Unschlüssig betrachtete Gracchus die Türe vor ihm und während er in diese Betrachtung der feinen Maserung des Holzes versunken war, überkam ihn die Erkenntnis, dass er dies in der letzten Zeit gehäuft tat, dieses Betrachten von Türen von Außen, das Verharren davor und doch nicht Hindurchschreiten. Manches mal tat er dies vor Aquilius' Türe, nur um sich bald betrübt einzugestehen, dass Aquilius nicht dahinter wartete, dass er Rom verlassen hatte und nicht einmal Briefe schrieb, wann oder ob sie sich wieder sehen würden. Manches mal tat er dieses Betrachten an der Türe des Arbeitszimmers seines Vetters Felix, im Hinterkopf das Ansinnen, diesen über die Geheimnisse der Ehe zu befragen, er hatte es immerhin zustande gebracht, aus der seinigen zwei Söhne zu gewinnen, doch ein jedes mal wurde sich Gracchus alsbald darüber bewusst, dass er mit Felix nicht über solcherlei private Dinge würde sprechen können. Mit Aristides womöglich, dieser hatte es ebenfalls geschafft, zwei Kinder zu zeugen, doch jener war bereits wieder in Mantua. Am Häufigsten jedoch führte ihn seine nachdenkliche Betrachtung vor das Zimmer seiner Gattin, um darin seiner ehelichen Pflicht nachzukommen, doch immer wieder verließen ihn Mut und Hoffnung und er kehrte der Tür zu seinem Erben den Rücken. Dass er nun die Türe zu seiner Base Leontia anstarrte, dies war eine direkte Folge dieser Unfähigkeit, die Türe zu seiner Gattin zu durchschreiten. Gracchus musste mit jemandem darüber sprechen. Obwohl er sich nicht sicher war, ob Leontia dafür geeignet war, so wusste er doch niemanden, der ihm sonst womöglich weiterhelfen konnte. Es war ihm ein dringendes Anliegen zu ergründen, was eine Frau sich von einer Ehe erwartete und Leontia war eine Frau. Natürlich hätte er seine Schwestern befragen können, doch Agrippina war in Belangen der Ehe völlig ungeignet und Minervina kannte Gracchus beinahe noch weniger als seine Ehefrau, falls dies überhaupt möglich war. Es wäre ihm leichter gefallen, Leontia in aller Ruhe einen Brief zu schreiben, doch nachdem sie nun das gleiche Dacht teilte, wäre dies womöglich ein wenig seltsam erschienen. So blieb ihm nichts, als herauszufinden, ob das feine Band einer brieflich überaus anregenden Beziehung zwischen ihnen auch im Gespräch standhalten konnte. Lucretius kam Gracchus in den Sinn.
Drum empfiehlt es sich mehr, den wahren Charakter des Menschen
Zu erproben in widriger Zeit und in schweren Gefahren.
Dann erst hört man von ihnen die wirklichen Töne des Herzens
Aus der Tiefe sich ringen, es fallen die Masken: der Kern bleibt.
In der Hoffnung, dass sein wenig erhabener Kern ausreichen mochte, fasste sich Gracchus ein Herz und klopfte an die Türe zu Leontias Cubiculum, vielleicht war sie ohnehin nicht anwesend.
