Ich begrüße Sie wieder zur Vorlesung. Letztes Mal haben wir festgestellt, was Rechtsnormen sind und wie sie generell entstehen. Doch dabei bleibt es nicht, denn die Rechtsnormen können sich ändern oder werden aufgehoben mittels einer Novellierung oder der Derogation.
Was ist eine Novelle? Grundsätzlich kann jene Rechtsetzungsautorität, die eine Rechtsvorschrift erlassen darf, eine so erlassene Vorschrift auch jederzeit ändern. Durch Novellen kann die sprachliche Fassung einzelner Formulierungen geändert, alte Bestimmungen aufgehoben und neue eingefügt werden. Dementsprechend „metasprachlich“ lesen sich Novellierungen (§ 12 lautet wie folgt: „…“, in § 27 wird folgender Absatz eingefügt: „…“ etc.). Ab dem Inkrafttreten jener Rechtsvorschrift, die die Novelle anordnet, gilt die geänderte Rechtsvorschrift in der geänderten Fassung, zitiert wird diese dann zB wie folgt: „Der Cod Univ idF der Novelle DCCCLIV“.
Der neue Codex Iuridicialis ist zwar auch eine Novelle, jedoch wurde der alte Cod Iur so umfassend geändert, daß es zweckmäßiger erschien, ihn gleich im Sinne eines „normalen“ Gesetzes zu verfassen.
Kommen wir nun zum interessanten Teil der Derogation. Mit dieser wird das Ende der Geltung und/oder Verbindlichkeit einer Rechtsvorschrift angeordnet. Ebenso wie bei der Novellierung gilt auch hier, daß die Rechtssetzungsautorität nur mittels Rechtsvorschriften über Geltung und Verbindlichkeit von Rechtsvorschriften disponieren kann. Wir unterscheiden folgende Varianten der Derogation:
Formelle Derogation: Eine Rechtsvorschrift enthält die Anordnung, daß eine bestimmte, namentlich genannte Rechtsvorschrift außer Kraft treten soll (zB „§ 13 Cod Mil wird hiermit aufgehoben.“)
Materielle Derogation: Eine Rechtsvorschrift enthält die Anordnung, daß bestimmte - nicht namentlich genannte – mit ihr unvereinbare Rechtsvorschriften außer Kraft treten sollen. Damit ist der Interpret aufgerufen, zu ermitteln, was aufgehoben wurde und was in Geltung geblieben ist.
Derogation kann aber auch dann eintreten, wenn eine Rechtsvorschrift keine solche „Derogationsklausel“ enthält, da der Rechtsordnung der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ (das spätere Gesetz derogiert dem früheren) zu Grunde liegt. Dabei gilt: a) In dem Umfang, in dem b) dieselbe Rechtssetzungsautorität c) denselben Sachverhalt neu (anders) regelt, treten frühere Regelungen außer Kraft, sofern nichts gegen die Annahme spricht, daß d) eine Derogation „gesollt“ ist.
Weiters gibt es noch den Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“ (das spezielle Gesetz derogiert dem allgemeinen), dieser ist relativ selten, dennoch sei ein Beispiel angeführt: Gemäß § 56 Cod Iur ist klar geregelt, welche Behörden bei welchen Straftaten die Ermittlungen aufnehmen dürfen. So würde bei Brandstiftung, da mit 3 bis 6 Monaten geahndet und daher ein Verbrechen, die Cohortes Urbanae die Ermittlungen aufnehmen. Ein Blick jedoch in die Lex Vigilum § 1 Abs 4 zeigt uns aber, daß in diesem speziellen Fall die Vigiles für Brandstiftungsfälle zuständig sind, also derogiert das spezielle Gesetz, nämlich dieser § 1 Abs 4 Lex Vigilum, dem allgemeinen Gesetz, in dem Fall den Codex Iuridicialis.
Sie finden dies alles kompliziert? Das ist es auch, zumindest am Anfang. Doch Sie werden sehen, mit ein wenig Hinsetzen und überlegen werden sie das alles bald verstehen.
Doch warum so kompliziert? Sehen Sie, eine entwickelte Rechtsordnung besteht nicht nur aus einem beziehungslosen Nebeneinander von Rechtsvorschriften. Die von derselben Rechtsetzungsautorität erlassenen Vorschriften bilden zwar kein geschlossenes System im logischen Sinn, sie sind aber doch in vielfältiger Weise vernetzt und grundsätzlich vom Postulat der Widerspruchsfreiheit getragen. Dementsprechend ist die harmonisierende Auslegung im Wege der systematischen Interpretation eine der wichtigsten Aufgaben praktischer Rechtsanwendung. Das bedeutet also, daß nicht nur innerhalb eines Gesetzes Verweisungen möglich sind, sondern auch zwischen verschiedenen Gesetzen.
