• Solange die Erde den Himmel im Gleichgewicht trägt,
    und solange die glänzende Welt sich sicher weiterdreht,
    und solange die Zahl an Sandkörnern unendlich bleibt...

    Wie schön...!!!
    Neugierig war ich den Stimmen im Garten gefolgt. Ich wollte ja nicht stören, nur ein wenig zuhören.
    ...am Tag die Sonne und bei Nacht die Sterne scheinen,
    solange der Nordstern die unbenetzten Bären weitertreibt,
    solange die Flüsse ins Meer fließen,
    solange wird meine Zornesgier nach Rache nicht weichen
    und immer nur wachsen!

    Seneca hatte ich mir immer als unfrohen alten Herrn mit Doppelkinn und grämlich pädagogischer Miene vorgestellt, und keine Vorstellung davon gehabt, dass solch leidenschaftliche Verse seiner Feder entsprungen waren. Ich pirschte mich näher an die Dianalaube heran und betrachtete die beiden, durch eine Lücke im Laubwerk malerisch eingerahmten, Künstler. Es war ein allerliebster Anblick. Und wie gut sie harmonierten!
    Der hübsche Furiersklave indes lies irgendwo, ganz ferne und ganz leise, einen vagen Anflug von Erinnerung erklingen. An den großen Polychares? Nein... der interpretierte die Medea in ganz anderem Stil. Aber kaum dachte ich darüber nach, hatte sich der Hauch auch schon wieder verflüchtigt.
    Ich hörte Icarion entgegnen:
    "Zügle deine von den Übeln aufgewühlte Brust, Gebieterin, und beruhige dich!"


    Und so belauschte ich die beiden weiterhin, wie sie fortfuhren das Stück zu proben. Nach einer Weile, bei einer wieder besonders bewegenden Stelle, da konnte ich aber nicht anders, als entzückt zu applaudieren, und da es nun mit der Heimlichkeit sowieso vorbei war, trat ich durch den Vorhang von Ranken.
    "Bona Dea, was seid ihr gut!"
    "Danke." antwortete Icarion schlicht.
    Zögernd, wie ein Eindringling im Garten der Musen, noch in meiner Tunica militare, und doch wie magisch angezogen sah ich auf die entrollten Papyri, die glänzenden Augen und lebhaft geröteten Wangen der beiden Künstler, des Furiersklaven dramatisch drapiertes Gewand.
    "Darf ich..." begann ich zögernd, vom einen zum anderen sehend, "... vielleicht, ähem..."
    "Gewiss."
    "Ich will wirklich nicht stören..."
    "Wir können einen Iason sehr gut gebrauchen," lud mich Icarion freundlich ein, "nicht wahr Tiberios?"
    So setzte ich mich neben meinen Libertus, glücklich Teil der kleinen Bühne sein zu dürfen, und zugleich etwas verschämt ob meiner wenig statthaften Interessen.
    "Wo geht es weiter?" fragte ich die beiden, meinen Einsatz auf dem Papyrus suchend.

  • Tiberios verharrte in der Bewegung, als er Applaus hörte und den vornehmen Equus Romanus erkannte, dem er seine Einladung hier in diesen Hortus verdankte.


    Er lächelte Serapio an, nickte eifrig und reichte dem kunstsinnigen Römer seine eigene Schriftolle, denn er wusste die nächsten Szenen auswendig und er tat es gerade so, als sei der Gardetribun ein Schauspielkollege, der seine Papyri zuhause vergessen hatte.
    „O dura fata semper et sortem asperam*….“ sagte er.


    Es war eine spontan freundliche, ja kameradschaftliche Geste, aber dann kam Tiberios ins Bewusstsein, wie unangemessen sein Betragen war, und er grüßte: „Salve dominus Serapio“, und er verbeugte sich.
    Ein wenig war er über sein eigenes Benehmen erschrocken, aber nur Tiberios war ängstlich; Medea hatte vor nichts und niemandem Angst.
    „* Oh dieses immer harte Schicksal und dieses harte Los“ war der Monolog des Iason, bevor er auf Medea traf, die ihn mit bitteren Vorwürfen und einer Aufzählung dessen, was sie für ihn getan hatte, überschütten würde.


    Tiberios betrachtete Serapio, der seinen Einsatz suchte. Nun lag das goldgrünes Licht auf dem dunklem Haar des Römers und seinem feingeschnittenen Gesicht mit den blauen Augen und der Narbe über dem Jochbein, und bildete einen Moment lang einen weichen Gegensatz zu seiner martialischen Aufmachung. Serapio, das kam gewiss von SarapisSerapis.
    Der junge Alexandriner wusste nicht viel von den politischen Geschäften der Stadt, da die furische Domina sehr zurückgezogen lebte.
    Diese Geschäfte waren fern von der Welt der Ideen, in der er sich selbst zuhause fühlte, eine Welt, in der Leidenschaft, die Gunst der Musen, flammende Begeisterung und paideia mehr zählten als jeder Stand.
    Neben dem Decimus Serapio saß Icarion, anmutig und klar wie Orpheus, als seien sie alle drei an diesem Spätsommertag cives dieser ideal- en Welt.