Cubiculum | Flavia Leontia
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Sie war zweifellos anwesend. Denn durch das schön gemaserte Holz der Türe war, gedämpft, ihre Stimme zu vernehmen, die sehr erbost klang, und dann auch die ihrer Leibsklavin:
„Das nennst du eine Frisur?! Das ist…-“
„Domina, es hat gekl…-“
„Unterbrich mich nicht! Ein Krähennest ist das! Wie - wie eine Vogelscheuche sehe ich aus!“
„Domina, an der Türe...-“
„Schweig still, du liederliches Ding! Herumpoussieren ist alles was du kannst! Da!“
„Autsch. Es hat geklopft, Domina.“
„Oh. Warum sagst du das denn nicht gleich? Einen Moment bitte! “Als der Moment verstrichen war, öffnete Salambo die Türe und neigte den Kopf vor Gracchus. Aus einer kleinen Stichwunde an ihrer Hand perlte ein einzelner Blutstropfen, als sie die Türe ganz aufzog, und den Blick in das lichte Gemach freimachte, in dem sich soeben Leontia von ihrem Frisiertisch erhob. Sie trug eine fließende weiße Tunika, und ihr Haar war im Nacken nur flüchtig zu einem Knoten geschlungen. Unauffällig schob sie eine blutige Haarnadel beiseite und trat sodann mit aufgeräumtem Lächeln auf ihren Vetter zu.„Manius, was für eine freudige Überraschung! Komm doch bitte herein.“
Sonnenstrahlen fielen durch die großen Bogenfenster, und versahen die anmutig gerafften Vorhänge mit kleinen Glanzlichtern. Ein harmonischer Reigen von Blautönen beherrschte das Gemach, von den Wandbehängen über die Draperien des Bettes bis hin zu der Blumenschale mit Schwertlilien neben der Türe. Den Boden deckte ein weicher Teppich aus weissem Ziegenfell. Einladend wies Leontia auf eine Mamorbank in einer Nische, direkt unter einem Fenster, und räumte noch schnell eine Schriftrolle von Herodot, sowie einen Berg von Stickzeug, feinen Tüchern und bunten Garnen zu Seite. „Setz dich doch.“ bat sie lächelnd.
Die Türe, die zu dem kleinen Balkon auf den Garten hinausging, öffnete sich einen Spalt, und geschmeidig betrat die kleine Tempelkatze Sphinx den Raum. Sie reckte sich, zeigte beim Gähnen ihre rosa Zunge, und stiefelte direkt auf Gracchus zu, um ihm zutraulich um die Beine zu streichen.
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Von den kleinen Differenzen hinter der Türe bemerkte Gracchus nichts, war er doch zu sehr in seinen eigenen Gedanken gefangen. Möglicherweise fiel ihm der Tropfen Blut auf Salambos Hand auf, doch er beachtete ihn nicht mehr als die Sklavin, und somit nicht im geringsten. Schwankend zwischen dem Empfinden der Freude, dass Lenontia anwesend war, und der Beklemmung, dass sie anwesend war, trat er in den Raum hinein. Ohne ein Wort schritt er langsam zu der Bank hin und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Erst als er saß, sprach er voller Verwunderung.
"Ich ging davon aus, die Sklaven hätten dir ein Zimmer in der Villa Flavia zugewiesen. Doch ich muss mich geirrt haben, denn an solch geschmackvoll eingerichtete Räume kann ich mich nicht erinnern."
Das vorherrschende Blau wirkte beruhigend und gleichzeitig dazu einladend, mit den Gedanken in die Ferne zu schweifen. Jener Einladung kaum widerstehend beugte sich Gracchus etwas vor, um der Katze über den Kopf zu streichen. Sphinx reckte sich und rieb ihren Kopf an Gracchus' Hand, so dass er beinahe wie von selbst dazu über ging, sie ein wenig zu kraulen. Schließlich jedoch wurde er sich der beiden Füße gewahr, welche unweit von ihm auf dem weißen Fell verharrten und er richtete sich wieder auf.
"Entschuldige, Leontia. Ich ..."
Er blickte sie mit gequältem Ausdruck an und wusste nicht, wo zu beginnen. Er öffnete den Mund und holte Luft, seufzte jedoch nur und ließ seine Schultern sinken. Die Nervosität brachte ihn dazu, auf der Unterlippe herumzukauen, während er in seinem Kopf nach den richtigen Worten suchte, die ganze Situation brachte ihn weitaus mehr zur Verzweiflung, als er sich dies noch vor der Tür stehend eingestanden hatte. Doch weniger fürchtete er in diesem Augenblick, mit Leontia von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, denn das, worüber er sprechen wollte, worüber er sprechen musste.
"Lass es mich mit den Worten des Lucretius ausdrücken:
Wenn nun der Sonnenstrahl hier während des dunklen Gewitters
grade entgegen erglänzet dem tropfenden Nebelgeriesel,
dann entsteht in dem schwarzen Gewölk ein farbiger Bogen."
Er blickte Leontia desperat an.
