• Axilla wusste nicht, wie lange es dauerte, den Schmutz von der Statue zu bekommen. Aber irgendwann war alles eingeseift und abgeschrubbt, und der blanke, graue Stein erstrahlte in alter Schlichtheit. Die Reste des mittlerweile kalten Wassers wurden kurzerhand über die Statue geschüttet, um die Seifenreste abzuwaschen.
    Axilla fror. Hier draußen war es kalt, und mittlerweile hatte es immer wieder geregnet. Feiner Sprühregen, der kalt überall hinwaberte und einem in Mark und Bein fuhr. Aber dennoch wollte sie noch nicht hinein gehen und sich aufwärmen. Irgend etwas ließ sie hier verharren, bei der tropfenden Statue, die sie noch immer so unbegreiflich anblickte und wartete.
    “So, Gottheit, du bist wieder sauber. Ein bisschen nass noch hier und da, aber sonst wieder wie neu. Ist es so besser?“
    Natürlich antwortete die Statue nicht. Sie war aus Stein, wie sollte sie? Axilla erwartete auch keine Antwort, sie wollte nur nicht hier in aller Stille dastehen und auf etwas warten, von dem sie selbst nicht wusste, was es war. Vielleicht Godotus.


    Ein paar Wassertropfen liefen an den steinernen Wangen entlang und sammelten an dem kurzen Bart zu dicken Tropfen. Axilla sah es eher unterbewusst, und ohne darüber nachzudenken, trat sie näher an die Statue und tupfte sie mit dem Ärmel ihres Kleides weg. Auch ihm Haar und an den Hörnern waren noch einzelne tropfen, und Axilla lehnte sich gegen die Statue, um auch diese wegzutupfen. So nah fühlte sie die Kälte, die der Stein in sich gespeichert hatte. Das war keine warme Haut, es war winterlicher Stein.
    “Du bist kalt, Liebster“, meinte sie halb verträumt und sah von den Haaren hinunter in das steinerne Gesicht, das nun direkt vor ihr war. Sie bewegte sich nicht zurück, stützte sich weiter mit einer Hand an seiner steinernen Schulter ab. Mit der anderen hatte sie die Tropfen weggewischt, und jetzt, wo sie nichts mehr zu tun hatte, fuhr sie einmal fast zärtlich über die raue und kalte Wange, als wäre das hier wirklich ihr Liebster. Ein lautloses Seufzen entfuhr Axillas Körper. “Es könnte wirklich schön sein, wenn du lebendig wärst. Wenn du mich ansehen würdest.“
    Sie bewegte sich einmal leicht seitlich, so dass der steinerne Blick sie traf, und dieses ewig hintergründige Lächeln nun auf ihr ruhte. Noch einmal streichelte sie über die Wange, aber die Statue blieb aus Stein.
    “Weißt du“, begann sie mit belegt leiser Stimme, “ich hab schon oft von dir geträumt. Als ich noch ganz klein war und den Geschichten von dir gelauscht habe. Von Arkadien, deiner Heimat. Ich hab mir dann vorgestellt, wie es wäre, wenn du mich dorthin entführst, in die dichten Wälder.“
    Ihr blick, auf seine Brust zwar gerichtet, hatte sich in weiter Ferne verloren. Es war lange her, dass Axilla an Arkadien gedacht hatte. Sehr lange. Es war so etwas wie ein Abenteuerplatz, und gleichzeitig eine Flucht. Wenn es ihr zuhause zuviel geworden war mit der Krankheit ihrer Mutter und die in sie gesetzten Erwartungen, wenn ihr Vater so unendlich weit weg gewesen war, dann war sie einfach gelaufen, durch Wiesen und Felder in den Wald, und hatte sich dort einen Baum gesucht, um darauf zu klettern. Dann war sie auch in ihrem ganz persönlichen Arkadien gewesen, der Heimat des Pan und der Nymphen, der Unsterblichen schlechthin. Im ewigen Zeitalter des Saturn, wo es sowas wie gesellschaftliche Zwänge nicht gab. Kein 'Du musst'. Auch wenn es dort gefährlich war und viele Monster gab wie die stymphalischen Vögel. Das Land der Abenteuer eben.
    “Ist es dort wirklich, wie man es sich erzählt? Mit den hohen Bergen und den tiefen Schluchten, und den Silberbächen? Sind dort wirklich noch die Nymphen?“ Wieder ein stilles Seufzen, und sie legte ihren Kopf an die Statue. Es war sehr kalt, und nichts wäre jetzt schöner gewesen, als wenn der Gott erwacht wäre und sie warm umarmt hätte. Im Moment fühlte sich Axilla so entsetzlich einsam. “Im Moment würde ich mich wirklich dorthin wünschen. Wenn die Satyrn dann ihre Zaubermusik spielen, würd ich nur zu gern alles vergessen. Kannst du mich nicht vielleicht doch dorthin führen?“ Sie drehte leicht den Kopf, um ins Gesicht ihres Pans zu sehen, aber der lächelte nur weiter still vor sich hin. Axilla legte sanft eine Hand auf seine Wange und streichelte den Stein, aber er sah nicht zu ihr herunter. Und doch half es ein wenig, nicht gänzlich einsam zu sein.
    Einem inneren Impuls folgend änderte sie dann ihre Position. So schief stehend war es unbequem, und so kletterte sie der sitzenden Statue auf den Schoß, lehnte ihren Rücken leicht gegen seine Brust und legte ihren Kopf an seine Schulter. Sein Arm ging an ihr vorbei, hielt er dort doch die Flöte, und Axillas Blick folgte den steinernen Konturen bis hin zu der Syrinx. Auch wenn der Stein nach wie vor schrecklich kalt und darüber hinaus nicht ganz trocken war, Axilla fühlte sich besser so. Oder zumindest nicht mehr ganz so entsetzlich.
    Sie schmiegte sich in die angedeutete Umarmung und streichelte mit ihrer Hand über den Arm, der die Flöte hielt. “Erinnerst du dich an das Gefühl? Ich meine, als du sie geliebt hast? Als sie sich dann verwandelt hat, um dir zu entkommen?“ Damit meinte Axilla die Nymphe Syrinx, die vor Pan geflüchtet und sich in Schilf verwandelt hatte, um ihm zu entkommen. Der Gott hatte aus ihr seine Flöte gemacht, um sie und ihre liebliche Stimme bei sich zu haben. “Ich glaube, ich kenne das Gefühl. Kein schönes Gefühl.“
    Sie ließ ihre Hand sinken und verschränkte ihre Arme vor ihrem Bauch, um so die Wärme etwas zu halten. Ihren Kopf ließ sie seitlich gegen Pans Brust sinken und starrte ins nichts vor sich. “Weißt du... ich weiß ja auch nicht, was ich gedacht habe. Es war nur... wenn er da war, dann war alles schön und gut und... Ich meine, er hat mich zwar die meiste Zeit nur angeschrien, oder wieder zurechtgestutzt. Eigentlich hatte er ja kaum ein liebes Wort für mich gehabt. Und doch... weißt du... dieser eine Kuss in der Bibliothek, dieser eine kurze Moment! Das war...“
    Axilla hatte nicht die richtigen Worte, um das zu beschrieben, was sie fühlte. Aber sie war sich sicher, dass Pan sie verstand, und sie ließ das Gefühl einfach einen Moment so weit anschwellen, bis ihre Brust davon zu platzen schien, ehe sie mit einem stillen Seufzen zurücksank.
    “Es war so schön. Aber für ihn... Und trotzdem wünschte ich mir, dass er sich doch auch in Schilf verwandelt hätte, damit ich ihn bei mir haben kann. Einfach nur bei ihm sein. Aber er....“
    Wieder ein Seufzen und ein Blick in den Garten, wo der Regen schon eine Weile wieder aufgehört hatte und langsam Tropfen von den Dächern hinunterfielen. “Aber für ihn... weißt du... er hat eine andere geküsst. Also, so richtig geküsst. Und ich glaub auch, dass das mehr ist. Ich meine, mich würde es ja nicht einmal stören, wenn er eine andere... eine Lupa oder so... Männer sind so, aber... sie ist eine Vinicia. Verstehst du? Eine Vinicia. Nicht irgendwer. Vinicius Hungaricus war LAPP von Germania. Und dieser andere, dieser... Lucanus, der ist ja auch Senator. Das ist jemand, der wichtig ist. Sie... sie ist jemand, den er heiraten könnte. Und wie er sie gehalten hat...Und geküsst... Und er hat ihr gesagt, dass ich ein niemand wäre. Verstehst du? Er... ich bedeute ihm nichts. Gar nichts. Der Kuss in der Bibliothek, das war... nichts. Als hätte es ihn gar nicht gegeben.“
    Axilla merkte, dass sie anfing, zu weinen. Schnell wischte sie die Tränen weg, und peinlich berührt lachte sie einmal kurz freudlos auf. “Und jetzt sitze ich hier wie Psyche und lasse mich von dir trösten Sie schüttelte den Kopf, wischte sich noch einmal über das Gesicht und atmete einmal tief durch.
    Das war albern. Sie wusste es. All das hier war albern. “Aber du nimmst mich nicht mit dir nach Arkadien, um dem zu entfliehen, nicht?“ Keine Antwort von dem Stein, nur dieses Lächeln, das Axilla ein trauriges Schmunzeln aufs Gesicht zauberte.
    “Nein, dass hier ist nicht Arkadien. Ich weiß. Und ich sollte mich nicht hinwünschen. Ich brauche wieder einen Mann, ich weiß. Seneca hat recht, er sollte... ich sollte nicht etwas anderem nachtrauen.“
    Sie ließ sich wieder zurücksinken gegen den Stein und blickte weiter hinaus in den trostlosen Wintergarten. “Es regnet wieder...“ stellte sie resignierend fest und blieb noch eine Weile sitzen, ihren Gedanken nachhängend. So langsam wurde es schon wieder dunkel, und es wurde noch ein wenig Kälter und ungemütlicher.
    Axilla rutschte etwas von Pan weg, schüttelte noch einmal den Kopf. Ein trauriger Gedanke huschte durch ihren Geist. Es war deprimierend, dass der einzige, mit dem sie über ihre Gefühle reden konnte, ein Gott war, der nicht antworten konnte. Sie drehte sich dem Steingesicht zu und gab ihm einen sanften Kuss auf die kalte Wange. “Danke fürs zuhören“ meinte sie leise, ehe sie aufstand und hinein ins Wärmere ging.