    Tiberios wartete darauf, dass Iason seine Stimme erheben würde; er selbst war ganz und gar glücklich.

  • Dankend nahm ich die Schriftrolle aus den Händen des schönen Jünglings entgegen, erwiderte sein Lächeln, und gab mich einen Augenblick lang der Illusion hin, einfach nur ein Mensch unter Menschen zu sein.
    Nein – O dura fata semper et sortem asperam – ich hatte die Zeile gefunden, ich war natürlich: Iason, der heuchlerische Heroe.
    "Oh dieses immer harte Schicksal und dieses bittere Los,
    ob es wütet, ob es uns schont, so oder so ist es schlecht!"
    las ich, aber es klang irgendwie noch nicht echt. Ich hielt inne, sah etwas unsicher zu den Künstlern und räusperte mich.
    "Ähm, ich fange noch mal an."
    Icarion reichte mir seinen Becher, ich trank einen Schluck und begann aufs neue. Ich war Iason, Held und Jammerlappen zugleich.


    "Oh dieses immer harte Schicksal und dieses bittere Los,
    ob es wütet, ob es uns schont, so oder so ist es schlecht!"
    , klagte ich schon besser, blickte auf vom Papyrus, zu dem Sklaven Tiberios, und sah in ihm verkörpert die dunkle Gestalt der Zauberin, wie ich sie im Pompeiustheater auf das Grauenhafteste hatte wüten sehen, und die doch zugleich die einst geliebte Gefährtin und Lebensretterin war.
    Die Tragik weitete meine Brust, die Schönheit der Worte war ein Genuss, ich war Iason der Treulose, verstrickt in den Versuch, mich zu rechtfertigen.


    "So oft ein Gott für uns Gegenmittel gegen die Gefahren bringt,
    ist es nur noch schlimmer:
    wenn ich meiner verdienten Frau meine Treue erweisen gewollt hätte,
    wäre mein Kopf dem Tode geweiht gewesen!
    Wenn ich nicht sterben wollte, musste es mir Armem an Treue fehlen!"


    Das schleuderte ich Medea selbstmitleidig entgegen, fuhr fort sie flehentlich zu bestürmen:


    "Nicht Furcht besiegte die Treue, sondern die angstvolle Zuneigung:
    da ja die Kinder dem Tod der Eltern hätten folgen müssen!
    Heilige Gerechtigkeit, wenn du im Himmel wohnen solltest,
    so ruf ich deine Macht an und schwöre: Die Kinder haben den Vater besiegt.
    Ja sogar Medea hat, obgleich sie ein wildes Herz hat und kein Joch über sich dulden würde,
    sich lieber um die Kinder sorgen wollen als um die Ehe, so meine ich.
    Mein Herz hat beschlossen, sich der Zornigen mit Bitten zu nähern."


    Und mit bittender Geste suchte ich nach den Händen des Tiberios zu greifen.


    "Aber schau, kaum dass sie mich gesehen hat, springt sie auf, tobt,
    trägt ihren Hass vor sich her: auf dem Gesicht trägt sie tiefe Trauer."

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  • Tiberios gab das Lächeln zurück; er merkte, dass der römische Ritter ihm die kameradschaftliche Geste nicht übel genommen hatte.
    Aber als dominus Serapio sich räusperte und das zweite Mal Anlauf nahm und in die Rolle des Iason schlüpfte, war er entzückt über dessen Darbietung. Der Römer hatte unzweifelhaft daimon, wie man bei ihm zuhause gesagt hätte, enthusiasmós im Platonischen Sinne*, der ihn leicht, beschwingt und heilig werden und Iason seine Stimme verleihen ließ. Nur: Für einen römischen Ritter war es wohl überhaupt kein Kompliment ein großartiger Schauspieler zu sein; rangierten doch Theaterleute zusammen mit allen, die im entferntesten mit Unterhaltung zu tun hatten, am untersten Ende der gesellschaftlichen Ordnung.
    Daher schwieg der furische Sklave, doch seine Augen leuchteten auf, und als er nun Iason, der die gemeinsamen Kinder zur Entschuldigung vorschob, anblickte und ihm mit einer störrischen Bewegung seine Hände entzog, so war er wieder Medea, die sich einen Dreck um Konventionen scherte:
    Fugimus Iason fugimos - hoc non est novum….
    Wir flohen, Iason, und jetzt fliehe ich –
    das ist nichts Neues, die Wohnsitze zu wechseln;
    aber der Grund für die Flucht ist ein neuer:
    Bisher bin ich für dich geflohen;
    ich gehe, ich verschwinde, weil du mich zwingst, aus deiner Heimat zu flüchten.
    Und wohin schickst du mich?
    Zu Phasis und nach Colchis soll ich wohl reisen und in das väterliche Königreich, in dessen Filden meines Bruders Blut vergossen wurde?
    Welches Land zu bereisen befiehlst du nun?
    Welche Meere willst du mir zeigen?
    Vielleicht die Schlünde des schwarzen Meeres, durch die ich fuhr,
    als ich deinem noblen, königlichen brüchigen Ehegelübde durch die Symplegaden gefolgt bin?…."

