Lucius Praetonius Chairedemos
http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg "Offensichtlich nicht."
bemerkte der Lehrer, als keiner der neuen Studenten sich äußerte. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung.
"Aber ihr seid ja auch hier, um etwas über ihn zu lernen, nicht weil ihr bereits alles wisst. Und grundsätzlich genügt das, was ich euch berichtet habe, bereits recht gut als Einführung in sein Leben. Kommen wir also zu seiner Lehre, die ja ohnehin das Wissenswerteste an seiner Person ist:
Unser Meister Epikur hinterließ uns eine überaus schlüssige Lehre, die er auch in zahlreichen Schriften entwickelte - ein Beispiel wäre etwa De re natura, die sich mit seiner Physik beschäftigt. Von besonderer Bedeutung sind allerdings seine vierzig Lehrsätze, die jeder Schüler seiner Lehre tief verinnerlichen sollte."
Mit einem Lächeln blickte er auf seine innerste Runde seiner langjährigen Schüler.
"Womöglich sollten wir gleich einmal erproben, ob meine engsten Freunde hier diese Empfehlung verinnerlicht haben. Also bitte: Zuerst das vierfache Heilmittel, Batis."
Das Mädchen errötete ein wenig, begann dann aber in ihrer piepsigen Stimme loszulegen:
"1. Ein glückliches und unvergängliches Wesen hat weder selbst Schwierigkeiten noch bereitet es einem anderen Schwierigkeiten. Daher hat es weder mit Zornesausbrüchen noch mit Zuneigung zu tun; denn alle Gefühle dieser Art sind Zeichen von Schwäche.
2. Der Tod hat keine Bedeutung für uns; denn was sich aufgelöst hat, empfindet nichts; was aber nichts empfindet, hat keine Bedeutung für uns.
3. Die Größe der Lust hat ihre Grenze in der Beseitigung allen Schmerzenden. So lange aber Lust empfunden wird, gibt es dort, wo sie empfunden wird, nichts, was weh tut oder traurig macht oder beides zusammen.
4. Was schmerzt, spürt man nicht ununterbrochen im Fleisch; vielmehr ist der größte Schmerz nur von kurzer Dauer; der Schmerz aber, der die Lust im Fleisch kaum übersteigt, dauert nicht viele Tage lang. Lange andauernde Krankheiten gewähren mehr Lust im Fleisch als Schmerz.*"
Zufrieden nickte Chairedemos und bemerkte
"Fahren wir gleich fort, los, los. Philodemos? Pythokles?"
Tatsächlich begannen die Schüler reihum die Lehrsätze weiter aufzusagen.
"5. Es ist nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, und auch nicht vernünftig, anständig und gerecht, ohne lustvoll zu leben. Wem dies aber nicht möglich ist, der kann auch nicht lustvoll leben."
"6. Damit man sicher sein konnte vor den Menschen, gab es das natürliche Gut der Herrschaft und des Königtums, mit dessen Hilfe man sich gegebenenfalls diese Sicherheit verschaffen konnte."
"7. Berühmt und angesehen wollten manche Menschen werden, weil sie meinten, dass sie sich so die Sicherheit vor den Menschen verschaffen könnten. Wenn daher das Leben solcher Menschen sicher war, haben sie das natürliche Gut gewonnen. Wenn es aber nicht sicher war, besaßen sie nicht, wonach sie von Anfang an in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Natur strebten."
"8. Keine Lust ist an sich ein Übel. Aber alles, was bestimmte Lustempfindungen hervorruft, führt zu Störungen, die die Lustempfindungen um ein Vielfaches übersteigen."
"9. Wenn alle Lust in Hinsicht auf Umfang und Dauer zusammengefasst werden könnte und dies im ganzen Organismus oder wenigstens in den wichtigsten Teilen des menschlichen Körpers möglich wäre, dann unterschieden sich die Lustempfindungen niemals von einander."
"10. Wenn das, was die Lustempfindungen der Unersättlichen hervorruft, die Ängste des Nachdenkens über die Himmelserscheinungen, den Tod und die Schmerzen auflöste und außerdem die Grenze der Begierden und der Schmerzen zeigte, dann hätten wir überhaupt keinen Anlass, sie zu tadeln, wenn sie von überall her von Lustempfindungen erfüllt wären und von nirgendwo her Schmerzhaftes oder Leidbringendes erführen, was ja das Übel ist."