  • Der Tag war klar, noch kühl, aber doch schon durchhaucht von Frühlingswärme. Axilla hatte daher beschlossen, heute einmal nicht im muffigen Haus zu bleiben, sondern schon einmal etwas für die Verschönerung des Gartens zu tun. Wie sonst sollte man in einigen Wochen hier Blumen blühen sehen? Außerdem musste der persische Apfelbaum zurechtgeschnitten werden, ehe er zu blühen anfing. Ansonsten würde er keine Früchte tragen – oder so viele, dass man ihn wieder abstützen musste.


    Gerade, als sie die Leiter also an den Baum gelehnt hatte und dazu ansetzen wollte, ins Geäst zu steigen – trotz ihres Alters ließ sie es sich sicher nicht nehmen, in den einzigen Baum im Garten zu steigen, auf den sie ohne größeres Aufsehen und mit der besten Ausrede der Welt klettern durfte – kam die Nachricht, dass Livius Drusus vor der Tür wartete wegen einer Terminabsprache mit den Tempeln. Axilla schwankte also zwischen Freude, dass es an dieser Front voranging, und Enttäuschung, ihre Kletterpartie verschieben zu müssen, und ließ ihn hereinbitten.


    In ihrer kurzen Tunika war sie vielleicht etwas unorthodox gekleidet. Um das ganze etwas förmlicher wirken zu lassen, schlang sie sich ihre Palla, die auf einer Steinbank in der Nähe wartete, kunstvoll und gekonnt um den Körper, so dass sie wenigstens rudimentär offiziell wirkte und wartete auf ihren Gast.


    “Ah, Livius, willkommen!“ begrüßte sie ihn beim Eintreten. “Verzeih bitte die Begrüßung hier im Perystilum, aber ich wollte mich gerade den Frühjahrsarbeiten im Garten widmen, ehe du ankamst. Wärst du nur zehn Minuten später gekommen, hätte ich wohl erst baden müssen, ehe ich mit dir sprechen könnte.“
    Das bisschen Sprechen, was ihr in ihrer Jugend so viele Probleme bereitet hatte, war jetzt irgendwie schon ganz natürlich geworden.

  • Livius hatte Glück gehabt, denn auch ohne einen Termin mit der Iunia zu haben, war sie anwesend und ließ ihn auf ein Gespräch herein. Ins Peristylum wurde er gebeten. Nicht unbedingt der Ort, den er erwartet hatte. Ein Officium wäre wohl die erste Lokalität gewesen, in das er das Gespräch mit ihr in Gedanken geschoben hätte. Doch kamen ihm diese Gedanken erst, als sich Iunia Axilla für die Begrüßung im Peristylum entschuldigte. Zu groß war seine innerliche Angespanntheit in Erwartung des Gesprächs, als dass er darüber im Vorfeld hätte nachdenken können.
    "Salve Iunia...", erwiderte er zunächst die Begrüßung höflich, während seine Gedanken dank ihrer weiteren Worte plötzlich in eine gänzlich neue Richtung drifteten. Die Frau die vor ihm stand, war zwar älter als er selbst, doch nicht minder attraktiv, weshalb ihre Worte Bilder vor sein inneres Auge projezierten, die ihn die Braunhaarige fasziniert anstarren ließen.
    Es dauerte einige Atemzüge, bis Livius bemerkte, dass er garnicht weitergesprochen hatte, sondern in diesem Gedanken schwelgend verharrt war. Zeitgleich stieg es ihm warm ins Gesicht und sein sonst eher bleiches Gesicht nahm einen rötlichen Teint an. Als er wieder zu Worten fand, versuchte er den peinlichen Moment mit einem Witz zu vertuschen: "Dann bin ich aber froh rechtzeitig angekommen zu sein..." Sagte er und lächelte verlegen. "... Sonst hätte ich noch warten müssen." Seine Witze waren auch schon mal besser gewesen - zumindest, welche gewesen.


    Nichtsdestotrotz galt es hier einen Auftrag zu erledigen. Daher griff er in seine Tunika und holte endlich eine Wachstafel heraus, auf der er sich bereits einige mit dem Tempel abgestimmte Terminvorschläge notiert hatte. Es gab zum Glück nicht so viele größere Feiertage in den nächsten Wochen, weshalb es ihm nicht schwer gefallen war freie Termine zu finden. "Nun, wegen dem Opfer...", sagte er dann, redlich bemüht professionell zu klingen und wedelte dabei leicht mit der Tabula. Er wollte den Faden wieder aufnehmen, ehe er ihn vollends verlor.

  • Wurde der Mann etwa rot? Axilla fühlte sich durchaus sehr geschmeichelt. Es war durchaus eine Weile her, dass ein Mann sie so angesehen hatte, wie Livius es eben getan hatte. Oder zumindest war es eine Weile her, dass sie selbiges wirklich bemerkt hatte. Und da ihr Gegenüber weitaus jünger als sie war, war es nochmal sehr viel schmeichelhafter. “Vielleicht...“, kokettierte sie also mit einem wissenden Lächeln samt dazugehörigem Augenaufschlag, als Livius meinte, er hätte sonst warten müssen.
    Allerdings wollte sie ihn ja auch nicht zu sehr verunsichern. Zumal sie ja ohnehin keine tiefergehenden Absichten hatte, außer eben jener einen, sich in der momentanen Aufmerksamkeit ein wenig zu sonnen und sich mal wieder etwas weiblicher zu fühlen als in ihrer letzten, ehemannlosen Zeit. Also ließ sie ihn auch vom Haken und widmete sich dem eigentlichen Grund des Besuches. “Du hast einen passenden Termin gefunden?“ fragte sie also gleich nach, um dem jungen Mann vielleicht ein wenig in seinen Redefluss zu helfen.

  • Zu allem Überfluss schien Iunia nicht nur zu bemerken, dass ihm das Blut ins Gesicht stieg, sondern sie ging auch noch gewitzt darauf ein. Der junge Livius bemerkte es nicht gleich, doch dann machte es auf einmal 'klick', was die attraktive Frau ihm gegenüber mit ihrem 'vielleicht' gemeint hatte. Wieder drehten die Bilder in seinem Kopf ihre Kreise und die Röte in seinem Gesicht wurde umso kräftiger. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass seine mit Blut prallgefüllten Adern nicht nachgaben. Das würde den ohnehin schon peinlichen Moment für den jungen Discipulus zu einer Katastrophe werden lassen. Er könnte sich nicht mehr unter die Leute wagen.