    Er endete den Monolog:
    "...Für dich verließen mich Vaterland und Vater, mein Bruder und mein Stolz.
    Mit dieser Mitgift heiratete ich.
    Gib es der Flüchtenden nun zurück!“


    Tiberios`Medea war nicht wie eine rasende Mänade; kalt und klar zog sie Bilanz, ungebeugt stand sie da und rang die Hände, jedes Wort bittere Verachtung.


    (Und gleichzeitig fühlte sich Tiberios von etwas umfangen, das größer war als er und das ihn trug. So ewig weiter spielen zu dürfen….und er wußte doch, dass es ihm nicht zustand, etwas zu wünschen oder zu wollen, es sei denn, es wäre für die domini von Nutzen gewesen. Die Probe in der Diana Laube, die stahl er gerade seinem Geschick - Tyche, ich danke dir!)


    Selbstbedauern (Iason), Selbstdarstellung (Medea), Schuldzuweisungen( Beide) Appell an die Vernunft (Iason), das Ringen um die Kinder und geheuchelte Versöhnung: Der ágon, das Streitgespräch zwischen Medea und Iason war eröffnet, Schritt für Schritt ging es in die Katastrophe.



  • Das war ein großer Spaß, mehr als das, ein wahres Vergnügen, ja ich möchte sagen, für mich war es erhebend, mich da hinein zu vertiefen, in die Rolle, in die Verse, mit einem so fantastischen Gegenpart. Meine alte Theaterleidenschaft hatte mich eben wieder gepackt, und begeisterte mich nicht weniger als früher, das Gefühl war nicht anders als... sagen wir mit siebzehn, als ich noch alles für möglich gehalten hatte und mit Philonicus den 'Zwist der Königssöhne' geschrieben und geprobt hatte (im Nachhinein betrachtet leider der hinterletzte Schund).
    Wie sich Medea ihrer Untaten, die sie für mich – für uns! – begangen hatte rühmte, ihre Kälte, wie Eis über dem eruptionsbereiten Vesuv, das war atemberaubend, schaurig schön, von fataler Tragik!
    "Obwohl der feindselige Creo dich töten wollte," hielt ich ihr vorwurfsvoll entgegen,
    "gab er dir das Exil - weil ich ihn mit meinen Tränen überredete!"
    Und dann ergab ein Wort das andere, etwa so:


    Medea:
    "Ich hielt es für eine Strafe: ich sehe, diese Flucht ist ein Geschenk."


    Iason:
    "Solange es dir freisteht, zu gehen, geh und verschwinde von hier!
    Der Zorn der Könige ist immer groß."


    Medea:
    "Das rätst du mir?! Du wartest der Creusea auf – beseitige dieses verhaßte Miststück!"


    Iason:
    "Medea wirft mir Liebschaften vor?"


    Medea:
    "Und Mord und Intrigen!"


    Iason:
    "Welchen Vorwurf kannst du mir schon machen?"


    Medea:
    "Alles, was ich tat!"


    Iason:
    "Das bleibt noch obendrein,
    dass ich auch an deinen Verbrechen schuldig werden soll!"


    Medea:
    "Es sind doch deine, nur deine sind es: wem das Verbrechen nützt,
    der hat es auch begangen!"


    Und so ging das herrliche Streitgespräch weiter, bis zum Ende der Szene, wo die beiden im Zorn auseinander gingen, auf dass das Unheil weiter seinen Lauf nehmen würde.


    Beschwingt ließ ich die Schriftrolle sinken, während die Verse noch in mir nachklangen. Ich bediente mich nochmal an Icarions Becher trank, und bemerkte dann lachend:
    "Per omnes deos, Icarion, hast du nicht behauptet, Iason käme bei Seneca besser weg als bei Euripides? Dabei ist er hier nicht nur ein Schmierlappen sondern ein Heuchler noch obendrein!"
    Grinsend stellte ich den Becher wieder ab.
    "Tiberios, du solltest auf einer Bühne stehen! Oder bist du gar schon öffentlich aufgetreten? Ich meine, von der Werkschau abgesehen. Du kommst mir nämlich irgendwie bekannt vor."

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  • Tiberios schüttelte lachend über die Bezeichnung von Iason als „Schmierlappen und Heuchler“ und mit geröteten Wangen - der Schlagabtausch der beiden Helden hatte ihm großes Vergnügen bereitet - den Kopf: "Seneca hält es natürlich mit Medea!“, rief er aus: „Der Unterschied ist wohl, dass bei Euripides beide die Kinder loswerden wollen, während sie bei Seneca um sie kämpfen, und gerade die Bindung von Iason an seine Söhne macht das Ganze einleuchtender und vielleicht auch grausamer: So wirft Medea dann auch die toten Kinder Iason zu Füßen, während sie bei Euripides mit dem Drachenwagen emphorsteigen und Heroen werden! Es passiert ja nicht oft, aber hier setzt sich der römische Schriftsteller gegen den griechischen durch, da seine Personen nicht wie aus den alten Mythen erscheinen sondern vielmehr wie lebende Menschen in unserer Zeit...“


    Tiberios, der als Alexandriner ohnehin gerne und mit Leidenschaft redete, dachte nicht mehr daran, ob es angemessen war, was er sagte, und er dachte auch nicht daran, dass ihm eine eigene Meinung nicht zustand. Er erwartete eher, dass Icarion seine Position nun verteidigen würde und dass es zu einem weiteren Schlagabtausch über die Unterschiede zwischen Euripides und Seneca käme, der einfach nur auf der Lust an der Diskussion beruhte; keinesfalls wollte er Icarion, der so freundlich ihm gegenüber gewesen war, herabsetzen.


