Eine falsche Prophezeiung wird offenbart?
Akt Drei, Erste Szene
Eine Tibia trillert auf, Trommeln schlagen, Gesänge von Frauen erheben sich, wie Lachen und Weinen in einem. Die Fackeln fangen wieder an zu brennen und das Licht auf die Bühne zu werfen. Nackte dunkelhäutige Frauen tanzen um einen Altar herum. Vor dem Altar kniet in demutsvoller Haltung die Königin der Stadt und Ehefrau von Ödipus. Beschwörend hebt sie die Hände. Die dunkelhäutigen Frauen tanzen ekstatisch um sie herum und fallen bei Iokaste erstem Wort synchron zusammen.
Iokaste:
„Oh lykischer Apoll, erweise Dich unserer Stadt als gnädig. Mit den Gaben erflehe ich, schaff Du uns frei von der Befleckung. Denn uns macht es allen Angst, von Schreck verrückt zu sehen ihn, unseres Schiffes Steuermann, Ödipus.“
Aus der Dunkelheit springt ein älterer Mann herbei. Er trägt eine einfache Tunika und einen Wanderstab in seiner Hand- ein Bote. Schnell eilt er tanzend auf die Bühne und an den vielen Frauenleibern vorbei auf Iokaste zu.
Bote:
„Oh ich suche den Ödipus. Sprich, Frau, wo ist sein Haus.“
Als Iokaste aufsteht und sich dem Mann zuwendet, klimpern leise einige Instrumente im Hintergrund. Erhaben und von unten mit dem Licht angestrahlt sieht sie von der Erhebung des Altars auf den Boten herunter.
Iokaste:
„So hast Du seine Frau und Königin dieses Landes gefunden. Sprich, was wünscht Du von Ödipus?“
Bote:
„Von Korinth komme ich. Ödipus zu verkünden, dass zum Herrscher ihn die Bewohner dort machen wollen. Denn sein Vater ist verstorben, am Alter, und das Land ohne Anführer!“
Iokaste sieht zum Publikum und hebt voll des Erstaunens die Hand. Eine Tuba stößt einen langen etwas klagenden Ton aus.
Iokaste:
„So ist er nicht gestorben, wie das Orakel des Apoll es sprach? Nicht durch die Hand meines Gemahls Ödipus, der seinen eigenen Vater ermorden sollte nach dem Spruch? Die Jahre rafften den alten Polybos dahin?“
Sie wendet sich an eines der nackten Mädchen.
Iokaste:
„O Mädchen, schnell und hol Ödipus. Sage geschwind deinem Herrn, von der Kunde um seinen Vater!“
Das Mädchen erhebt sich und schreitet betont langsam von der Bühne. Im nächsten Moment taucht schon Ödipus auf. Seine Krone funkelt im Fackellicht und er tanzt beschwingt auf Iokaste zu. Dort angekommen erhebt er seinen rechten Arm und sieht über das Publikum hinweg.
Iokaste:
„Hör diesen Mann! Er zeugt mit seinen Worten, dass der Spruch des Orakels nicht wahr sein konnte und wahr ist. Denn dein Vater ist tot. Polybos ist nicht mehr und keines unnatürlichen Todes ist er gestorben. Nein, das Alter brachte ihn zum Styx und darüber hinaus. Siehst Du, dass Pythos Seherherd falsch gesprochen hat und die Weisung der krächzenden Vögel nichts bedeuten?“
Ödipus hebt überrascht die Arme und tanzt auf der Bühne dramatisch auf und ab. Er greift sich ans Herz.
Herrschaftliche Maske- Ödipus
„Und doch fürchte ich mich immer noch. Denn meine Mutter ist immer noch am Leben und der Spruch kann sich noch erfüllen. Das Schicksal meines Frevels könnte durch mich geschehen!
Der Bote tritt an Ödipus heran.