    Ein hörbares Ausatmen war die Folge auf die Frage nach dem passenden Termin. Sein Herz klopfte ihm noch immer bis zum Hals, doch schien es so, als würde die Konzentration auf seine eigentliche Arbeit ihm helfen wieder einen kühlen und klaren Kopf zu erhalten.
    "Ja, ... Mehrere...", er stockte und blickte wieder von seiner kleinen Tabula rauf in die Augen seines Gegenübers. Während sein Blick einen Moment auf ihr verharrte, fuhr er dann fort: "Es würden sich zwei Termine besonders anbieten.", läutete er dann seine Terminvorschläge ein. Das Ablesen von der Tabula fiel ihm hingegen wieder leicht und er schaffte es zurück in einen angenehmen Redefluss. "Zum einen kurz vor den Quinquatrus Maiores am ANTE DIEM XV KAL APR DCCCLXVI A.U.C. (18.3.2016/113 n.Chr.), oder aber an den Tagen danach. Also ab dem ANTE DIEM IX KAL APR DCCCLXVI A.U.C. (24.3.2016/113 n.Chr.). Denn an den Feiertagen selbst herrscht einfach zu viel Betrieb in den Tempeln."

  • Hach, mit einem Mal fühlte Axilla sich wieder zehn Jahre jünger. Mindestens. Es war wirklich mehr als schmeichelhaft, wenn sie jemand als Frau und nicht nur als Mutter oder - noch schlimmer – als älterer Mensch wahrnahm. Das Lächeln in ihrem Gesicht wurde strahlender, während sie dabei zusah, wie der junge Livier sich bemühte, möglichst viel auf seine Tabula zu sehen.
    “Ich hätte an beiden Tagen wohl Zeit. Ist denn einer der Termine für den Tempel günstiger? Und zu welchen Zeiten?“ Eigentlich wollte Axilla den Jungen ja nicht unnötig quälen, aber wenigstens ein bisschen musste doch noch sein. Also fügte sie noch ein “Bist du an einem der Termine dann auch anwesend?“ mit ihrer verheißungsvollsten Stimme an.

  • "Ich denke, die Tage nach den Quinquatrus Maiores sind wohl am Besten für dein Vorhaben geeignet. Am frühen Nachmittag ist bisher nichts eingetragen.", erzählte er weiter und blickte danach nervös von seiner Tabula auf und nahm wieder Blickkontakt mit Iunia Axilla auf.


    Der Wink bei ihrer nächsten Frage schien allerdings in seiner bereits auf dem Höhepunkt angekommenen Nervosität untergegangen zu sein, da er etwas verwirrt antwortete: "Ähhh, Ja, natürlich. Ich bin täglich im Tempel anwesend. Eigentlich die ganze Zeit."

  • Nungut, vielleicht hatte Axilla ihre Wirkung auch überschätzt. Zumindest war der Livier nicht wieder wie erhofft rot geworden und er hatte auch nicht gestottert. Also verbuchte Axilla die Sache als kleinen Sieg für ihr Ego und ließ den jungen Mann damit von ihrer Angel, ohne weiter nach Komplimenten zu fischen. “Prima. Dann halten wir den Tag doch gleich fest, dann kann ich auch dem Händler für den Stier Bescheid geben. Ich habe ein wirklich sehr schönes Tier gefunden, und auch gleich die Option auf ein zweites, falls Iuppiter aus irgendeinem Grund doch nicht zufrieden sein sollte.
    Muss ich noch irgend etwas besonderes beachten? Also, beim Opfer? Ich nehme ja an, dass der victimarius des Tempels Bescheid weiß und mit dem Opferhammer dann bereit steht?“
    Axilla wollte wirklich verhindern, dann am Ende dazustehen und das Ganze doch abbrechen zu müssen, weil irgend etwas nicht so war, wie es den Vorschriften entsprach.

  • "Wenn beim Ablauf alles glatt läuft, wird es keinen Grund geben, für den Iuppiter ein solch großzügiges Opfer ablehnen sollte.", versuchte er sich an einer der Floskeln, die er bereits durch seine Tätigkeit am Tempel kennenlernen durfte. Er wollte ihr damit die Sorgen nehmen, dass etwas schief gehen könnte. "Du musst nur dort sein. Mit dem Opfertier. Die Tempeldiener und Opferhelfer werden selbstverständlich rechtzeitig unterrichtet und stehen dann ebenfalls pünktlich parat. Das Opfer selbst würde dann klassischerweise mit einem Gebet im Tempelinneren beginnen, später draussen würde dann der bereits angekettete Stier geopfert und ein weiteres Gebet gesprochen werden. Selbstverständlich mit der Analyse der Innereien.", versuchte Livius der attraktiven Römerin den Opferablauf grob zu skizzieren. Oft genug gesehen, daran mitgewirkt und entsprechend gelernt hatte er es, um dies selbstbewusst auch in ihrem Beisein zu erläutern. Zumindest in seiner Stimme schien er mittlerweile seine Nervosität abgelegt zuhaben, während seine Finger sich in das Holz auf der Rückseite der Tabula gruben.
    "Hast du Dir schon überlegt, was du mit dem Fleisch des Tieres machen möchtest?", fragte er dann, nicht gänzlich ohne Hintergedanken, immerhin entschieden sich einige Opferhelfer durchaus dazu, dies in einer Cena recta mit den Opferhelfern zu teilen.
    Sein Blick, der während des Gesprächs immer wieder zwischen den hübschen Bäumen im Innenhof der Domus, den Säulen und der Hausherrin hin und her schwirrten, verharrten am Ende dann wieder auf ihren grünen Augen.

  • Axilla hörte genau zu und nickte dann. “Ah, gut, ich habe zwar schon auch größere Tiere geopfert, aber noch nie an Iuppiter“, kommentierte sie also die Ausführungen und war doch beruhigt. Allzu viel Unterschied schien es zwischen den Gottheiten also nicht zu geben, was den reinen Vorgang betraf. Das machte Axilla doch ein wenig zuversichtlicher, immerhin hatte ihr damaliges Opfer an Pluto mehr als den erhofften Erfolg gebracht. Wenn ihr Opfer an Iuppiter auch nur annähernd so erfolgreich werden würde, wäre das ein großer Sieg für sie. Im Gedanken an diese Hoffnung geklammert bemerkte Axilla nichts davon, wie sehr die unschuldige Wachstafel malträtiert wurde und fing nur an, leicht verwegen ob ihrer Pläne zu lächeln. Ja, zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie in just dieser Angelegenheit endlich mal ein Hochgefühl und nicht nur stumpfe Resignation. Das musste ausgekostet werden!
    “Hm?“, machte sie im ersten Augenblick daher überrascht, als die Frage nach dem Opferfleisch kam. “Oh, das kann der Tempel gerne verkaufen oder an die Anwesenden spenden, was auch immer dir besser erscheint. Ich hätte nur gerne ein Filetstück, um es mit nach Hause zu nehmen. Aber an einem Stier ist so viel Fleisch... da werden sicher sehr viele von satt.“ Axilla lächelte weiter charmant und war sich nicht sicher, ob sie nicht doch etwas in den Augen des jungen Mannes hatte blitzen sehen. Aber vielleicht bildete sie sich doch das alles en.

  • Crassus lauschte, aber offenbar war alles ruhig.
    “Hmm, nichts... lass uns weiter gehen.“
    Marsa nickte und beide schlichen weiter. Crassus stoppte kurz und sah hinauf zum Rundgang des zweiten Stockwerks. War das ein Schnarchen?