    Tiberios trank einen Schluck aus dem Becher:
    „Ich bin noch nie öffentlich aufgetreten, Dominus Serapio.“, beantwortete er dann die Frage des Römers:
    „Ich dilettiere nur. Aber….“ nun errötete er:
    „Es macht mir so große Freude.“, gestand er scheu, denn in seinen Augen war das unwichtig. Ein Sklave wurde für gewöhnlich an den Platz gestellt, an dem er für seine domini am nützlichsten war:
    „Ich saß bei dem Kampf Flamma, der Schlächter von Carrhae vs Priscus, der Zerstörer in der Reihe direkt hinter dir, Dominus Serapio. Mein Begleiter und ich kamen etwas zu spät, und wir taten so, als gehörten wir mit zu deiner Dienerschaft – so hat man uns durchgewunken.“
    Ein wenig Schauspielern machte Tiberios nicht nur auf der Bühne Spaß:
    „Ansonsten weiß ich nicht, woher du mich kennen könntest, Dominus Serapio.“, sprach er.

  • | Decimianus Icarion


    Mit einem sanften Lächeln hatte Icarion zugesehen und zugehört, wie die beiden Freunde der Kunst sich mit dem Dialog vergnügten. Sein Urteil behielt er freilich für sich. Hauptsache der Patron war glücklich. Doch als Tiberios in der Frage Medea vs Jason sowie Seneca vs Euripides entbrannte, und in Icarions Ohren ausgesprochen vorlaut tönende Reden schwang, da trat eine gewisse Anspannung in das Lächeln, wenn auch kaum merklich, eine abfällige Note, wie Schierling in Honig.


    "Besser sagte ich, aber doch nicht gut." verteidigte er sich vordergründig heiter gegenüber Serapio.
    "Reine Helden oder..." – mit einer Geste zu Tiberios – "Heldinnen sucht man natürlich in beiden Stücken vergeblich. Dabei arbeitet Seneca den Iason viel mehr als Realpolitiker heraus, während die Kindsmörderin in beiden Stücken gleich greulich ist. Auch bei Euripides bleiben die Kinder lediglich tragische Opfer."
    Er fasste Tiberios ins Auge wie ein Bogenschütze die Zielscheibe.
    "So bittet Jason die Medea: 'Laß zum Bestatten, zum Betrauern die Leichen mir.' Sie aber antwortet: ' Mitnichten! Meine Hand begräbt und übergibt / Sie dort geweihtem Boden bei der Hera Burg, / Damit sie meine Feinde nicht mißhandeln und / Ihr Grab umwühlen.' Daraus eine Verwandlung in Heroen abzuleiten erscheint mir eine recht eigene Interpretation."




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  • Das Deklamieren und das Gespräch machten mir eine Menge Spaß, und ich verstand gar nicht, warum mein Icarion auf einmal so unentspannt schien. Begütigend legte ich ihm in vertrauter Geste eine Hand auf den Unterarm und bremste seine Kampfeslust.
    "Beide Stücke sind unvergleichliche Kunstwerke. Sie stehen für sich, genauso wie die griechische Literatur eben ihre Blüte in der Vergangenheit hatte und unsere römische heutzutage."


    Wie der Jüngling Tiberios errötete, auf die Frage nach seinen Auftritten, diese Mischung von Freimut und Scheuheit, das war allerliebst anzusehen. Auch wenn er nur ein Sklave war, so konnte ich die Freude, die große Freude, von der er sprach so gut nachvollziehen... Und was für eine Augenweide noch dazu! Ein wenig schmal war er zwar für meinen Geschmack, doch das Funkeln seiner Augen und die elegante Neigung seines Nackens, in die sich ein paar goldbraune Löckchen schmiegten verströmten einen süßen Reiz.
    Ich lachte auf, als er zugab, sich bei den Ludi an mein Gefolge gehängt zu haben.
    "Hahaha, Schlitzohr!"
    Aber nein, ich schüttelte den Kopf und kramte in meiner Erinnerung, nicht mit den Ludi verband ich ihn, sondern...
    "Hm..."
    Auf eine selbstverständliche Weise streckte die Hand nach ihm aus, fasste sein Kinn, und ließ ihn den Kopf zur Seite wenden, um mir sein Profil anzusehen.
    "Hm... Ah, heureka, ich habs!" Spielerisch ließ ich die Rückseite meiner Finger flüchtig über seine Wange streichen, als ich meine Hand zurückzog.
    "Du erinnerst mich an jemanden aus Alexandria. Seltsam, es ist eine Ewigkeit her." Ich meinte auch, bei Tiberios eine ganz leichte alexandrinische Klangfärbung zu vernehmen, wenn er sprach. Vielleicht lag es daran?
    Ich lehnte mich zurück, gegen einen Pfeiler der Laube, und erzählte den beiden, in Erinnerungen schwelgend:
    "Ich war damals in Alexandria stationiert. Also, um genau zu sein, in Nikopolis, bei der XXII. Eines Tages begab ich mich in die sagenumwobene Bibliothek des Museion, um vor einem Feldzug in den Süden – es ging gegen die Blemmyer – etwas Recherche zu betreiben. Es hieß ja, sie wären kopflose Monstrositäten, die Münder und Augen auf der Brust tragen! Die Bibliothek ist natürlich gigantisch. Ein Bibliothekar kam mir damals zur Hilfe, ein junger Mann von geschliffener Sprache und exzellenten Manieren, der das ganze Labyrinth der Schriften wie seine Gürteltasche kannte. Es war beeindruckend, und hat bei mir wirklich einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Erst später habe ich dann erfahren, dass das der Epistates tou Mouseion höchstpersönlich gewesen ist. Nikolaos Kerykes hieß er. Ja, an den hast du mich erinnert, Tiberios, lebhaft, obgleich du ungleich mehr Zauber der Jugend besitzt – der Keryke war kränklich und früh ergraut."