Bote:
„Was fürchtetst Du? Einen Spruch? Ist er geheim oder sagbar?“
Herrschaftliche Maske- Ödipus
„Ja, sicher, sagbar ist er. Einst hat Loxias gesagt vermischen müsste ich mich mit der eigenen Mutter. Und des Vaters Blut sollte ich durch meine eigene Hand vergießen. Darum entfloh ich Korinth, meiner Heimat, und blieb aus Furcht, meinen Eltern zu schaden und den Spruch des Orakels zu erfüllen, fern von ihr. Des Vaters Mörder wollte ich nicht sein!
Bote:
„Das brauchst Du nicht zu fürchten. Denn dort wird es Dir nicht möglich sein, dieses Greul zu begehen. Nicht, weil Pylobos tot ist, sondern weil sie beide, Pylobos und sein Weib, nicht mit Dir verwandt sind!“
Herrschaftliche Maske- Ödipus
„Nicht verwandt? Was sagst Du da? Woher willst Du das wissen, so sprich!“
Bote:
„Durch meine Hand erhielt Pylobos Dich als Du noch ein Säugling warst. Denn kinderlos wie er war, nahm er Dich wie eigen Fleisch und Blut auf. Ich fand Dich einst in einer waldigen Schlucht des Kithairon. Herden führte ich dort entlang und war der Retter von Dir als Du ein Kind noch warst. Ein Mann aus den Landen des Laios gab Dich mir, verschnürt und mit durchbohrten Fersen. Deine Füße bezeugen auch heute noch diese Wahrheit!“
Herrschaftliche Maske- Ödipus
„Unmöglich, das kann nicht sein. Doch sprich, wer war jener Mann aus Laios, der den Knaben Dir übergab. Ist er hier? Kann er als Zeuge dienen?“
Bote:
„So wirst nur Du es herausfinden. Ich gehe nun, mein Werk ist vollführt!“
Der Bote geht ab. Ödipus sieht zum Publikum und deutet dabei auf die Frauen am Boden.
Herrschaftliche Maske- Ödipus
„Wer ist jener Mann, der mich dem Hirten da gab?“
Die Frauen erheben sich leicht und kriechen auf Ödipus zu. Ihre Augen sind auf ihn gewandt. Wie aus einem Mund antworten sie ihm.
Der Chor der Frauen:
„Es ist kein anderer als der, den Du zuvor zu sehen wünschtest. Der Zeuge, den Dir diese da..." [Sie zeigen auf Iokaste.] "...nannte."
Iokaste wirft sich theatralisch vor die Füße von Ödipus und hebt beschwörend die Hände.
Iokaste:
„Lass ab, Ödipus. Forsche nicht weiter. Oh Unglückseliger! Dass niemals Du erkenntest, wer Du bist! Es ist zu Deinem eigenem Besten!“
Ödipus hebt die Hand und schüttelt energisch den Kopf. Er tanzt einige Schritte zurück, zeigt seine Handflächen gen Himmel und verharrt.
Herrschaftliche Maske- Ödipus
„Nein, ich muss nach der Wahrheit suchen. Selbst wenn Dein Frauenstolz erfüllt sein mag, mit der Scham einen Hirten vielleicht geheiratet zu haben, so muss ich es wissen. Wissen, ob der Spruch noch wahr sein kann. Geht und holt den Hirten, Bürger der Stadt, so geht!“
Iokaste steht auf und hebt anklagend die rechte Hand. Damit deutet sie auf Ödipus.
Iokaste:
„Iu, Iu, Unseliger! Kein einziges Wort werde ich mehr sprechen!“
Sie wendet sich um und rennt von der Bühne. Ödipus verharrt vor dem Publikum, wie erstarrt. Die Frauen kriechen über die Bühne und erheben sich. Ihre dunklen Leiber glänzen ölig und verstörender Frauengesang breitet sich im Hintergrund aus, eine Flöte spielt einen klagenden und etwas disharmonischen Ton.
Der Chor der Frauen:
„Oh weh! Die Wahrheit spricht so deutlich. Der Fluch wird immer klarer. Doch warum erkennst Du es nicht, Ödipus. Welche Beweise brauchst Du noch, was Dein Vergehen offenbart?“
Ein lauter gellender Klagelaut und die Bühne wird dunkel.