  • Lucius weinte, sein Vater seufzte. Lautstark schnappte der Junge zwischen seinem Geheule nach Luft. "Maaaaa...", schrie er unter Tränen und sein Vater konnte nicht einmal sagen, ob er tatsächlich seine Mutter meinte oder es sich lediglich um sinnlose Laute handelte.
    "Waaawa …!"
    "Mama ist nicht da", antwortete er zum gefühlt hundertsten Mal, während er den Jungen die Treppe nach unten trug, und war zumindest froh, dass er heute angeblich brav gegessen hatte. Er schrie ständig in den letzten Tagen, schlief weniger als sonst, aß schlecht. Und Avianus fühlte sich wie der schlechteste Vater der Welt … als hätte er etwas daran ändern können. Er verbrachte ja einen Großteil desTages nicht einmal daheim. Man hatte ihm gesagt, es läge wohl auch an Lucius' Zähnen, dass er so unruhig war, bestimmt vermisste er aber auch seine Mutter, wenn sie sich gerade nicht um ihn kümmern konnte, da war Avianus sich sicher. Um den Jungen abzulenken, drückte er ihm ein kleines Holzpferd, welches er ihm vor einigen Tagen mitgebracht hatte, in die winzigen Hände, hübsch bemalt und sogar mit struppiger Mähne und Schweif aus echtem Rosshaar. Als Lucius es geschenkt bekommen hatte, war das Tierchen wahnsinnig interessant gewesen, am heutigen Tag aber landete es umso schneller auf dem Boden des Atriums und der nanulus quengelte unbeirrt weiter.
    Vorsichtig in die Knie gehend hob sein Vater das Spielzeug vom Boden auf. "Weißt du … wärst du nicht mein Sohn hätte ich keinen Nerv für diese Sch- …" Er brach ab und seufzte einmal mehr leise. "Ich meine … für das alles …", endete er in etwas weicherem Ton, " … nanulus." Lucius blickte ihn aus verheulten, dunklen Augen an und war zum ersten Mal einen Moment lang still. Avianus blickte ebenso stumm zurück, ein klein wenig versöhnt, gleichzeitig allerdings immer noch ratlos, während sein Sohn sich ungeschickt die Tränen im Gesicht verschmierte.
    Gemeinsam mit seinem erneut unglücklich schniefenden Zwerg – zumindest schrie er nicht mehr – setzte Avianus seinen Gang durch die Domus fort, weiter in Richtung Peristylum nach hinten in die Exedra, wo er sich setzte und lautstark die Luft aus seinen Lungen entweichen ließ. Lucius unterdessen vergrub das Gesicht in seiner Schulter und Avianus wurde sich einer Sache immer mehr bewusst. Sie brauchten ein Kindermädchen. Ein richtiges. Nicht irgendeine Haussklavin, der man das Kind für ein paar Minuten in den Arm drückte. Ganz dringend.
    Die Tränen auf seinen Wangen waren noch nicht getrocknet, da streckte das Kind seinen Arm nach dem kleinen Holzpferd aus. "Dadadada … dada."
    Widerstandslos überreichte sein Vater es ihm, solange er nur ruhig blieb, und kaum hatte Lucius sein Spielzeug zwischen den Fingern, hatte er es auch im Mund und lutschte und kaute darauf herum.
    "Schön, wenn dir das Ding gefällt. Und? Wie war dein Tag so?", fragte Avianus aus Mangel an sinnvollen Gesprächsthemen. Sein Sohn blickte erst nur mit großen Augen zurück, ließ das Holzpferd sinken, und stieß eine Handvoll sinnfreier Laute aus, die Wörtern dennoch erstaunlich ähnlich waren, ganz und gar ohne sich von den Spuckefäden beirren zu lassen, die noch immer an dem Pferd und seinen Lippen hingen.
    "Wie bei mir. War echt … aufregend, was?" Aufregend. Absolut. Es gab nichts Aufregenderes, als den ganzen Tag lang im Officium zu sitzen.
    "Was hältst du davon, wenn ich dir ein wenig von deinem Großvater erzähle? Und von deinem Onkel? Und von mir selbst vielleicht. Ein paar Geschichten …" Nach Monaten, während derer er fast täglich Geschichten erzählt hatte, ging ihm so langsam der Stoff aus. Was allerdings ziemlich egal war, denn es schien, als wäre ohnehin keine davon in Lucius' Verstand hängen geblieben.
    "Gah."

  • Gah. Sehr aufschlussreich. Aber was hatte er auch erwartet? Gar nichts, um ehrlich zu sein. Das Kinder nicht als kleine Erwachsene ihren Müttern hinten rausrutschten, soviel wusste selbst Avianus, und folglich ebenso, dass es eben eine gewisse Zeit lang dauerte, bis sein Sohn sich auch nur annähernd verständlich ausdrücken würde.
    Irgendwie musste er sich bis dahin behelfen. Gah hieß dann wohl ja, beschloss er kurzerhand, zögerte aber einen Moment.
    "Warte mal ... hab ich dir schon mal die Geschichte von Mama und mir erzählt?", fragte er stattdessen mit einem leichten Stirnrunzeln. Nein, hatte er bisher nie. Früher hatte er immer so getan, als wäre es ganz einfach, dem Kind die ganze Wahrheit zu erzählen. War es aber absolut nicht, selbst wenn er wusste, Lucius würde sich später an kein Wort erinnern.
    "Gah." – Und gah hieß schließlich ja, wie er zuvor beschlossen hatte. Das musste dann wohl bedeuten, dass der kleine Lucius ihm geradewegs ins Gesicht log. Oder vielleicht bedeutete gah etwas vollkommen anderes. Etwa: Was fragst du mich schon wieder so eine dumme Frage, wenn du die Antwort bereits kennst?
    Avianus blickte milde lächelnd zu seinem Sohn hinab.
    "Also, das mit deiner Mutter … das ist alles nicht so einfach, verstehst du? Weil jeder deinen Tata für verrückt erklären würde, wenn das rauskommt. Aber ich bin sicher, du kannst ein Geheimnis für dich bewahren." Lucius Blick nach zu urteilen, hatte er nicht den blassesten Schimmer, was sein Vater da faselte. Der Junge ließ einmal mehr von seinem bunten Holzpferd ab und sah skeptisch auf.
    "Ja, wie gesagt, deine Mama …" "Mamama." "Richtig. Zum ersten Mal habe ich sie gesehen, da hat sie … mir Wein eingeschenkt? Häppchen gereicht? Hübsch herumgestanden? Ehrlich, ich weiß es nicht mehr. Es war in Misenum. Ich habe sie gar nicht recht wahrgenommen. Erst als …"
    "Mamamama …", plapperte Lucius weiter vor sich hin. Avianus sah auf. Irgendwoher von der anderen Seite des Peristyls drangen Schritte zu ihnen. Eigentlich nichts ungewöhnliches, nur wollte Lucius überall seine Mutter sehen und hören.
    "Das ist nicht deine Mama. Geht doch gar nicht, Lucius." Die war immerhin nicht da. "Also … ich war in Rom. Das war nach dem Krieg. Da habe ich sie auf der Straße gesehen. Das war vor sechs Jahren? Ja sogar fast exakt sechs Jahre … verdammt, jetzt fühle ich mich alt …"
    "Vaddammt", quietschte Lucius.
    "Ausgerechnet meine schlechten Angewohnheiten musst du dir rauspicken, was?"
    Lucius schien kein Problem mit schlechten Angewohnheiten zu haben. Ganz im Gegenteil. Er grinste von einem Ohr zum anderen. Und sein Vater brachte es nicht übers Herz, ihn zu tadeln, so unglücklich wie das Kind in den letzten Tagen war.
    Tja … und da, in Rom auf der Straße, wollte ich sie einsperren. Und sie hat mich ausgetrickst." Während er die alten Erinnerungen sacken ließ nickte er leicht. Unglaublich. Und jetzt saß er hier mit dem gemeinsamen Kind auf dem Schoß. Du tickst nicht ganz richtig, hätte er gesagt, hätte irgendjemand ihm vorhergesagt, dass es so kommen würde. Damals hatte er auch nicht gewusst, dass er selbst ein Spinner war.
    Schon wieder waren da Schritte. Vermutlich irgendwelche Sklaven, die da hin und her huschten.
    "Mama", nuschelte Lucius mit dem Pferd zwischen den Lippen.
    "Du hast immer noch Hoffnungen, hm?"