"11. Wenn uns nicht die Vermutungen über die Himmelserscheinungen und die angstvollen Gedanken über den Tod, als ob er uns irgendetwas anginge, ferner die mangelnde Kenntnis der Grenzen von Schmerzen und Begierden belastete, brauchten wir keine Naturphilosophie."
"12. Es wäre nicht möglich, die Angst in Zusammenhang mit den wichtigsten Dingen aufzulösen, wenn man nicht begriffen hätte, was die Natur des Ganzen ist, sondern in Angst vor allem lebte, was die Mythen erzählen; daher wäre es nicht möglich, ohne Naturphilosophie ungetrübte Freude zu genießen.
Und Es nützte nichts, die Sicherheit - oh, das ist schon der dreizehnte Lehrsatz, aber egal - [/I]unter den Menschen herzustellen, während man noch Angst empfände vor den Vorgängen am Himmel und unter der Erde und überhaupt im unbegrenzten Universum.[/I]"
Der Lehrer und die anderen Schüler lachten leise über den Übermut des Rabirius. Dann aber fuhren sie der Reihe nach weiter fort:
"14. Wenn auch die Sicherheit vor den Menschen bis zu einem gewissen Grad... auf der Grundlage einer festgefügten Macht und auf der Grundlage guter wirtschaftlicher Verhältnisse gewährleistet ist, so erwächst doch die deutlichste Sicherheit aus der Ruhe und dem Rückzug vor den Leuten."
"15. Der Reichtum unserer Natur ist begrenzt und leicht zu erwerben; aber der Reichtum an wertlosen Meinungen weitet sich aus ins Unendliche."
"16. Nur in geringfügigen Angelegenheiten überfällt den Weisen ein Zufall; die wichtigsten und bedeutendsten Dinge hat die Vernunft geordnet, ordnet sie im Lauf des Lebens und wird sie ordnen."
"17. Der Gerechte ist am wenigsten zu beunruhigen; der Ungerechte ist von größter Unruhe erfüllt."
"18. Die Lust im Fleisch wird nicht mehr größer, wenn einmal der schmerzende Mangel beseitigt ist, sondern nur vielfältiger. Das Denken hat in Bezug auf die Lust seine Grenze erreicht, wenn man alles das genau klärt, was dem Denken die größten Ängste bereitete, und was verwandt damit ist."
"19. Die unbegrenzte Zeit verschafft die gleiche Lust wie die begrenzte, wenn man die Grenzen der Lust mit der Vernunft abmisst."
"20. Das Fleisch empfand die Grenzen der Lust als unbegrenzt; und nur die unbegrenzte Zeit konnte diese Lust erzeugen. Das Denken aber - nun, das Denken aber... - das den Einblick in das Ziel und die Grenze des Fleisches gewann"
Batis errötete ein wenig, als sie einen Hänger hatte. Doch Chairedemos schien nicht beunruhigt, sondern ließ ihr einen Moment zum Nachdenken. Tatsächlich schien sie plötzlich eine Eingebung zu haben und fuhr mit leuchtenden Augen fort:
"und die Ängste vor der Zukunft auflöste, begründete das vollkommene Leben, und wir brauchten die unbegrenzte Zeit nicht mehr; doch weder mied das Denken die Lust noch zog es sich zurück, sobald die Umstände den Abschied vom Leben erforderlich machten, als ob ihm etwas am besten Leben gefehlt hätte."
"21. Wer die Grenzen des Lebens kennt, weiß, wie leicht das zu beschaffen ist, was den schmerzenden Mangel beseitigt und das ganze Leben vollkommen macht. Daher braucht er nichts von dem, was er nicht ohne Kampf bekommen kann."
"22. Das tatsächlich existierende Ziel muss man ins Auge fassen und die ganze anschauliche Wirklichkeit, auf die wir unsere Meinungen beziehen; andernfalls wird alles voller Unsicherheit und Unruhe sein."
