurz über die verschiedenen Mängel sprechen, die ein Rechtsakt betreffen kann.
Hat das falsche Organ entschieden, so liegt ein „Zuständigkeitsmangel“ vor und der Rechtsmittelbefugte wird die „Unzuständigkeit des Organs“ rügen (zB wenn ein Iudicium Minor über einen Fall von Hochverrat entscheidet).
Wurden gegen Verfahrensbestimmungen verstoßen, so liegt ein „Verfahrensmangel“ vor und wird das Rechtsmittel die Verfahrensfehlerhaftigkeit rügen, zB wenn der Advocatus nicht in alle Beweismittel des Gerichts einsehen durfte.
Ist die Entscheidung inhaltlich unrichtig, liegt eine materielle Rechtswidrigkeit vor und wird die „Rechtswidrigkeit des Inhalts“ gerügt werden, zB wenn aufgrund eines Gesetzes entschieden wurde, das bereits zur Zeit der Tatbegehung außer Kraft war.
Jedoch kann es auch Fälle geben, in dem ein Rechtsakt gar nicht bekämpft werden kann, weil er gar nicht in rechtliche Existenz getreten ist, solche Akte gelten dann als „absolut nichtig“. Das sind zB „Urteile“ mit Arreststrafen, die ein Kleinkind verhängt, oder „Bescheide“, die nicht von einer Verwaltungsbehörde erlassen werden. Solche sogenannten „Mindestvoraussetzungen eines Rechtsakts“ müssen für jeden Rechtsakt gesondert aufgezählt werden bzw. auch ausjudiziert werden.
Hiermit schließe ich die Einführung in das allgemeine Recht. Das nächste Mal werden wir uns zum ersten Mal detailierter mit dem spannenden Bereich des Strafrechts beschäftigen. 