Bevor wir nun endlich zur Interpretation kommen, lassen Sie mich noch folgenden Unterschied zwischen materiellem und formellen Recht erklären: Als materielles Recht sind jene Rechtsvorschriften zu bezeichnen, die Rechte und Pflichten der Rechtsunterworfenen regeln uoder die Entscheidungen von staatlichen Organen inhaltlich determinieren. Zum Beispiel regelt der Besondere Teil des Codex Iuridicialis, welche gerichtlichen Strafen bei bestimmten Delikten verhängt werden sollen.
Das formelle Recht tritt als dienendes Recht zum materiellen Recht hinzu, da es der Rechsverwirklichung dient. Man kann das formelle Recht weiter in das Organisationsrecht und in das Verfahrensrecht unterteilen. Das Organisationsrecht regelt die Einrichtung und die allgemeine Aufgabenstellung der einzelnen Staatsorgane, wie im Codex Universalis die §§ 51 bis 56 betreffend der Ämter des Cursus Honorum. Das Verfahrensrecht oder Prozessrecht regelt den förmlichen Ablauf der Entscheidungsverfahren, wie die Prozeßordnung im Codex Iuridicialis.
So nun werde ich Ihnen endlich die Methoden der Interpretation erklären.
Der Rechtsanwendung bietet sich das objektive Recht kaum „gebrauchsfertig“ an, Sie in ihrer Funktion als Prätor oder Advocatus müssen als erstes das anwendbare Recht „finden“, das wird Ihnen niemand abnehmen können. In einer zweiten Phase gilt es, dieses Rechtsmaterial im Hinblick auf eine konkrete Rechtslage verstehend zu deuten, also zu interpretieren. Sie sollen aber nicht das Blaue vom Himmel in das Recht hineindeuten, das Ziel einer juristisch korrekten Interpretation kann nur sein, das Gesollte und damit den Willen des rechtssetzenden Organs zu ermitteln. Bedenken Sie diesen letzten Satz immer! Auch wenn etwas anderes Ihnen gerechter vorkommt.
Bestimmte Interpretationsmethoden können Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen:
1. Wortinterpretation: Bei bestimmten Begriffen wird es notwendig sein, den Inhalt und Umfang dieses Begriffes zu ermitteln (zB was bedeutet „allgemein begreifliche heftige Gemütsbewegung“ in § 74 Cod Iur?). Manchmal reichen Wörterbücher, manchmal herausgegebene Kommentare zu einzelnen Gesetzen, manchmal sind aber auch umfangreichere Ermittlungen notwendig. Wesentliche Bedeutung haben auch die Legaldefinitionen, die gerade dann maßgeblich sind, wenn sie vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichen.
2. Logisch-grammatikalische Interpretation: Es ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber Rechtsvorschriften entsprechend den Regeln der Grammatik und Logik abfasst, daher muß er auch daran gemessen werden.
3. Systematische Interpretation: Wir haben bereits festgestellt, daß man bisweilen mehrere systematisch zusammenhängende Vorschriften gemeinsam lesen muß, um die damit zum Ausdruck gebrachte Rechtsnorm erkennen zu können. Weiters habe ich vorhin vom Postulat der Widerspruchsfreiheit gesprochen. Die systematische Interpretation verbietet dahingehend jede „isolierte“ Anwendung von Rechtsvorschriften, weiters darf auch nicht übersehen werden, daß man aus der Vielzahl der speziellen Rechtsvorschriften oft induktiv allgemeine Grundsätze ableiten kann, die als solche wieder deduktiv bei der Auslegung von nicht eindeutig geregelten Rechtsvorschriften bedeutsam sein können.
4. Historische Interpretation: sie ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zunächst kann der Vergleich mit der früheren Rechtslage zu einem besseren Verständnis des jetzigen Rechts führen. Andererseits gehen den Gesetzen meist ausführliche und begründete Vorentwürfe voran, die den Sinn einer Regelung erläutern könnten. Wenn es also möglich ist, versuchen Sie, diese Vorentwürfe zu bekommen und zu nutzen.
5. Teleologische Interpretation: Hier gilt es, den Sinn und Zweck von Regelungen herauszuarbeiten. Diese Interpretationsart ist am schwierigsten, weil die Zweckvorstellungen des Interpreten oft nicht mit dem des normsetzenden Organs übereinstimmen, und daher die Gefahr besteht, daß der Interpret sozusagen „rechtsschöpferisch“ tätig wird. Seien Sie sich also immer des Unterschiedes bewußt! Verwenden Sie also die teleologische immer zusammen mit der historischen und der systematischen Interpretation.
Dies reicht für heute. Nächstes Mal gehts weiter mit der Interpretation und wir lernen die Möglichkeiten der Analogie und des Ermessens kennen.