Als sie Faustus' Officium wieder verlassen hatte, hielt Seiana erst einmal einen kurzen Moment inne und atmete tief durch. Zu behaupten, ihr Bruder wäre nicht erbaut gewesen, war noch untertrieben... er war im Gegenteil zunächst ziemlich empört gewesen, und er hatte ja auch Recht damit. Das wusste sie. Sie hätte seinen Namen nicht einfach so benutzen dürfen, sie hätte ihn nicht einmal nach so etwas fragen dürfen. Stattdessen hatte sie ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Natürlich war er sauer gewesen, und man musste kein Haruspex sein um vorher sagen zu können, dass das noch nicht ausgestanden war für sie... dafür war Raghnall zu rasch mit der Meldung aufgetaucht, dass Seneca angekommen war. Aber immerhin: Faustus hatte zähneknirschend eingewilligt, dass sie erst mal mit seinem Optio besprach, was sie besprechen wollte, und sie hatte versprochen, dass sie danach wieder zu ihm kommen würde. Um sich anzuhören, was auch immer Faustus ihr dann an den Kopf werfen würde.
Wenige Augenblicke später tauchte sie dann im Garten auf, ging zur Diana-Laube, die für ihre Zwecke nahezu perfekt lag – sie hatte noch überlegt, ob sie vielleicht in ein Gästezimmer gehen sollten, aber anders als in all den letzten Jahren, in denen sie hier gelebt hatte, war das Haus derzeit recht voll. Es lebten definitiv zu viele Menschen hier, um sich einfach in einem Raum zu unterhalten, der theoretisch allen offen war – und Seiana hatte keinen eigenen Raum mehr hier. Die Diana-Laube im hinteren Teil des Garten, abgelegen und geschützt von verschiedenen Pflanzen, sollte hingegen ausreichend vor unerwünschten Lauschern geschützt sein. „Bleib da vorne und pass auf, dass uns keiner stört“, gab sie Raghnall dennoch die Anweisung, zusätzlich aufzupassen, bevor sie die letzten Schritte überwand und schließlich Seneca gegenüber stand. Und was sie bis zu diesem Moment noch hatte verdrängen, forderte jetzt plötzlich seinen Raum, das Herzklopfen, die Freude ihn zu sehen, fast so etwas wie Erstaunen darüber, dass er tatsächlich da war... sie blieb stehen, einen Schritt vor ihm, wagte nicht ihn zu berühren, fast als könne er verschwinden, wenn sie es auch nur versuchte, sah ihn nur an, und selbst ihre Zunge schien nicht mehr ganz so zu arbeiten wollen wie sonst, denn alles, was sie in diesem ersten Moment über die Lippen brachte, war ein simples: „Seneca.“