"23. Wenn du gegen alle Wahrnehmungen kämpfst, wirst du keinen Maßstab haben, auf den du dich beziehen kannst, um jene Wahrnehmungen zu beurteilen, von denen du behauptest, dass sie falsch seien."
"24. Wenn du irgendeine Wahrnehmung einfach verwirfst und nicht unterscheidest zwischen der Vermutung, die noch auf Bestätigung wartet, und dem, was bereits als Wahrnehmung und Empfindung und als ein umfassender, von einer Vorstellung geprägter Zugriff des Verstandes gegenwärtig ist, dann wirst du durch deine unbegründete Meinung auch die übrigen Wahrnehmungen durcheinander bringen und so jeden Beurteilungsmaßstab verlieren. Wenn du aber... aufgrund von Mutmaßungen sogar das, was noch auf Bestätigung wartet, und was nicht, insgesamt für gewiss erklärst, wirst du dich unweigerlich einer Täuschung aussetzen; denn du wirst jeden Zweifel bei jedem Urteil über richtig und nicht richtig zwangsläufig gelten lassen."
"25. Wenn du nicht in jeder Situation all dein Handeln auf das Ziel beziehst, das dir die Natur vorgibt, sondern vorher abweichst, indem du Ablehnung und Zustimmung auf etwas anderes beziehst, werden bei dir die Taten nicht den Worten entsprechen."
"26. Alle Begierden, die nicht zu einer Schmerzempfindung führen, wenn sie nicht befriedigt werden, sind nicht notwendig, sondern erzeugen ein Verlangen, das leicht zu vertreiben ist, wenn es sich erweist, dass sie auf schwer Beschaffbares oder gar Schädliches zielen."
"27. Vor allem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des ganzen Lebens bereitstellt, ist der Gewinn der Freundschaft das bei weitem Wichtigste."
"28. Dieselbe Erkenntnis brachte uns die Gewissheit, dass nichts Furchtbares ewig oder lange Zeit dauert, und ließ uns erkennen, dass die Sicherheit gerade unter schwierigen Bedingungen vor allem durch Freundschaft gewährleistet ist."
Es schien, als würde es ewig so weitergehen. Doch bisher hatten die Mitphilosophen offensichtlich kaum Mühen, die Worte des Epikur fehlerfrei vorzutragen:
"29. Die Begierden sind teils natürlich und notwendig, teils natürlich und nicht notwendig, teils weder natürlich noch notwendig, sondern durch leere Meinung begründet."
"30. Die natürlichen Begierden, die keine Schmerzen verursachen, wenn sie nicht befriedigt werden, obwohl das angespannte Bemühen um Befriedigung erhalten bleibt, entstehen aus einer leeren Meinung; und wenn sie nicht beseitigt werden können, dann liegt es nicht an ihrer eigenen Natur, sondern an der Neigung des Menschen zu leeren Meinungen."
"31. Für alle Lebewesen, die nicht in der Lage waren, Verträge darüber abzuschließen, sich nicht gegenseitig zu schädigen oder schädigen zu lassen, gab es kein Recht und kein Unrecht. Das Gleiche gilt für die Völker, die nicht in der Lage waren oder nicht den Willen hatten, Verträge darüber abzuschließen, niemanden zu schädigen oder sich schädigen zu lassen."
Plötzlich intervenierte der Praetonier und hob den Finger.
"Na, das war doch der 32. Lehrsatz! Rabirius, den 31. bitte:"
Brav begann der Eques herunterzuleiern:
"31. Das der menschlichen Natur entsprechende Recht ist eine Vereinbarung über das Mittel, mit dem verhindert wird, dass sich Menschen gegenseitig schädigen oder schädigen lassen."
Neratia nahm daraufhin sofort den Faden wieder auf:
"33. Niemals gab es absolute Gerechtigkeit, sondern nur einen Vertrag, der jeweils im gegenseitigen Austausch an beliebigen Orten darüber abgeschlossen wurde, niemanden zu schädigen oder sich schädigen zu lassen."
"34. Die Ungerechtigkeit ist kein Übel an sich, sondern nur aufgrund der misstrauischen Angst davor, dass sie von der Strafverfolgung nicht unentdeckt bleibt."
