~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Er hörte das monotone Rattern der hölzernen Räder auf den Straßenplatten, selbst der Mond verhüllte sein Antlitz vor der Götterverlassenheit jenes winzigen Zuges, der sich einer Schnecke gleich über die Straße gen Norden schob. Er selbst war gehüllt in ein schäbiges Gewand, dessen Farbe einmal weiß mochte gewesen sein, das nun indes von einer Melange aus Staubgrau und Uringelb durchzogen und gänzlich zerschlissen war und den Eindruck erweckte, es habe bereits mehrere Leben verlebt. Der grässliche Odeur, welchen es verströmte, wurde übertüncht von jenem abscheulichen süßlichen Geruch, den die Leichen im Karren, den sie gemeinsam schoben und zogen, verströmten. Direkt vor den Augen des Knaben ragte ein dreckverschmierter, blasser Fuß hervor, zu schweigen vom leeren Blick jenes bartbewehrten Kopfes, der mit jedem Schlagloch sanft hin- und herwogte, um dann wieder zum Erliegen zu kommen. Durchaus wusste er seinen Vater bei sich, ebenso Onkel Flaccus und dessen Sklaven, doch vermochte er in seiner Position niemanden zu erblicken denn die leblosen Körper direkt vor sich.
Eine Kälte schien von ihnen sich zu verbreiten, kroch zuerst in seine Finger, welche gegen die abgegriffene Planke des Karrens drückten, wanderte seine Arme hinauf, an welchen die feinen Härchen gen Himmel ragten und das bildeten, was seine Amme "Entenpickel" tituliert hatte. Hinzu kam eine grässliche Humidität der Luft, welche von dichtem Nebel geschwängert war, und vor der kein Mantel und keine Toga, derer er ohnehin entbehrte, ihn schützte. Und nun wurde er sich gewahr, dass jene Schlange von Wägen aller Größe und Form, welche sich bishero hinter, vor und neben ihnen gedrängt hatten, verschwunden waren. Stattdessen ragten stumm und drohend die Umrisse der verfallenen Grabmäler uralter Familien aus dem Nebel, links und rechts der Straße aneinandergedrängt gleich der Zuschauerschar bei einer Pompa Circensis. Er wandte seinen Blick ab, sah zu Boden und dann nach vorn, wo der bärtige Kopf erneut hin- und herwogte und dann zur Ruhe kam.
Doch nicht ganz: Noch immer wirkte das Antlitz seltsam entstellt ob der Relaxation sämtlicher Muskeln, doch der Blick war mitnichten mehr leer und leblos: Die Pupillen regten sich und folgten den Bewegungen seines Kopfes. Zuerst glaubte er an eine Täuschung, einem Trugspiel seiner Müdigkeit, gepaart mit dem undurchdringlichen Nebel. Doch als die gesprungenen Lippen des Kopfes sich ebenfalls in Bewegung setzten und mit krächzender Stimme
"Wir sind da!"
sprachen, verstieg seine latente Furcht sich zu regelrechter Panik und ihm entfleuchte ein furchtsamer Schrei, gleich dem eines jungen Ferkels. Eine eisige Faust schloss sich um sein Herz, hilflos blickte er um sich, rief
"Vater!"
Doch vorn, wo sein Vater mit Onkel Flaccus den Karren gezogen hatte, war niemand, die Deichsel lag verwaist auf den Platten der Straße. Sein Vater hatte ihn zurückgelassen, war geflohen oder hatte sich im Nebel verborgen. Nur der grausame Libitinarius stand da, mit hoch erhobener Fackel und rief
"O Larvae et Lemures! Eilt herbei, denn wir haben unser Opfer für euch!"
Schon begannen die bleichen, leblosen Leiber sich zu regen. Ein ergrauter Mann, dessen dünnes Hemd von schwarz getrocknetem Blut benetzt war, erhob sich gemeinsam mit einem Weib mit wirrem Haar, deren Blick noch immer leer war. Mit langsamen Bewegungen schwangen sie sich von dem Karren herab, ihnen folgte eine zahnlose, kahle Gestalt mit einem schiefen Hals, um den noch ein Strick hing.
Voller Schrecken wandte der Knabe sich um, doch durch den Nebel erkannte er, dass die Pforten der Mausolea sich ihrerseits öffneten und Leichen herausströmten, gehüllt in Togae Triumphales, Praetextae und Matronenkleider, alle halb verwest, mit aufgedunsenen Leibern oder zusammengefallenen Gesichtern. Kein Ausweg war zu sehen, wohin er sich auch drehte!
"Schnappt ihn euch! Eure Brüder werden sich das Schweinchen schmecken lassen!"
