Axilla wusste nicht, wie lange es dauerte, den Schmutz von der Statue zu bekommen. Aber irgendwann war alles eingeseift und abgeschrubbt, und der blanke, graue Stein erstrahlte in alter Schlichtheit. Die Reste des mittlerweile kalten Wassers wurden kurzerhand über die Statue geschüttet, um die Seifenreste abzuwaschen.
Axilla fror. Hier draußen war es kalt, und mittlerweile hatte es immer wieder geregnet. Feiner Sprühregen, der kalt überall hinwaberte und einem in Mark und Bein fuhr. Aber dennoch wollte sie noch nicht hinein gehen und sich aufwärmen. Irgend etwas ließ sie hier verharren, bei der tropfenden Statue, die sie noch immer so unbegreiflich anblickte und wartete.
“So, Gottheit, du bist wieder sauber. Ein bisschen nass noch hier und da, aber sonst wieder wie neu. Ist es so besser?“
Natürlich antwortete die Statue nicht. Sie war aus Stein, wie sollte sie? Axilla erwartete auch keine Antwort, sie wollte nur nicht hier in aller Stille dastehen und auf etwas warten, von dem sie selbst nicht wusste, was es war. Vielleicht Godotus.
Ein paar Wassertropfen liefen an den steinernen Wangen entlang und sammelten an dem kurzen Bart zu dicken Tropfen. Axilla sah es eher unterbewusst, und ohne darüber nachzudenken, trat sie näher an die Statue und tupfte sie mit dem Ärmel ihres Kleides weg. Auch ihm Haar und an den Hörnern waren noch einzelne tropfen, und Axilla lehnte sich gegen die Statue, um auch diese wegzutupfen. So nah fühlte sie die Kälte, die der Stein in sich gespeichert hatte. Das war keine warme Haut, es war winterlicher Stein.
“Du bist kalt, Liebster“, meinte sie halb verträumt und sah von den Haaren hinunter in das steinerne Gesicht, das nun direkt vor ihr war. Sie bewegte sich nicht zurück, stützte sich weiter mit einer Hand an seiner steinernen Schulter ab. Mit der anderen hatte sie die Tropfen weggewischt, und jetzt, wo sie nichts mehr zu tun hatte, fuhr sie einmal fast zärtlich über die raue und kalte Wange, als wäre das hier wirklich ihr Liebster. Ein lautloses Seufzen entfuhr Axillas Körper. “Es könnte wirklich schön sein, wenn du lebendig wärst. Wenn du mich ansehen würdest.“
Sie bewegte sich einmal leicht seitlich, so dass der steinerne Blick sie traf, und dieses ewig hintergründige Lächeln nun auf ihr ruhte. Noch einmal streichelte sie über die Wange, aber die Statue blieb aus Stein.
“Weißt du“, begann sie mit belegt leiser Stimme, “ich hab schon oft von dir geträumt. Als ich noch ganz klein war und den Geschichten von dir gelauscht habe. Von Arkadien, deiner Heimat. Ich hab mir dann vorgestellt, wie es wäre, wenn du mich dorthin entführst, in die dichten Wälder.“
Ihr blick, auf seine Brust zwar gerichtet, hatte sich in weiter Ferne verloren. Es war lange her, dass Axilla an Arkadien gedacht hatte. Sehr lange. Es war so etwas wie ein Abenteuerplatz, und gleichzeitig eine Flucht. Wenn es ihr zuhause zuviel geworden war mit der Krankheit ihrer Mutter und die in sie gesetzten Erwartungen, wenn ihr Vater so unendlich weit weg gewesen war, dann war sie einfach gelaufen, durch Wiesen und Felder in den Wald, und hatte sich dort einen Baum gesucht, um darauf zu klettern. Dann war sie auch in ihrem ganz persönlichen Arkadien gewesen, der Heimat des Pan und der Nymphen, der Unsterblichen schlechthin. Im ewigen Zeitalter des Saturn, wo es sowas wie gesellschaftliche Zwänge nicht gab. Kein 'Du musst'. Auch wenn es dort gefährlich war und viele Monster gab wie die stymphalischen Vögel. Das Land der Abenteuer eben.
“Ist es dort wirklich, wie man es sich erzählt? Mit den hohen Bergen und den tiefen Schluchten, und den Silberbächen? Sind dort wirklich noch die Nymphen?“ Wieder ein stilles Seufzen, und sie legte ihren Kopf an die Statue. Es war sehr kalt, und nichts wäre jetzt schöner gewesen, als wenn der Gott erwacht wäre und sie warm umarmt hätte. Im Moment fühlte sich Axilla so entsetzlich einsam. “Im Moment würde ich mich wirklich dorthin wünschen. Wenn die Satyrn dann ihre Zaubermusik spielen, würd ich nur zu gern alles vergessen. Kannst du mich nicht vielleicht doch dorthin führen?“ Sie drehte leicht den Kopf, um ins Gesicht ihres Pans zu sehen, aber der lächelte nur weiter still vor sich hin. Axilla legte sanft eine Hand auf seine Wange und streichelte den Stein, aber er sah nicht zu ihr herunter. Und doch half es ein wenig, nicht gänzlich einsam zu sein.