  • „Und weiterhin spricht Medea: Und dem Land des Sisyphos will ich ein Götterfest und Opfer stiften für die Zukunft, diesem frevelhaften Mord zur Sühne. Diese Textstelle klingt kaum mehr verständlich, oder? Mit der Hera Burg ist nämlich der Tempel der Hera Akreia in Perachora gemeint, dort hatten die Korinther ein Heiligtum, bis die Römer es vor zweihundertsiebzig Jahren zerstörten.* Und dort hat man Medeas Söhne als Heroen verehrt. Sieben Mädchen und sieben Jungen aus vornehmen Familien versahen den Tempeldienst .Die Aufgabe der Kinder bestand darin, einmal im Jahr die Totenklage für Medeas Kinder zu wiederholen. Seneca hat diesen Bezug zum Korinther heraion dann weggelassen, so dass sein Ende wuchtiger und auch grausamer ist.", erklärte Tiberios zuvorkommend;
    Religionen und Kulte interessierten ihn so sehr, dass er sogar schon die Versammlungsorte der Christiani aufgesucht hatte, um mehr über ihren Kult zu erfahren, aber auch verbotenen magischen Ritualen, die den cthonischen Göttern gewidmet waren, hatte er einmal bereits beigewohnt.


    Als Dominus Serapio erklärte, dass sowohl Euripides als auch Senecas Stück unvergleichliche Kunstwerke seien, verstummte der Jüngling jedoch sofort ob dessen versöhnlicher Worte.
    Außerdem kam ihm in den Sinn, dass man seine Bemerkung über die Zerstörung des altehrwürdigen Korinth als Kritik an Roma verstehen konnte. Die ganze Bevölkerung von Korinth war damals entweder getötet oder versklavt worden. Nun jedoch herrschten andere Zeiten, Friedenszeiten. Es gab sehr viele graecophile Römer, deren geistige Heimat in Hellas lag. Auch Dominus Serapio, der die Musen liebte, musste doch alles Griechische lieben.


    Domnus Serapio streckte jetzt die Hand aus, um Tiberios genauer zu betrachten. Der furische Sklave wich nicht nur nicht aus, sondern stellte sich so hin, dass der Römer bequem sein Kinn anfassen und seinen Kopf zur Seite drehen konnte. Als Serapios Finger sanft über seine Wange strichen, lächelte er:
    "Ich stamme aus Alexandria, dominus Serapio. Ich danke dir für das Kompliment, dass ich dich an Nikolaos Kerykes erinnere, den früheren Epistates tou Mouseion"


    Die Worte, die Serapio sprach: Alexandria, das Museion, Nikolaus Kerykes, die Blemmyer ließen das Herz des jungen Sklaven so hoch schlagen, als sei der römische Ritter das Tor zu einer Welt voller Wunder, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden:
    Das kühne Antlitz des Serapio, die durchdringende blaue Blick: Welch Köstlichkeiten hatte er gesehen, welche Höhen erklommen, in welche Tiefen war er gestürzt? War er in die Ferne wie Phidias gefahren? Was konnte er berichten?


    Und nun konnte Tiberios sich nicht zurückhalten, zu fragen:
    „Dominus Serapio, hast du später dann die Blemmyer erblickt? Ist es denn wahr, was Plinius Maior in der Historia naturalis schreibt: Das sie acephaloi, kopflose daimones sind und ihre Augen und Mund auf der Brust tragen?“



  • Nun war es wieder die freimütige Seite, die der Sklave zeigte, ein süßes Lächeln wölbte seine Lippen, als ich seine Wange berührte. Ein kleiner Herzensbrecher schoss es mir durch den Kopf, ein lieblicher Giton, über dem gestandene Männer den Kopf verlieren... Was natürlich nur meine - möglicherweise recht überhitzte - Fantasie war, ich kannte den Jungen ja nur flüchtigst, fand ihn aber faszinierend, mit seiner Keckheit und seiner umfangreichen Bildung.
    Mein Icarion hatte sich nach der kleinen Diskussion wieder seiner Kithara zugewandt. Er zupfte ein paar Akkorde, die sacht, das Gespräch harmonisch untermalend, durch den goldgrünen Innenraum der Laube schwebten.


