Das Schicksal des Ödipus!
Akt Drei, Dritte Szene
Nur kurz währte die Pause, dann gingen die Fackeln wieder an. Die traurige Frauenstimme sang ununterbrochen weiter, dunkle Flötengesänge begleiteten sie. Auf der Bühne kniet immer noch Ödipus und hält die tote Iokaste in seinen Armen. Die Tänzer sind verschwunden, doch untermalt von wieder schrilleren Klängen kriechen langsam die Pestkranken auf die Bühne. Ihre Gesichter sind blutig und schwarz verfärbt, ihre Augen aufgerissen und ihre Münder verzerrt. Ödipus scheint sie jedoch nicht zu bemerken.
Der Chor:
„Da ist er, der Frevelhafte! Nun weiß er um die Wahrheit. Auch am Tod seiner Frau und Mutter fühlt er sich schuldig. Oh weh, was tut er?“
Ödipus greift in die dunklen Haare von Iokaste und zieht zwei längliche spitze Gegenstände hervor. Goldene Haarnadeln blitzen im Schein er Fackel auf. Mit verzweifelter Geste hob er beide in die Luft. Dann stößt er sie, weit ausholend, in die Lider seines Auges [zumindest sieht das so für die Zuschauer aus]. Er sinkt zusammen und krümmt sich, während im gleichen Moment ein lauter gellender Schrei von der herrschaftlichen Maske ertönt. Als er etwas aufsieht, sind seine Augen blutig und sein Gesicht blutüberströmt. Er steht auf und geht auf die Treppen. Dort hebt er seine Hände und sieht zu den Pestkranken.
Traurige Maske - Ödipus
„Kadmeer! Hört mich an. Ich bin der Mörder des Laios! Ein Vatermörder bin ich und Unreines, Unsagbares habe ich mit meiner Mutter getan. Verflucht sei ich! Verstoßt mich, tötet mich! Denn ich bin Schuld an Eurem Elend!“
Voll der Verzweiflung schreit die traurige Maske dies, während Ödipus die Arme hochgerissen hat und abgehackte Bewegungen vollführt. Dann wirft er sich zu Boden und verschmilzt mit dem Schatten einer Kulissensäule. Die Pestkranken stöhnen auf und winden sich gequält. Sie erheben sich langsam, viele Stimmen vereinen sich zu einem unheimlichen und monotonen Chor. Langsam tanzen die Pestkranken nach vorne, wirken zusammen einen Todesreigen, schaurig und bizarr. Gequält erhebt sich Ödipus wieder und schreitet gebrochen zwischen den vielen Pestkranken hindurch. Die Pestkranken wenden sich Ödipus zu und strecken die Hände nach ihm aus, ohne ihn zu berühren.
Der Chor:
„O der du Furchtbares getan, wie brachtest Du es über Dich, so auszulöschen die Augen? Welcher der Daimonen trieb Dich?“
Ödipus sieht an ihnen vorbei und auf das Publikum herunter. Sein ganze Gesicht ist immer noch blutig. Über seinen Augen trägt er eine weiße Stoffbinde.
Traurige Maske - Ödipus
„Aiaia! Weh, weh mir! Wie kann ich meinem Vater sehend gegenübertreten, wenn ich im Hades angekommen? Wie der armen Mutter, an der ich genauso die Tat verübte, die mit dem Dolch ihr Leben nahm? Nein, verstoßt und verflucht mich. Ich, der das Blut meines Vaters an den Händen trägt. Oh, Apollo spielte gar ein fürchterliches Schicksal mit mir. Trieb mich fern und somit in mein Schicksal hinein.“
Die Pestkranken werfen sich zu Boden. In dem Moment tanzt Kreon auf die Bühne, begleitet von seinem Gefolge. Ödipus wendet sich ihm langsam zu als die Schritte ertönen.
Traurige Maske - Ödipus
“Oh mir! Welche Wort denn sag ich nur zu ihm? Welchen Anspruch auf Vertrauen hätte ich noch?“
Herrschaftliche Maske - Kreon
„Nicht als Spötter, Ödipus, bin ich gekommen. Doch bringt ihn hinein. Des Verwandten Leid sollten nur die Verwandten sehen.“
Ödipus tritt näher an Kreon, seinem Schwager und Onkel, heran.
Traurige Maske - Ödipus
“Wirf mich aus dem Land, so schnell Du kannst, dahin, wo ich von keinem Menschen angeredet werde. Der Gott hat gesagt, mich zu töten ist des Fluches Lösung. So handele schnell und rette das Land. Doch eines versprich mir, sie dort im Hause setze im Grabe bei. Und kümmere Dich bitte um meine beiden glücklosen und erbarmenswerten Mädchen, die allein wären. Meine Söhne brauchst Du nicht Sorge drum zu tragen, denn Männer können immer um ihr Brot sich sorgen. Und lasse mich wohnen in den Bergen, wo der Kithairon liegt. Denn dort werde ich nicht mehr lebend sein, nur ein Schatten meines jetzigen Seins.“
In dem Moment betreten zwei junge Frauen auf die Bühne. Eine ist ganz golden geschmückt, die andere silbern. Es sind Ismene und Antigone, die Töchter des Ödipus und der Iokaste. Sie gehen zu Ödipus und greifen jeder nach einer Hand.
Traurige Maske - Ödipus
“Höre ich da meine beiden Lieben Tränen vergießen? Hat Kreon sich mir erbarmt und das Liebste, meine beiden Kinder, mir geschickt?“
Herrschaftliche Maske - Kreon
„So ist es! Ich bin’s, der es angeordnet hat, wußt ich doch, sie sind und waren immer deine Freude!“
Traurige Maske - Ödipus
“Dank sei Dir gewiss, Kreon. Und mögen Dich die Götter schützen. Doch nun werde ich gehen, den Fluch mit mir tragend. Nein, kein Widerspruch. Das Heil des Landes kehrt zurück, wenn ich mich zurück gezogen. Geht, geht, Kinder und führt mich.“
Antigone und Iokaste führen langsam Ödipus von der Bühne. Die Pestkranken erheben sich und ziehen ihre blutigen Gebilde von dem Gesicht. Darunter erscheinen schwarz, weiß geschminkte Gesichter. Sie sehen Ödipus hinter her.
Der Chor:
„O Bewohner Thebens, meiner Vaterstadt! Sehet, dieser Ödipus, der die berühmte Rätsel löste, mächtig wie kein zweiter war, er, auf dessen Glück ein jeder Bürger sah mit Neid, in welch große Brandung ungeheuren Schicksals er geriet! Drum blicke man auf jenen Tag, der zuletzt erscheint, und preise keinen, der da sterblich, selig, eh er denn zum Ziel des Lebens durchgedrungen, ohne dass er Schmerz erlitt!“
Ein langgezogener klagender Ton einer Frauenstimme und einer Tibia. Die Bühne bleibt noch einen Moment erleuchtet, dann verdunkelt sich alles. Einen Moment herrscht Stille im Theater, dann applaudieren viele Zuschauer, die Lichter gehen wieder an und der Dramaturg Balbus tritt auf die Holzplanken. Er verbeugt sich leicht, genießt offensichtlich den Applaus. Dann fällt der Vorhang vor diesen.