  • Zutiefst angewidert von der dumpfen Hitze schleppte sich Agricola den heißen Kiesweg entlang. So wie jeden Tag um die zehnte Stunde war er zu Tode gelangweilt seinen Pflichten als nährende Gottheit der iunischen Köter und Karnickel nachgegangen, hatte seine obligatorischen Eimer – links Grünzeug, rechts Schlachtabfälle – von der Culina durch den Porticus in’s Peristylum hinaus befördert, das dösende Vieh beglückt und einmal mehr festgestellt, dass ihm die grelle Sommersonne seltsam fremd und unangenehm geworden war. Das monotone Zirpen der Zikaden in den abgeblühten Fliederbüschen ging ihm auf die Nerven. Ebenso wie der penetrant süßliche Gestank der Lavendelsträucher. Verglichen mit seinen Erinnerungen an die Wiesen und Hügel um Cales war dieser Hortus nur eine stickige Imitation von Natur, die ihn jeden Tag auf’s Neue deprimierte.


    Seine Mutter hatte schon recht mit ihren stummen Vorhaltungen. Er war zu einem lichtscheuen Stubenhocker geworden, der zehn von zwölf Horae damit verbrachte, im Dämmerlicht der Bibliotheca dem Leben von Toten nachzuspüren. Durch die erloschenen Augen seiner Mutter betrachtet, mutete das wohl ziemlich dumm an. Dabei hätte gerade sie es besser wissen müssen. Ihr war sogar das weitläufige Anwesen der Iturier zu eng gewesen. Eingesperrt zwischen den Mauern der Domus Iunia wäre sie fraglos eingegangen wie eine Primel. Agricola dagegen hatte nicht vor, einzugehen. Genau deswegen mied er auch die traurige Wirklichkeit und fraß all die Historien und Biografien in sich hinein. Sie trugen ihn für ein paar Horae mit sich fort und gewährten ihm zumindest einen flüchtigen Blick auf die wahre Größe der Welt und die atemberaubenden Leistungen des menschlichen Willens. So wie das Viehzeugs sich von den herbeigeschleppten Küchenabfällen ernährte, stillte er seinen Hunger eben mit den Geschichten großer Männer, ruhmreicher Taten und ferner Weltgegenden. Hier draußen gab es ohnehin nichts zu verpassen. Über dem Peristylum ging jeden Tag die Sonne auf und irgendwann wieder unter. Das war’s. Jenseits der Mauern schäumte das Leben, hier drinnen welkte der Flieder. Wen konnte es da verwundern, dass er lieber an solch exotischen Orten wie Zama, Magnesia, Pharsalos, Philippi oder Actium weilte und sich eine Welt zusammen bastelte, in der auch er Großes vollbringen konnte. Dumm war dabei nur eines: Je tiefer er sich in diese fremde Welt versenkte, desto trüber und bedrückender erschien ihm die eigene. Es war zum Davonlaufen.


    Während er so dahin schlurfte, schwitzend, seufzend, über seinem Weltschmerz brütend, vernahm er plötzlich das von glucksendem Gegacker untermalte Murmeln seines Onkels. Auch das noch! Tribunus und Tribunus Minor – wieder einmal in trauter Zweisamkeit vereint. Das musste er jetzt wirklich nicht haben. Ohne lange zu überlegen schlug er einen scharfen Haken in’s Gesträuch, arbeitete sich mit seinen leeren Holzeimern durch Büsche und Sträucher zum Rand des Innenhofes vor und entkam schließlich etwas zerkratzt in den wohltuenden Schatten des nördlichen Porticus. Sollten Onkel und Filius ruhig die stehende Luft des frühabendlichen Hortus genießen. Agricola würde sie dabei nicht stören. Er wollte nichts als in Ruhe gelassen werden. Entgegen seiner Erwartung bewegte sich das Gemurmel jedoch nicht in das heiße Perystilum hinaus, sondern in die Kühle der angrenzenden Exedra. Das passte Agricola erst recht nicht in den Kram. Um die Eimer zurück in die Culina zu bringen, musste er da vorbei. Gut, er hätte den Porticus auch in entgegengesetzte Richtung durchwandern können, dazu allerdings war er zu träge. Also tappte er einfach mal drauf los. Er konnte ja immer noch so tun als sei er zu tief in Gedanken versunken, um Onkel und Vetter zu bemerken.



    Je näher er der schattigen Nische kam, desto deutlicher waren Avianus’ Worte zu vernehmen. Von der Familie sprach er, von seinem Vater, seinem Bruder, seiner Frau. Gleichermaßen von Traurigkeit und Zorn heimgesucht stellte Agricola leise die Eimer ab und drückte sich mit weit aufgesperrten Ohren an die Wand. Lucius, der kleine Stinker, bekam ungefragt all das zu hören, wonach es seinen Vetter schon lange dürstete. Und das obwohl der Kleine gewiss noch nicht einmal verstand, was sein Vater ihm erzählte. Agricola dagegen verstand sehr wohl. Nur ihm erzählte niemand etwas. Er musste sich alles, was er wissen wollte, mühsam in den Tiefen der Bibliotheca zusammenklauben, oder es stehlen wie ein Dieb. So wie jetzt. Es war nicht recht, zu lauschen, und es erfüllte ihn durchaus mit Scham. Dennoch verharrte er regungslos im Dunkel des Säulenganges. Wenn es die Familie betraf, hatte auch er ein gewisses Recht darauf, mehr zu erfahren. Zumindest redete er sich das ein.

  • "Deine Mama und ich haben uns nicht immer so gut verstanden, weißt du?"
    "Vaddada … dada …"
    "Weil … deine Mama war nicht immer frei. Und ganz zu Beginn, da wollte ich nicht, dass sie es jemals wird." Er hatte ganz ohne Frage seine Gründe gehabt und eigentlich sogar das getan, was jeder normale Mensch versucht hätte – einem alten Bekannten seinen davongelaufenen Besitz zurückzubringen – und dennoch schlich sich ein unglücklicher Ausdruck auf seine Züge.
    "Na jedenfalls ist sie mir entwischt. Deine Mama ist vielleicht ein wenig eigen und manchmal etwas naiv, aber nicht blöd. Vor allem aber hat sie ein gutes Herz. Später hat sie mir dann nämlich, als es mir schlecht ging, trotzdem geholfen, obwohl ich ihr nichts Gutes wollte ..." Warum auch immer. Er hätte sich an ihrer Stelle sofort davongemacht. Nachgelaufen wäre er ihr damals bestimmt nicht.
    "… Und da habe ich ihr versprochen, dass ich sie gehen lassen würde. Als Dank. Und von da an … da haben wir uns angefreundet. Es war eine seltsame Zeit, weißt du? Nach dem Krieg. Da war jede Art von Ablenkung besser als gar keine. Und immer wenn ich sie getroffen habe, da habe ich mich nur halb so verkorkst gefühlt wie sonst, weil sie mindestens so verkorkst war wie ich. Oder eigentlich noch viel schlimmer." Er seufzte leise. Nein, er erwartete nicht, dass jemals irgendein Schwein verstehen würde, weshalb er getan hatte, was er getan hatte. Genau deshalb erzählte er es Lucius vermutlich auch jetzt, einfach nur um so tun zu können, als hätte er es ihm gesagt, selbst wenn er sich später an nichts davon erinnern würde.
    "Deine Mama war Sklavin", sagte er zum ersten Mal eindeutig und klar, ohne Umschweife, "Sie war Sklavin und ist ihrem Herrn davongelaufen." Und er hatte sie laufen gelassen. So oft, bis er sie so sehr gemocht hatte, dass er nicht einmal mehr einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass er sie all die Male hätte einfangen können.
    "Und sie hat sich ständig in irgendwelche Schwierigkeiten gebracht. Anfangs habe ich ihr geholfen, weil sie mir damals geholfen hat. Aber irgendwann konnte ich gar nicht mehr anders."
    Avianus' Blick war, während er erzählt hatte, in den Hortus hinausgeglitten und als er ihn nun wieder zu Lucius hinab senkte, stellte er fest, dass sein Sohn stumm und mit großen Augen zu ihm aufsah und das wohl schon zuvor eine ganze Weile getan hatte, als hätte er den veränderten Ton in der Stimme seines Vaters registriert. Ganz bestimmt sogar hatte er das, selbst wenn er nicht jedes Wort verstand.
    "Das ging jahrelang so … mal habe ich jemanden vertrieben, der ihr wehgetan hat, habe ihr irgendwo ein Zimmer besorgt …" Würde er die Geschichte in ihrer ganzen erzählen, säßen sie übermorgen noch in der Exedra. "Dann haben wir uns einmal aus den Augen verloren und erst nach langer Zeit wiedergefunden … irgendwann dann habe ich dafür gesorgt, dass sie bei mir leben kann. Und da kamst dann du ins Spiel. Sie hat es mir lange verschwiegen, dass sie ein Kind bekommt, weil ... ehrlich gesagt ... ich weiß es gar nicht. Sie hat wohl gedacht, ich würde dich nicht wollen oder so. Oder dass ich sie fortschicken würde. Frag' mich nicht." Er schenkte seinem Zwerg ein schiefes lächeln, das nur kurz darauf wieder verblasste. "Um ehrlich zu sein ... ich wusste zu Beginn tatsächlich nicht so recht, was ich mit euch beiden machen sollte", gestand er und lächelte nur kurz darauf wieder. "Aber dich loswerden? Einen Iunius?! Eher würde ich mir die Hand abschneiden, als einen unschuldigen, kleinen Iunius zu töten."
    Lucius blickte als Antwort nur unschlüssig zurück.
    "Sieh mich doch nicht so an ... ja gut, ich sag sowas nie wieder."