, brüllte der Libitinarius und lachte grausam. Wieder versuchte der Knabe sich zu regen, die Flucht zu ergreifen, doch war es ihm unmöglich, denn wie verwurzelt waren seine Füße auf dem Pflaster der Straße, so sehr er sich auch abmühte, sich wandt und an sich zerrte. Unabwendbar approximierten sich die Toten, legten mit eisernem Griff ihre kalten Hände an ihn, hoben ihn auf ihre Schultern und wandten sich einem der Mausolea zu. Er vermochte sich nicht in geringstem Maße zu wehren, sein Schlagen und Treten schien die Verstorbenen nicht im geringsten zu disturbieren, während sie ihn schweigend weitertransportierten.
An dem Mausoleum, welches augenscheinlich das Ziel darstellte, stand ein großer Opferaltar, auf dem bereits schwarze Bohnen dargebracht waren. Der Libitinarius stand daneben, capite velato und ein Culter in Händen. Die Toten warfen ihn zur Erde, schlossen eine eiserne Kette um seinen Hals und befestigten sie an dem Ring zu Füßen des Altars. Als er aufblickte, erkannte er den bärtigen Kopf vom Wagen, dessen zugehöriger Leib nun einen Malleus in Händen hielt und mit welkem Lorbeer bekrönt war.
"Agone?"
, fragte die krächzende Stimme und übertönte sein hilfloses Schreien, sein Winden und Schlagen, mit dem er sich gegen dieses grausige Schauspiel zur Wehr setzte, ohne dass sein Widerspruch für die Anwesenden als abträglich wahrgenommen wurde.
"Age!"
, sprach der Libitinarius und der Hammer sauste nieder.
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Manius Minor schreckte hoch. Über sich erblickte er das verschwommene Antlitz Patrokolos' und jener Anblick ließ ihn rasch erkennen, dass er in Sekurität sich befand, dass er neuerlich jenen abscheulichen Traum geträumt hatte, welcher ihn in regelmäßigen Abständen heimsuchte und quälte, zumal das Tageslicht seinen Weg durch die Vorhänge des sanft wogenden Reisewagens sich bahnte.
"Wieder die Toten?"
, fragte sein Diener mit besorgtem Timbre in der Stimme, welche ihm trotz der knappen Zeit, in der Patrokolos an seiner Seite weilte, bereits wohlvertraut war. Der junge Flavius musste lediglich nicken in der Gewissheit, dass sein Diener, welchem er schon oftmals von jenem stets similär verlaufenden Traum berichtet hatte, kannte und voll Empathie betrachtete.
"Sorge dich nicht, Domine. Wir sind fast in Rom. Draußen erblickt man schon die Stadtmauern, viele Karren und Sänften sind unterwegs."
Der Knabe rappelte sich auf, er war im Schlaf in seinem Sitz zusammengesunken und schob nun den Vorhang des Reisewagens beiseite. Patrokolos berichtete ihm zwar stets, was es zu erblicken galt, doch diesmal vermochte er die Dinge noch mit der Kraft seiner eigenen Augen zu identifizieren, denn in der Ferne mangelte es ihm ja kaum an Sehkraft, welche sich im cremonesischen Exil augenscheinlich in gewissem Maße gemehrt hatte, was ihm zwar nach wie vor nicht erlaubte, Personen, denen er Antlitz zu Antlitz gegenüberstand, scharf zu fixieren, ganz zu schweigen von der eigenständigen Lektüre eines Briefes, doch immerhin vermochte er nun mit einiger Anstrengung die Mimik einer Person in geringer Entfernung zu erkennen. Und in der Tat war er nun auch imstande, die ehrwürdigen Mauern der Urbs Aeterna selbst zu erblicken, die er hinter jenem unsäglichen Leichenwagen verlassen hatte, welcher in seinen Träumen ihn heimsuchte. Heute aber schien die Sonne von einem wolkenlosen, hellen Himmel. Bald würde er in Rom sein, wo, wie zu hoffen war, seine Mutter und seine Geschwister ihn erwarteten. Und vielleicht auch sein Vater, sofern dieser sich nicht anderswo verborgen hatte um den Krieg schadlos zu überleben.
Indessen der Reisewagen sich langsam, doch stetig den Pforten Roms approximierte, lehnte der junge Flavius sich neuerlich in seinen mit Kissen akkomodierlich gemachten Sitz und bat Patrokolos, ihm noch ein wenig aus Livius' Ab Urbe Condita zu rezitieren, mit deren Repetition er sich für die Rhetorenschule zu präparieren gedachte, da man in Cremona stets seine umfangreiche Kenntnis in Poetik, Lyrik und Epik gelobt und sein eigens engagierter Grammaticus mitgeteilt hatte, er sei reif für eine höhere Stufe der Edukation.
Erfüllt von Stolz ob dieses Lobes also gab er sich strebsam und lauschte andächtig der Landung des Aeneas in Latium, während der Wagen am Tor zum Stehen kam. Von draußen vernahm er nur am Rande die Stimme des Kutschers, welcher den Wachposten adressierte:
"Der ehrenwerte Manius Flavius Gracchus Minor, Sohn des Senators und Pontifex Manius Flavius Gracchus, wünscht die Stadt zu betreten!"