    "Diese Frage hat mich allerdings auch beschäftigt, als wir uns aufmachten, um sie zu bekämpfen..." hob ich an zu erzählen, denn das erwartungsvolle Funkeln in den hellen Augen des Tiberios war allzu bezwingend.
    "Wir schifften uns ein, gingen in Syene an Land, und zogen tief in den Süden, ins wilde Dodekaschoinos. Eines Nachts griffen die Blemmyer unser Marschlager an, sandten Wolken von Pfeilen und Brandpfeilen..." Während ich sprach – für gewöhnlich sprach ich kaum über all diese Dinge – traten mir die Ereignisse von damals immer deutlicher vor Augen. Die geißblattumrankten Wände der Laube verschwanden, ich sah den blutroten Widerschein der Flammen auf den Harnischen der Soldaten im Intervallum, hörte weichen Hufschlag auf Sand, hatte den Geruch von verkohlenden Lederzelten in der Nase.
    "Ich führte einen Ausfall, um die Bastarde guten römischen Stahl schmecken zu lassen. Da sah ich die Blemmyer zum ersten Mal. Wie Lemuren tauchten sie aus der Wüstennacht auf, eine auf uns zu stürmende Schar, fast zwei-Mann-hohe, ungestalt bucklige vierbeinige Wesen ohne Gesichter..." – Dies brachte ich vor wie eine thessalische Schauergeschichte, doch dann zwinkerte ich Tiberios zu und erklärte. - "Kamelreiter, verhüllte Wüstenkrieger. - Sie kämpften wie die Cerberuse, und erst als unsere Reiterei – man sollte immer eine Ala, oder zumindest eine Cohors equitata dabei haben - ihnen in die Flanken brach, konnten wir ihnen den Garaus machen."
    Dies erzählte ich leichthin, doch mein Blick verlor sich im blutigen Chaos dieser Nacht. Die Konfusion, als wir unsere Pila fast gegen die eigenen Leute geworfen hätten, der Kampf bei dem mir mein Pferd abgestochen wurde, das Schlachten danach...
    "Es sind nur Barbaren, wenn auch ziemlich schlaue Barbaren, Menschen aus Fleisch und Blut. Zumindest die, gegen die wir gezogen sind. - Weiter im Süden nahe des Feuergürtels sollen die Stämme aber immer absonderlicher und monströser werden... es gibt ja auch die verrücktesten Tiere dort. - Manche Einheiten der Blemmyer, die zu Fuß kämpfen, habe sehr hohe Schilde mit grimmigen Fratzen darauf, wenn sie sich dahinter ducken, dann scheinen sie kopflos, vielleicht stammen daher die Geschichten? Mit Mars und Bellona... und der Hilfe eines ortskundigen Nubierstammes, den wir uns zum Freund gemacht hatten... haben wir die Blemmyer dann geschlagen, vernichtend. Bei der Oase Tasheribat war das....." Mein Blick sank auf meinen Schwertarm, der Unterarm außen war eine einzige, deformierte, hässlich zerfurchte Narbenplatte. Aber immerhin war er noch dran. Mittlerweile sprach ich leise, und mehr mit mir selbst. "...Unter dem verdammt besten Praefectus Legionis, Octavius Dragonum. Der hat dann nach dem Bürgerkrieg auch keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen... Es ist alles lange her."

  • Tiberios schaute den Römer mit glänzenden Augen an und bemerkte wohl, dass dieser mit seinem Geist weit weg in der Vergangenheit war. Icarion untermalte das, was erzählt wurde, mit leichten Akkorden auf seiner Kithara, einmal langsam und weich, dann dräuend und dunkel, so dass Tiberios meinte, die Hitze des Feuers zu spüren, das Aufblitzen der Rüstungen und dann den Pfeilhagel zu sehen, und das Stöhnen der Verwundeten zu vernehmen….er ballte die Fäuste und ihm stockte der Atem beim Zuhören – und er atmete erleichtert aus, als Serapio das Rätsel auflöste und ihm zuzwinkerte:
    Kamelreiter aus der Wüste, ein gefährlicher und unheimlicher Gegner, aber keine mythischen kopflosen daimones waren es gewesen!
    Serapio sprach weiterhin leichthin und wie im Plauderton von seiner bewegten Vergangenheit, doch der furische Sklave ahnte, dass es eine fürchterliche Schlacht gewesen sein musste - unter so vielen fürchterlichen Schlachten.
    „Was ist der Feuergürtel, Dominus Serapio?“, fragte er, als aber dann Serapio eine Vermutung über den Ursprung der Geschichten über die acephaloi äußerte, nickte er heftig und rief aus:
    „Für so viel Sonderbares gibt es eine ganz natürliche Erklärung, Dominus – wenn auch nicht für alles, möchte ich meinen! Oh, das mit den Blemmyern und deinen Reisen, das solltest du aufschreiben lassen!“
    Sein Blick folgte dem Blick des Römers auf dessen Schwertarm, und er ahnte wohl, dass all die Wunder, die der Tribun gesehen hatte, seinen Preis gekostet hatten, und er wusste schon, dass Tyche niemals etwas umsonst gab.
    Aber als Serapio den Praefectus Legionis Octavius Dragonum und den Bürgerkrieg erwähnte, verstand er, warum es unter Umständen nicht opportun sein mochte, über jene Tage zu berichten, doch da keimte eine neue rettende Idee in seinen Geist auf, und wie er so war, er musste sie los werden:
    „Schreib bitte zweierlei, Dominus Serapio: Einen sachlichen Reisebericht über all die Phänomene, die dir begegnet sind und einen zweiten, einen geheimen Bericht, der die gesamte Wahrheit umfasst. Und am besten lässt du beide Berichte nachlässig herumliegen, denn viele Werke wurden durch Zufall und nicht durch Absicht überliefert. Du wirst berühmter werden als Pytheas von Massilia!“