  • Mit jedem Satz, der aus der Exedra drang, wurde Agricola mulmiger zumute. Was ihm da zu Gehör kam, hatte herzlich wenig mit den iunischen Vorfahren zu tun. Vielmehr handelte es sich um Dinge, die nicht für seine Ohren bestimmt waren und ihn schlichtweg nicht das geringste angingen. Mittlerweile bereute er es, seine Eimer nicht einfach mit einem knappen Gruß an Vetterchen und Onkel vorbei in die Küche geschleppt zu haben. Sicher, er hätte sich noch immer unbemerkt davonschleichen können, an den Servitricia entlang hinüber zum Tablinum, nur wollte er das jetzt gar nicht mehr, denn so peinlich es ihm auch war, den intimen Erzählungen seines Patruus zu lauschen, so faszinierend fand er es gleichzeitig. Dass er über alles Gehörte schweigen würde wie ein Grab, verstand sich dabei von selbst. Immerhin hatte er sich ohne unlautere Absichten in diese ungemütliche Lage gebracht.


    Sibel war also nicht die Tochter eines Ingenuus, wie er bislang angenommen hatte, sondern eine ehemalige Serva; und Avianus wiederum hatte ihretwegen eine ganze Reihe von Befehlen und Dienstvorschriften ignoriert. Das waren zweifellos ein paar weitere trübe Flecken auf der Familiengeschichte. Andererseits war das Verhältnis der beiden spätestens durch ihre Eheschließung legitimiert worden. Oder etwa nicht? Sibel war nun eine verheiratete Liberta und Mutter eines freien Römers, und Avianus hatte seine dienstlichen Verfehlungen offenbar geschickt genug vertuscht, um trotz allem zum Tribunus aufzusteigen. So gesehen hatten die Eheleute also einfach verdammt viel Glück gehabt, und wenn dieses pikante Detail nicht an die Öffentlichkeit gelangte, würde ihnen auch niemand einen Strick daraus drehen. An ihm, dem unfreiwilligen Lauscher, sollte es jedenfalls nicht liegen. Ihm gefiel diese Geschichte. War sie doch ein Beleg dafür, dass sich Avianus und Sibel – ganz im Gegensatz zu seinen eigenen Eltern – in aufrichtiger Zuneigung verbunden waren. Möglicherweise war da sogar Liebe im Spiel. Nicht, dass er viel davon verstand. Aber er hatte darüber gelesen. Liebe konnte den ernsthaftesten Mann im Handumdrehen in einen Trottel verwandeln und ihn zu Handlungen verleiten, auf die er bei gesundem Geist im Traum nicht gekommen wäre. Was das betraf, herrschte unter den Autoren weitgehend Einigkeit. Für Agricola war das nichts. Er hatte seine ganz eigenen Nöte mit der geistigen Gesundheit, da konnte er auf zusätzliche Heimsuchungen wie Liebe gut und gerne verzichten. Mit Leidenschaft war das natürlich was ganz anderes. So unbedarft, diese beiden Begriffe durcheinander zu bringen, war er nun auch wieder nicht.


    Seine Gedanken begannen abzuschweifen, wanderten durch den Porticus zur Culina, wo Aesara drall und schwitzend ihrer Arbeit nachging. Auch sie war eine Serva, und was in ihm vorging, wenn er seine Blicke an ihren Rundungen weidete, hatte gewiss so einiges mit Leidenschaft zu tun. Dennoch wäre er nie auf den Gedanken verfallen, sich mit ihr auf etwas einzulassen, was über das Stillen quälender Gelüste hinausging, und von Liebe konnte in diesem Fall schon gar nicht die Rede sein. Vielleicht verhielt es mit der Liebe wie mit der Trunksucht. Manche Männer, so sagte man, waren nun mal anfälliger für solche Schwächen als andere. Wenn Avianus zu dieser Sorte gehörte, erklärte das so mancherlei. Zu gönnen war es ihm allemal und für den kleinen Lucius konnte es nur ein Segen sein, als Spross zweier sich liebender Eltern aufzuwachsen. Es sei denn, irgendwelche dünkelhaften Armleuchter würden ihm eines Tages die Herkunft seiner Mutter zum Vorwurf machen. Für Idioten wie Iturius Geta zum Beispiel wäre das, was Avianus seinem Söhnchen eben anvertraut hatte, ein gefundenes Fressen. Schon deshalb durften diese Einzelheiten die Domus Iunia nicht verlassen.


    Besser, er machte sich jetzt davon. Er hatte er bereits genug gehört. Zudem ging ihm Aesara, nun wo sie in seine Gedanken geraten war, nicht mehr aus dem Schädel. Wahrscheinlich wartete sie sogar auf ihn oder zumindest auf ihre leeren Eimer. Nur – was, wenn sein Patruus noch mehr Verfängliches preiszugeben hatte? War es da nicht Agricola’s Pflicht, sich über alles in’s Bild zu setzen, was der Familie gefährlich werden konnte? Blödsinn, befand er nach kurzem Nachdenken. Seine Pflicht war es, stets Haltung zu bewahren, sein Wissen zu mehren und Karnickel und Köter zu füttern. Ende. Nichtsdestotrotz verharrte er in seinem schattigen Versteck. Auf ein paar gestohlene Sätze mehr oder weniger kam es schließlich auch nicht mehr an.

  • Umso besser, dass gar niemand sich irgendetwas abschneiden musste. Die Lage hatte sich ganz ohne fehlende Gliedmaßen zum Guten gewandt, dachte Avianus sich breit grinsend. Klar hatte es kleinere und größere Opfer gegeben, die schienen aber längst unbedeutend im Vergleich zu dem, was er gewonnen hatte, zumindest wenn ihre Situation so blieb wie jetzt. Natürlich, keiner konnte das garantieren, doch Avianus würde alles versuchen, dass sie weiterhin ihr Glück genießen konnten.
    "Also … das wichtigste ist, dass deine Eltern dich sehr lieben. Wir … oder zumindest ich habe gar nicht damit gerechnet, dass bei all dem Theater am Ende trotzdem etwas so tolles herauskommen würde." Zufrieden sah er, wie Lucius' Miene sich wieder aufhellte. Allerdings wurde der Junge auch langsam unruhig auf seinem Schoß. Herumsitzen und Geschichten lauschen ... um den Zwerg auszulasten, reichten derartige Beschäftigungen längst nicht mehr aus. Avianus setzte den Wonneproppen vor seinen Füßen ab. Der hangelte sich mit seinem Pferdchen in der Hand am Sessel hoch, wo er wackelig stehen blieb.
    "Und bisher hat mir auch noch niemand Probleme gemacht. Wegen deiner Mama und mir, meine ich. Es weiß ja auch fast keiner davon. Nicht einmal alle hier im Haus. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen ..."
    "Dah", grinste der kleine und drehte sich schwankend zum Hortus, während eine Hand sich immer noch an den Sessel klammerte. Ob er überhaupt noch zuhörte war fraglich.
    "Aber genau deshalb darf eben auch keiner davon erfahren. Niemand, hörst du? Das gefährlicher als du es dir vorstellen kannst. Jetzt stehen dir nämlich alle Wege offen, aber wenn das rauskäme, das würde alles kaputtmachen", erzählte Avianus zurückgelehnt weiter vor sich hin, nicht einmal unbedingt nur an Lucius gewandt, sondern auch zu sich selbst. Denn der Knirps hatte gerade anderes im Sinn, als sich weiterhin das endlose Gefasel seines Tata anzuhören. Lucius ließ den Sessel los, tappte auf wackeligen Beinen zwei Schritte, landete wieder auf Händen und Knien, das kleine Holzpferd hüpfte über den Boden und blieb ein Stückchen von Lucius entfernt liegen.
    "Und deine Mama würde das sehr unglücklich machen, denn sie glaubt sowieso schon, dass sie mir nur im Weg steht, und wenn dann ihre Vergangenheit auch noch deine Zukunft verbauen würde. Deswegen ist es mir inzwischen eigentlich auch lieber, wenn sie im Haus bleibt … oder draußen auf dem Land. Weil … naja, sie damals als Sklavin sehr viele verschiedene Männer … bedienen musste. Und wenn einer von denen sie wiedererkennen würde … das wäre nicht gut. Früher habe ich sie noch auf Feste mitgenommen, weißt du? Aber damals wusste ich auch nicht, dass ich sie heiraten würde ..."
    Sein Sohn unterdessen krabbelte, hob das bemalte Spielzeugpferdchen, das nun ein paar Kratzer mehr besaß, auf und steckte es in den Mund. Sowie er dann den Blick hob, fand er sich nur wenige Schritte vom Hortus entfernt wieder, und gar nicht weit entfernt von einer seltsamen Gestalt, die sich an die Wand der Exedra drückte. Mit großen Augen blieb Lucius am Holzpferd lutschend sitzen, musterte erst den seltsamen Burschen und blickte dann zurück in die Exedra.
    "Ah wawa gagaba dada", brabbelte er über die Schulter zu seinem Vater.
    "Wie? Du hast schon wieder Hunger?", verstand der wiederum vollkommen falsch, was sein kleiner Sohn ihm eigentlich mitteilen wollte.

