Meridius nahm das Schreiben entgegen, überflog die Zeilen und schickte Alesia dann weg. War Valeria also schon abgereist. Wenigstens hatte sie an Begleitung gedacht und auch Sklaven mitgenommen.
Nachdenklich schritt Meridius zu dem kleinen Tischchen und legte den Brief ab, dann ließ er sich auf der Kante seines Bettes nieder und dachte an Tertia. Wieder stiegen die Erinnerungen in ihm auf. Wie sie als kleines Kind die Casa in Tarraco auf den Kopf stellte, als junges Mädchen Onkel Quintus und auch Onkel Tiberius um den Finger wickelte und auch ihren großen Bruder locker in die Tasche steckte, mit einem einzigen charmanten Lächeln. Und wie sie als junge Dame den jungen Burschen der Stadt den Kopf verdrehte, ehe sie sich entschloss, Vestalin zu werden.
Meridius wusste bis heute nicht, warum es sie nach Rom zog, warum sie dieses Leben allen anderen Möglichkeiten vorzog. Die Familie war in Tarraco verwurzelt gewesen, sie waren vermögend, hatten über die Jahre an Einfluss gewonnen, Tertia war lebensfroh, genoß das Leben in vollen Zügen, wenn auch nicht so überschwenglich wie Lucilla, und das war es wohl, Meridius zuckte zusammen, Lucilla war eine lebenshungrige, verschwenderische, verwöhnte Decima gewesen und war es noch, sie stand mit beiden Beinen auf dem Boden, war gesellig, liebte Einkäufe und Märkte, Empfänge und Feierlichkeiten, kurz war stets und überall schnell mittendrin statt nur dabei. Nicht so Tertia. Tertia war nachdenklicher gewesen, introvertierter, verschlossener, sie gab nicht so viel auf Äusserlichkeiten, hielt nicht viel von großen Empfängen, und interessierte sich schon sehr früh für die Götter, und auch den Kult der Vesta.
Und wie war die Familie stolz gewesen, eine der ihren als Vestalin zu wissen. Nicht viele waren berufen, noch weniger wurden auserwählt. Rom konnte immer stolz auf seine Vestalinnen sein. Und Meridius war stolz auf seine Schwester gewesen. Auch wenn es ihn schmerzte zu wissen, dass sie damit der Familie entfernt sein würde, auch wenn er wusste, dass sie wohl nie eine eigene Familie würde führen können.
Unterschiedlicher konnten seine beiden Schwestern kaum sein. Und doch vereinte sie Schönheit und der berühmt berüchtigte Dickschädel aller Decima. Hatten sie sich etwas in den Kopf gesetzt, gab es nichts, was sie aufhalten konnte. Darin waren Tertia und Lucilla ihr ganzes Leben lang eins gewesen.
Meridius erhob sich und verließ sein Zimmer.
Er hatte zu tun.