    Tiberios bedauerte es in diesem Moment sehr, dem Römer bei diesem begeisternden Werk nicht helfen zu können, doch ihn tröstete die Aussicht, dass er in seiner Position bestimmt bessere Scribae als er einer war und andere Vertraute hatte.
    Wieder fiel sein Blick auf den Schwertarm des Mannes und voller Ehrfurcht hätte der junge Alexandriner gerne die Narben berührt, doch er hielt sich zurück, um den Zauber nicht zu stören, der für ihn sich um diesen Nachmittag wob. Die Laube tauchte die Welt in grüngolden geflecktes Zwielicht und malte goldene Kringel auf das dunkle Haar des Decimers.
    „Was hast du nach dem Sieg über die Blemmyrer getan, Dominus?“, fragte Tiberios: „Bist du weiter nach Süden bis zu jenem Feuergürtel gezogen?“

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    SKLAVE - IUNIA PROXIMA

    Einmal editiert, zuletzt von Tiberios ()

  • "Weit im Süden, jenseits des Reiches der schwarzen Aethiopier und der Berge des Mondes, soll es einen Landstrich geben, so heiß, dass kein Mensch dort leben kann. Es gibt dort viele Vulkane, die beständig Feuer speien, so dass sich ein Strom, gewaltig wie der Nil, doch von flüssiger Lava durch die Wüste wälzt. Da wo er sich in den Oceanus stürzt, kocht das Wasser und ein undurchdringlicher Dampf steigt bis zum Himmel auf..."
    Das hatte mir ein Karawanenführer erzählt, und mein garamantischer Sklave hatte es bestätigt.

    Tiberios war ein vortrefflicher Zuhörer. So wie er mir die Zunge gelockert hatte, wäre er gewiss ein erfolgreicher Zuträger sensibler Informationen. Ob ich ihn engagieren sollte? Der Gedanke tauchte automatisch in meinem Hinterkopf auf, doch viel mehr war ich noch im damals. Wenn ich dieses Fass einmal öffnete, dann drängte immer sehr viel daraus empor.

    Die gleißende, augenversengende Sonne und das entsetzliche Knirschen, als mein Knochen brach. Massa, mein Held von Tasheribat, der mir so fern geworden war und nie auf meine Briefe antwortete. Schwärendes Fleisch und Schwärme von Fliegen.

    "Aufschreiben? Hm ja, vielleicht." In Parthien damals hatte ich sogar noch Tagebuch geschrieben. "Ich könnte eine ganze Trilogie diktieren..." überlegte ich müßig, aber im Grunde fühlte ich mich nicht dazu berufen, denn mein Herz gehörte viel mehr der
    Poesie als dem schnöden Bericht. "Primum: Unter dem Adler - Reise ins Innere Mesopotamiens. Secundum: Durch die Wüste – Feldzug im Dodekaschoinos. Und tertium..." Wie wäre es mit "Die Rote Stadt – man lebt nur zweimal"? Doch die Nabataea-Frage unterlag noch immer der Geheimhaltung. "..noch so einiges."

    Ein geheimer Bericht, der die ganze Wahrheit umfasste? Welch liebliche Unschuld. Unwillkürlich verzogen sich meine Lippen zum Spott, und alte Verbitterung ließ mich abfällig erwidern: "Die Wahrheit kann man noch so glasklar aufschreiben, wenn sie unbequem ist, trifft sie auf blinde Augen und stocktaube Ohren."
    Darum würde ich auch keinen Bericht über den Bruderkrieg verfassen.

    Icarion hatte aufgehört zu spielen.

    "Nein, wir haben unsere Wunden geleckt, kehrten nach Nikopolis zurück..." Woran ich mich kaum erinnerte, nur an Fragmente aus Wundfieberträumen und an die lindernde Umarmung des Schlafmohns.
    "...ließen uns bejubeln und errichteten Kenotaphen. Wir hatten die Gefallenen ja nicht verbrennen können, ohne Holz."

    Wie das für Menas. Er war nicht älter gewesen als der Jüngling vor mir, für den dies alles nur eine spannende alte Geschichte war.
    Menas' gebrochene Augen, ein Grab im Sand. Mit einem Mal war es zu viel, als wäre ein Damm gebrochen, musste ich plötzlich um meine Beherrschung ringen. Ich erhob mich recht abrupt. Vor einem fremden Sklaven die Fassung zu verlieren, wie blamabel wäre das denn.