  • Genug. Es reichte. So hatte sich Agricola das nun wirklich nicht vorgestellt. Der Gedanke, dass gerade er, dem seine eigenen Geheimnisse heilig waren, sich lauschend in dunklen Ecken herumdrückte wie ein schwatzhafter Haussklave, war so absurd wie unerträglich. Das hatte er nicht gewollt. Nur um Geschichten über die iunischen Ahnen war es ihm gegangen und ganz gewiss nicht darum, sich Wissen anzueignen, das ihm nicht zustand. Bedrückt fummelte er sich seine Sandalen von den Füßen und schlich dann auf Zehenspitzen den Porticus entlang. Weil sie als Sklavin sehr viele verschiedene Männer bedienen musste – rumorte es in seinem Kopf. Was sollte das nun wieder bedeuten? Vermutlich gar nichts, redete er sich ein, Servae bedienten nun mal. Wozu sonst waren sie da? Warum aber hatte Avianus nur von Männern gesprochen, noch dazu in diesem zögerlichen Tonfall?


    Nachdem er sich bei den Servitricia um die Ecke gedrückt hatte, gestattete sich Agricola endlich ein paar verhaltene Flüche. Das hatte er nun davon! Den summenden Kopf voll mit Andeutungen und unbequemen Wahrheiten, und keine Möglichkeit, das Aufgeschnappte zu hinterfragen. Und das war noch nicht das Schlimmste, wie ihm auf dem Weg zum Triclinium klar wurde. In diesem Fall bedeutete Wissen auch Verantwortung. Selbstverständlich würde er keiner Menschenseele gegenüber – mit Ausnahme von einer – jemals ein Wort darüber verlieren. Aber Verschwiegenheit allein war noch kein angemessener Preis für das erschlichene Wissen. Der kleine Lucius sollte es später einmal leichter haben als sein Vetter. Dem würde keiner mit Herablassung begegnen oder ihn mit ehrlosen Schmähbriefen kränken, zumindest nicht ungestraft. Nicht, solange Agricola es verhindern oder es zumindest ahnden konnte. Dieser ganze scheinheilige Abstammungsdünkel widerte ihn schon lange an, und seit dem unverschämten Brief seines Vetters Appius hegte er endgültig einen Groll gegen derlei sinnfreie Konventionen. Gewiss, seine Ahnen waren ihm wichtig, gleichzeitig fand er aber auch, dass ein Mann in erster Linie an seinen Taten gemessen werden sollte, nicht so sehr an seinen Vorfahren. Dieser Gedanke wiederum führte ihm einmal mehr vor Augen, dass er rein gar nichts vorzuweisen hatte.


    Welche ruhmreichen Taten vollbrachte er denn, außer zu lesen, zu lauschen und das Getier zu verköstigen? Die Viecher brauchten ihn nicht. Denen war es gleich, wer sie fütterte. Und wie war es mit den Iunii? Die stets beschäftigte Axilla bekam er so gut wie nie zu Gesicht und mit ihren eigenbrötlerischen Söhnen konnte er nichts anfangen, von denen brauchte ihn schonmal keiner. Dann waren da Crassus und Marsa. Die waren in letzter Zeit meist mit sich selbst beschäftigt und hatten momentan wenig Verwendung für einen blassnäsigen Schriftrollenwurm als Spielgefährten. Blieben noch Sibel, Avianus und Lucius. Es kam ihm beim besten Willen nichts in den Sinn, womit er Sibel hätte helfen können, zumal jetzt, wo er wusste, welche Last sie mit sich herumschleppte. Was sollte er da machen? Sie aufheitern? Ausgerechnet er, die Trübsal in Person? Sibel brauchte Zeit und Ruhe, keinen unbeholfenen Faxenmacher. Avianus? Der brauchte ihn auch nicht. Dem nutzte er wohl am besten damit, ihm nicht zu schaden. Nur Lucius konnte er möglicherweise eine Hilfe sein, wenn schon nicht jetzt, dann vielleicht später. Es war ja nicht so, dass er den kleinen Stinker tatsächlich so wenig ausstehen konnte, wie er immer vorgab. Lucius war einfach ein paar Monate zu früh hier aufgetaucht oder er selbst zu spät, je nachdem, wie man es sehen wollte. Natürlich wäre es schön gewesen, den Onkel noch eine Weile für sich alleine zu haben, aber gut, es war nun mal wie es war. Schwamm drüber, oder wie Horatius Flaccus es ausdrückte: Levius fit patientia, quidquid corrigere est nefus.


    Auf halber Höhe des westlichen Porticus zwischen Triclinium und Tablinum trat Agricola wieder in den brütenden Hortus hinaus und verbrannte sich sogleich die Fußsohlen auf den glühend heißen Kieseln. Seine zusammengeschnürten Sandalen ließ er trotzdem weiter über der Schulter baumeln. In Cales hatte er an solchen Sommertagen seine Schuhe gar nicht erst mitgenommen, wenn er mit Appius und Manius zu den Hügeln aufgebrochen war. Ein paar Monate Rom konnten ihn wohl kaum so restlos verweichlicht haben, dass er nicht einmal mehr heißes Kies ertrug. Mit zusammengebissenen Zähnen aber mannhaft ausschreitend durchquerte er den Hortus erneut, nahm diesmal keinen Schleichweg durch die Büsche, sondern marschierte geradewegs auf die schattige Muschel der Exedra zu, wo sich langsam die Umrisse des strahlenden Lucius und seines lächelnden Vaters abzuzeichnen begannen.