Einem inneren Impuls folgend änderte sie dann ihre Position. So schief stehend war es unbequem, und so kletterte sie der sitzenden Statue auf den Schoß, lehnte ihren Rücken leicht gegen seine Brust und legte ihren Kopf an seine Schulter. Sein Arm ging an ihr vorbei, hielt er dort doch die Flöte, und Axillas Blick folgte den steinernen Konturen bis hin zu der Syrinx. Auch wenn der Stein nach wie vor schrecklich kalt und darüber hinaus nicht ganz trocken war, Axilla fühlte sich besser so. Oder zumindest nicht mehr ganz so entsetzlich.
Sie schmiegte sich in die angedeutete Umarmung und streichelte mit ihrer Hand über den Arm, der die Flöte hielt. “Erinnerst du dich an das Gefühl? Ich meine, als du sie geliebt hast? Als sie sich dann verwandelt hat, um dir zu entkommen?“ Damit meinte Axilla die Nymphe Syrinx, die vor Pan geflüchtet und sich in Schilf verwandelt hatte, um ihm zu entkommen. Der Gott hatte aus ihr seine Flöte gemacht, um sie und ihre liebliche Stimme bei sich zu haben. “Ich glaube, ich kenne das Gefühl. Kein schönes Gefühl.“
Sie ließ ihre Hand sinken und verschränkte ihre Arme vor ihrem Bauch, um so die Wärme etwas zu halten. Ihren Kopf ließ sie seitlich gegen Pans Brust sinken und starrte ins nichts vor sich. “Weißt du... ich weiß ja auch nicht, was ich gedacht habe. Es war nur... wenn er da war, dann war alles schön und gut und... Ich meine, er hat mich zwar die meiste Zeit nur angeschrien, oder wieder zurechtgestutzt. Eigentlich hatte er ja kaum ein liebes Wort für mich gehabt. Und doch... weißt du... dieser eine Kuss in der Bibliothek, dieser eine kurze Moment! Das war...“
Axilla hatte nicht die richtigen Worte, um das zu beschrieben, was sie fühlte. Aber sie war sich sicher, dass Pan sie verstand, und sie ließ das Gefühl einfach einen Moment so weit anschwellen, bis ihre Brust davon zu platzen schien, ehe sie mit einem stillen Seufzen zurücksank.
“Es war so schön. Aber für ihn... Und trotzdem wünschte ich mir, dass er sich doch auch in Schilf verwandelt hätte, damit ich ihn bei mir haben kann. Einfach nur bei ihm sein. Aber er....“
Wieder ein Seufzen und ein Blick in den Garten, wo der Regen schon eine Weile wieder aufgehört hatte und langsam Tropfen von den Dächern hinunterfielen. “Aber für ihn... weißt du... er hat eine andere geküsst. Also, so richtig geküsst. Und ich glaub auch, dass das mehr ist. Ich meine, mich würde es ja nicht einmal stören, wenn er eine andere... eine Lupa oder so... Männer sind so, aber... sie ist eine Vinicia. Verstehst du? Eine Vinicia. Nicht irgendwer. Vinicius Hungaricus war LAPP von Germania. Und dieser andere, dieser... Lucanus, der ist ja auch Senator. Das ist jemand, der wichtig ist. Sie... sie ist jemand, den er heiraten könnte. Und wie er sie gehalten hat...Und geküsst... Und er hat ihr gesagt, dass ich ein niemand wäre. Verstehst du? Er... ich bedeute ihm nichts. Gar nichts. Der Kuss in der Bibliothek, das war... nichts. Als hätte es ihn gar nicht gegeben.“
Axilla merkte, dass sie anfing, zu weinen. Schnell wischte sie die Tränen weg, und peinlich berührt lachte sie einmal kurz freudlos auf. “Und jetzt sitze ich hier wie Psyche und lasse mich von dir trösten“ Sie schüttelte den Kopf, wischte sich noch einmal über das Gesicht und atmete einmal tief durch.
Das war albern. Sie wusste es. All das hier war albern. “Aber du nimmst mich nicht mit dir nach Arkadien, um dem zu entfliehen, nicht?“ Keine Antwort von dem Stein, nur dieses Lächeln, das Axilla ein trauriges Schmunzeln aufs Gesicht zauberte.
“Nein, dass hier ist nicht Arkadien. Ich weiß. Und ich sollte mich nicht hinwünschen. Ich brauche wieder einen Mann, ich weiß. Seneca hat recht, er sollte... ich sollte nicht etwas anderem nachtrauen.“
Sie ließ sich wieder zurücksinken gegen den Stein und blickte weiter hinaus in den trostlosen Wintergarten. “Es regnet wieder...“ stellte sie resignierend fest und blieb noch eine Weile sitzen, ihren Gedanken nachhängend. So langsam wurde es schon wieder dunkel, und es wurde noch ein wenig Kälter und ungemütlicher.
Axilla rutschte etwas von Pan weg, schüttelte noch einmal den Kopf. Ein trauriger Gedanke huschte durch ihren Geist. Es war deprimierend, dass der einzige, mit dem sie über ihre Gefühle reden konnte, ein Gott war, der nicht antworten konnte. Sie drehte sich dem Steingesicht zu und gab ihm einen sanften Kuss auf die kalte Wange. “Danke fürs zuhören“ meinte sie leise, ehe sie aufstand und hinein ins Wärmere ging.