    "Ich hab noch zu tun. Vale ihr beiden." Ich strich Tiberios von oben durchs lockige Haar zum Abschied, wie einer schönen Katze, wandte mich zum Gehen. "Entlohne ihn gut, Icarion. Und lass ihn sich ein Buch aus der Bibliothek aussuchen. Ich freue mich auf euren Auftritt."


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  • Tiberios hing förmlich an Dominus Serapios Lippen, dann flüsterte er: „Der Fluss aus Lava, ob das der Phlegethon war, der direkt in die Abgründe des Tartaros führte?“

    Ein wenig Angst hatte er, aber den Feuerfluss der Unterwelt hätte er zu gerne mit eigenen Augen gesehen, das war großartig, das war groß.


    Doch dann spürte er, dass die Stimmung des römischen Ritters je umgeschlagen war.

    Nicht nur er hatte Dominus Serapios Zunge gelockert, sondern ein Stück weit hatte auch ihn diese ganze schillernde Welt der Musen und Erzählungen verzaubert wie Kirke den Picus, und seine Zurückhaltung, die er sich selbst während seiner Ausbildung als Scriba so mühesam anerzogen hatte, war einen Moment lang von ihm abgefallen.


    Er, der Sklave, tanzte auf einem ganz dünnen Seil; fast erschrocken hielt Tiberios inne, und die nächste Antwort des Serapio klang wie ein unmissverständlicher Tadel: "Die Wahrheit kann man noch so glasklar aufschreiben, wenn sie unbequem ist, trifft sie auf blinde Augen und stocktaube Ohren."


    Tiberios hätte gerne erwidert, dass alles Böse nur aus Unkenntnis und Ignoranz geboren wurde, und dass die Wahrheit die Menschen zum Guten führte, ja führen musste. Der große Sokrates hatte das gesagt, und der furische Sklave glaubte daran. Das es Menschen gab, die von der Wahrheit nichts wissen wollten, konnte er nicht recht fassen. ( Und das genau jenem Sokrates seine eigenen Mitbürger den Schierlingsbecher gereicht hatten, vergaß er.)


    Tiberios senkte den Kopf und schlug die Augen nieder, bereit auf die Knie zu fallen, falls er den Zorn des fremden Dominus erregt hatte.

    Und schon erhob sich Dominus Serapio abrupt.

    Aber dann spürte Tiberios des Römers Hand in seinem Haar, als wäre er, Tiberios, nur ein Knabe und begriff: Nein, Dominus Serapio war nicht auf ihn wütend. Es war etwas anderes: Traurigkeit war in ihm aufgestiegen, als sei dieser grüngoldene Nachmittag ein Katalysator für die Gespenster aus einer fernen Vergangenheit gewesen.


    Und Serapio sprach weiterhin freundlich und gütig zu ihm und Icarion, bevor er den Hortus verließ.


    „Danke Dominus Serapio, vale bene “, sagte Tiberios leise und verneigte sich.

    Nachdenklich sah er seiner edlen Gestalt hinterher. Die Traurigkeit wohnte also auch ganz oben in den prächtigen Villen, nicht nur in Elendsquartieren oder Sklavenunterkünften.


    In dem furischen Sklaven stieg der Wunsch auf, diesen Mann zu erfreuen, um ihm das Gute zu vergelten und das Dunkel wenigstens für einige Momente zu vertreiben, und er schwor sich, ihn bei der Deklamation nicht zu enttäuschen.


    Dann lief er zu Icarion hin, ging vor ihm in die Hocke und versuchte dessen Blick zu fassen:

    „Oh, es hat Dominus Serapio gefallen, nicht wahr?! Ich begehre keine Lohn, dieser Tag war mir Belohnung genug! Wenn ich die Schriftrolle mit dem Tragödie - sie war doch gewiss nur ausgeliehen? - behalten dürfte, wäre ich glücklich“

    Seine Wangen glühten:

    „Wir werden spielen, Icarion, wir werden spielen!“

  • | Decimianus Icarion



    "Das hat es." erwiderte Icarion ernst, sah von der Kithara in seinem Schoß auf und blickte in Tiberios' Augen, die vor Begeisterung sprühten. "Aber manche Dinge sollte man ihn nicht fragen."
    Belohnung genug? Unmerklich schüttelte er den Kopf. Die Rivalität, die er zu diesem Musenliebling empfunden hatte, der Neid auf dessen mühelose Anmut, verflog angesichts von dessen ungeheurer Naivität, und Icarios natürliche Gutmütigkeit trat wieder an die Oberfläche.
    "Wir werden spielen, und wir werden gut sein. Nimm besser trotzdem, was dir geboten wird, Tiberios. Keiner von uns steht immerzu auf der Sonnenseite."
    Und so bestand Icarion darauf, dass Tiberios zum einen einen Beutel mit Sesterzen, zum andern eine zweite Schriftrolle mit sich nahm, als er ihn zum Hoftor begleitet.
    "Vale bene, Tiberios. Solange die Erde den Himmel im Gleichgewicht trägt, und solange die glänzende Welt sich sicher weiterdreht..." Icarion hob lächelnd die Hand zum Abschied. "... mögen die Musen mit dir sein. Auf bald."


    ~ Ende ~



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