    „Sieh da.“, flötete er aufgeräumt, „Patruus und Patruelis. Salvete die Herren. Hat einer von euch zufällig meine Futtereimer gesehn’? Die Hitze macht mich ganz konfus.“

  • "Du kannst gar keinen Hunger haben, nanulus", meinte Avianus zu seinem Sohn, "Aesara meinte, du hast eben erst gegessen. Und wir wollen ja nicht, dass du fett wirst, nicht wahr?" Er beugte sich in dem Sessel nach vorne, um seinen Sohn etwas eindringlicher anzuschauen. "Fette Burschen geben nämlich schlechte Soldaten ab, weißt du?" Lucius erwiderte den Blick seines Vaters mit seinen unglücklichen Kulleraugen und ohne die leiseste Ahnung, was sein Tata da eigentlich schwafelte. Avianus lächelte. War ja auch zu witzig, wie der Zwerg guckte. Lucius quiekte und spielte weiter mit dem Pferd herum. Während er so abwechselnd mit dem geschnitzten Holzstück herumfuchtelte und daran lutschte, fiel sein Blick wieder auf die Wand, an der er zuvor noch den Schemen wahrgenommen hatte, der aber ganz plötzlich weg war. Lucius machte einen erstaunten Laut und sah wieder zum Vater, der noch immer keine Anstalten machte, dem seltsamen Phänomen auf den Grund zu gehen, obwohl er doch vorher schon darauf aufmerksam gemacht hatte. Lucius quiekte erneut und deutete mit dem Pferd fuchtelnd auf die Stelle, wo er vor kurzem noch ganz bestimmt den Schatten gesehen hatte.
    "Nein, nanulus. Nein."
    Lucius verzog das Gesicht. Ein leises Schluchzen hallte durch die Exedra, und kurz darauf ein Seufzen. "Ich mein das doch gar nicht so … aber das ist doch kein Grund zum Heulen, Lucius", packte er seinen besten väterlichen, gutmütigen Ton aus, "Wir können nachher noch raus in den Hortus. Würde dir das gefallen?"
    Kaum dass Lucius anschließend wieder in Lächeln auf den Lippen hatte, kam auch schon der werte Neffe um die Ecke. Hatte der sich doch tatsächlich mal aus den Büchern raus statt immer nur weiter rein gewühlt.
    "Caius …!"
    "Gauuuh", machte Lucius.
    "Wie schön dich zu sehen."
    Der kleinste Iunius der drei beobachtete seinen Vetter skeptisch. Allzu oft bekam er den Burschen ja nicht zu Gesicht, und folglich wusste er mit dem Kerl auch nicht allzu viel anzufangen.
    "Das ist dein Cousin Agricola."
    "Aggiih …" Lucius brach ab und blickte verwirrt. "Ahgi …" Viel zu kompliziert der Name. Ahgi. Viel besser.
    "Ja. So ungefähr", kommentierte Avianus, "Also deine Eimer … die hab ich nicht gesehen." Wieso auch. In der Culina hatte er nichts verloren, wie Aesara bestimmt sagen würde. War wohl auch besser so. Mehr als irgendeinen zusammengepanschten Eintopf zusammenzurühren wäre bei ihm auch nicht drin.
    Lucius, der inzwischen kapiert hatte, dass sein Vater nicht um die seltsamen Erscheinungen in der Domus kümmern würde, begab sich selbstständig auf Reisen, griff sich seinen treuen Gefährten, das Holzpferd, und krabbelte tapfer um die nächste Ecke.
    "Was machen denn deine Studien?", fragte der Patruus seinen Neffen eher beiläufig und hatte den Sohn dummerweise einen Moment zu lange aus den Augen gelassen.
    "Lucius! Verflucht."
    Mit noch größeren Augen als sie es von Haus aus schon waren, betrachtete der Junge seinen Fund. Eigenartig. Der Schatten weg, aber stinkige Holztöpfe da. Lucius steckte eine Hand in den miefigen Kübel. Leer auch noch. Naja, fast. Neugierig guckte Lucius auf die schmierige Pampe, die an seinen Fingern klebte, ehe er plötzlich von hinten geschnappt wurde, und seinem Vater gegenüber stand, oder besser, hing.
    "Dada", machte Lucius und streckte Avianus die verschmierte Kinderhand entgegen. Er hatte doch gewusst, dass da was nicht stimmte. Aber ihm glaubte ja wieder mal kein Schwein.
    "Caius … deine Eimer." Wieso die ausgerechnet hier bei der Exedra herumstanden und weshalb sein Neffe das nicht selbst gemerkt hatte, fragte Avianus vorerst gar nicht.

  • Gab es eine größere Wohltat als sich die verbrannten Fußsohlen auf dem Steinboden zu kühlen? Agricola kam im Moment jedenfalls keine in den Sinn. Vielleicht sollte er das öfter machen. Da fühlte man sich so lebendig. Etwas Bewegung an der frischen Luft, musste er zugeben, hatte schon was für sich. Auch wenn man den schwülen Brodem im Hortus nun wirklich nicht als frisch bezeichnen konnte und obgleich man hier draußen gelegentlich auf Leute traf. Nicht, dass ihm das grundsätzlich zuwider war, er wurde nur nicht gerne beim Sinnieren gestört und wollte auch seinerseits niemanden stören. Onkel und Vetter indes machten nicht den Eindruck als störe er sie bei irgend etwas. Die wirkten lediglich etwas überrascht, ihn hier zu sehen. Avianus – mit seinen Ausführungen offenbar zu Ende – stellte seinen Neffen wieder einmal vor. Verkehrt war das nicht, wenn man bedachte, wie selten sich die Patrueles bislang begegnet waren. Und wie unter diesen Umständen auch nicht anders zu erwarten tat Lucius sich denn auch schwer mit dem Cognomen seines Vetters. „Ahgi?“ Agricola runzelte die Brauen. „Ernsthaft? Ahgi? Hmm .. wie wär’s denn mit Caius?“, schlug er vor. „Caius? Caaaaius. Nö?“ Der Kleine spielte nicht mit, vermutlich weil ihm auch das Praenomen noch zu gestelzt war. „Na schön.“ gab Agricola schließlich nach. „Naturalia non sunt turpia. Dann eben Ahgi.“ Lucius schien damit zufrieden und robbte kommentarlos davon.


    Agricola dagegen rührte sich nicht von der Stelle, schmunzelte nur versonnen vor sich hin und ließ sich die Kühle des glatten Bodens von den Füßen über den Rumpf bis unter die Schädeldecke steigen. Dass sein Onkel die Futtereimer nicht gesehen hatte, war klar und bedurfte keiner Entgegnung. Die Frage nach dem Stand seiner Studien konnte er nicht so einfach übergehen, zumal es eine verdammt gute Frage war. Tja, was machten seine Studien? Klüger machten sie ihn, so hoffte er zumindest, ganz sicher war er sich da aber selbst nicht. In erster Linie boten sie ihm Ausreden für alles mögliche, dessen war er sich durchaus bewusst.


    „Meine Studien ..“, murmelte er verhalten, „.. naja .. wie man’s nimmt. Für jede Wissenslücke, die ich schließe, tun sich zwei neue auf. Manchmal denk ich .. ich werd immer blöder.“ Ob Avianus überhaupt zugehört hatte, durfte bezweifelt werden. Jedenfalls fuhr er plötzlich hoch und machte einen Satz um die Ecke. Agricola schnaufte frustriert. Sollten sie ihm doch alle mal den Buckel runterrutschen! Die ganze Sippschaft! Da sprang man kühn über seine Schatten und ließ sich endlich mal auf einen entspannten Plausch ein, und was tat der ehrwürdige Tribunus? Anstatt den zaghaften Annäherungsversuch seines Neffen zu würdigen benahm er sich wie der letzte Flegel. Nun gut. Wenigstens wusste Agricola nun endgültig, woran er war. Um den arglosen kleinen Lucius würde er sich kümmern, wenn es nötig werden sollte, der Rest konnte ihm erstmal gestohlen bleiben. Damit, dass Lucius seine Unterstützung so schnell in Anspruch nehmen würde, hatte er allerdings nicht gerechnet. Ein Blick um die Ecke genügte, um zu erkennen, dass sein Vetterchen auf die dreckigen Eimer gestoßen war. Offensichtlich stolz über seinen Fund hielt Lucius dem staunenden Vater seine winzigen Hände entgegen, die über und über mit den rotzartigen Hinterlassenschaften angegammelter Kaldaunen besudelt waren.


    Agricola war sofort zur Stelle. Allein schon die bloße Vorstellung, dass Lucius sich den stinkenden Brei von den Fingern lecken könnte, machte ihn würgen. Avianus’ überflüssigen Hinweis auf die wiedergefunden Eimer ignorierend kniete er sich neben den quietschvergnügten Vetter auf den Boden und machte sich daran, dessen vollgeschleimte Händchen mit einem Zipfel seiner Tunika abzuwischen. „Meine Schuld.“, gestand er offen ein, „Aber das kriegen wir schon wieder weg. Lass Ahgi mal machen.“ Ahgi machte. Und er machte es gründlich. Erst als die Tunika mit Dutzenden Abdrücken kleiner graubrauner Hände verunziert war, gab er sich mit dem Ergebnis seiner Mühen zufrieden. „So, schon besser, oder? Und die Tunika geben wir einfach Agnodice zum Waschen mit. Problem gelöst.“

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