"35. Es ist ausgeschlossen, dass derjenige, der heimlich gegen den Vertrag darüber, niemanden zu schädigen und sich nicht schädigen zu lassen, verstößt, darauf vertrauen kann, dass er immer unentdeckt bleiben wird, auch wenn er im Augenblick tausendmal unentdeckt bleibt. Denn bis zu seinem Tode ist es ungewiss, ob er auch unentdeckt bleiben wird."
"36. Im Allgemeinen ist die Gerechtigkeit für alle dieselbe; denn sie ist ja etwas Nützliches im Umgang miteinander. Aber aus den Besonderheiten eines Landes und aus vielen anderen Gründen ergibt es sich, dass die Gerechtigkeit nicht für alle Menschen dieselbe ist."
"37. Alles, was als gerecht gilt ... darf nur dann den Rang des Gerechten beanspruchen, wenn es nachweislich den Anforderungen des geregelten Umgangs miteinander entspricht, ob es nun für alle Menschen gleich oder nicht gleich ist. Wenn aber jemand ein Gesetz erlässt und es nicht der Regelung des Umgangs miteinander dienlich ist, dann hat es nicht mehr die natürliche Legitimation des Rechts. Und wenn sich der Nutzen, der vom Recht ausgeht, verändert, aber noch eine Zeit lang der ursprünglichen Vorstellung entspricht, dann war es nichtsdestoweniger zu jener Zeit gerecht für alle, die sich nicht durch leere Wort selbst verwirren, sondern einfach die Tatsachen im Auge behalten."
"38. Wo das, was als gerecht galt, ohne Veränderung der äußeren Umstände in der Praxis offensichtlich nicht mehr zu der ursprünglichen Vorstellung passte... war es nicht wirklich gerecht. Wo aber nach Veränderung der äußeren Umstände dieselben rechtlichen Vereinbarungen nicht mehr nützlich waren, waren sie doch seinerzeit gerecht, als sie zur Regelung des Umgangs der Bürger miteinander nützlich waren. Später aber waren sie nicht mehr gerecht, als sie nicht mehr nützlich waren."
"39. Wer seine Angelegenheiten am besten gegen die Bedrohungen von außen geordnet hat, machte sich mit allem, was er beeinflussen konnte, vertraut. Was er aber nicht beeinflussen konnte, blieb ihm wenigstens nicht fremd. Wo ihm aber auch dies unmöglich war, vermied er jeden Kontakt und bemühte sich darum, alles zu tun, was dazu nützlich war."
Als letzter war schließlich Philodemos an der Reihe, der mit besonders getragener Stimme verkündete:
"40. Diejenigen, die die Fähigkeit besaßen, vor allem gegenüber ihren Nachbarn Mut zu entwickeln, lebten auch auf diese Weise sehr angenehm miteinander, weil sie im Besitz des sichersten Pfandes waren, und nachdem sie ein Höchstmaß an Vertrautheit zueinander gewonnen hatten, klagten sie nicht, wenn jemand gestorben war, über seinen vorzeitigen Tod, als ob sie Mitleid erregen wollten."
Der Praetonier klatschte zufrieden in die Hände.
"Wie mir scheint, habt ihr doch einiges gelernt, meine Freunde. Nun liegt es nur noch daran, diese Sätze auswendig zu lernen und zu jeder Zeit zu beherzigen! Manche Bedeutung wird euch noch kryptisch erscheinen, aber ich bin sicher, dass wir diese Unklarheiten im Laufe unserer Reise durch die Philosophie des großen Epikur lichten werden.
Ich erwarte euch und alle meine Schüler wieder morgen zur gleichen Zeit! Valete bene! Das heißt, sofern keine Fragen bestehen."
Chairedemos machte keine Anstalten aufzustehen. Vielmehr begann er sofort ein Gespräch mit Rabirius - nicht ohne allerdings jederzeit bereit zu sein, auf Fragen seiner Schüler zu antworten.
Sim-Off:Zitate der Lehrsätze sind entnommen: Epikur: Kyriai Doxai [Maßgebende Sätze] nach Diogenes Laertius 10, 139-154, zit. n. Epikur: Wege zum Glück. Griechisch-lateinisch-deutsch, hrsg. u. übers. v. Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2003, S. 238-253.