"Sei mein Regenbogen, Leontia, errette mich aus dem schwarzen Gewölk, sei die schillernde Brücke, welche mich daraus heraus führt. Ich weiß nicht ein, noch weiß ich aus, und ich bitte dich innständig darum, mir deinen Rat nicht zu verwehren, brauche ich ihn doch so dringend ... den Rat einer Frau." -
Es schmeichelte Leontia, dass ihr hochgeschätzter Vetter ihre Innendekoration mit Lob bedachte. „Ach, ich habe nur ein paar Stoffe aufgehängt.“, winkte sie ab, und ließ sich ebenfalls auf der Bank nieder. Farben waren ihr seit je her sehr wichtig gewesen, sie wirkten stark auf ihr für Schönheit und Harmonie so empfängliches Gemüt, ebenso konnte eine Geschmacklosigkeit oder Stilwidrigkeit ihr ästhetisches Empfinden wie ein Hammerschlag treffen, und sie zutiefst verstören. Bisweilen meinte Leontia sogar, in bestimmten Personen ihnen entsprechende Farben zu erkennen, nicht mit den Augen, sondern nur mit der Seele wahrzunehmen.
Ihr Vater hatte zum Beispiel ein hungriges Rot an sich, es leuchtete wie die Glut eines alles verschlingenden Feuers. Salambo trug ein flirrendes Kornblumenblau in ihrem Inneren. Vetter Marcus’ Farbe war ein kraftvoller und zutiefst sympathischer Ton zwischen Rostrot und dem glänzenden Schiefergrau eines Felsens, den eben die Wellen umspült haben. Ein Schiefergrau, das bei Tante Agrippina mal ins Stählerne, mal ins Silberne spielte. Und Manius … das war schwierig. Ein warmer Bronzeschimmer war auf jeden Fall Teil davon. Doch heute war er getrübt.
Leontia legte den Kopf zurück, lehnte sich an die Fensterbank, und sah zu wie Gracchus das Kätzchen kraulte. Ihre Füße waren bloß, Salambo hätte sie ihr gleich noch massieren sollen, so stellte sie sie auf den Teppich, und grub die Zehen in das flauschige Fell. Aufmerksam wandte sie sich ihm zu, als er zu sprechen begann, und sah bestürzt seine Miene offensichtlicher Verzweiflung. Was war nur passiert? Was war so schlimm, dass es ihm – ihm! – die Worte raubte?
Voll Zuneigung legte sie ihre Hand auf seine, und drückte sie warm. „Manius, welch dunkles Gewölk auch über dir dräuen mag, ich will alles tun was ich vermag, um dir beizustehen, um dein Regenbogen zu sein.“, gelobte sie tiefempfunden. Den Rat einer Frau? Verblüffung weitete ihre Augen, doch ruhig antwortete sie: „Natürlich. Natürlich… so sprich doch, welche Pein ist es, die so unsäglich auf dir lastet?“
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Obwohl er noch kein Wort darüber gesprochen hatte, konnte Gracchus förmlich spüren, wie ihm in Leontias Anwesenheit, mit der Berührung ihrer Hand leichter wurde um sein Herz. Sie würde seine Fragen beantworten können, sie war eine patrizische Frau, wie Antonia, und ebenso mussten ihr die gleichen Erwartungen angetragen worden sein. Er suchte sich einen Punkt am Wandbehang der gegenüberliegenden Wand, genauer eine schmale Falte, auf welchen er seinen Blick richtete und Halt suchte.
"Es ist die Ehe, Leontia, die mich zu Erdrücken sucht."
Einmal ausgesprochen hing die Tatsache bedrohlich wie ein Herbststurm über dem Mare Nostrum über der Sezenerie, daher eilte sich Gracchus, fortzufahren. Er hatte sich Worte zurecht gelegt, ganze Sätze, doch kein einziger wollte ihm nun mehr in den Sinn kommen. Zudem hatte er nicht das ganze Ausmaß der Misere sogleich vor ihr ausbreiten und vorerst Leontias Reaktion abwarten wollen, doch das Drängen in ihm war zu stark, um dem nun nicht nachzugeben.
"Claudia Antonia ist eine untadelige Frau aus gutem Hause, ich war äußerst erfreut, als die Vereinbarungen zu dieser Ehe getroffen wurden, denn beileibe ich hätte es wahrlich schlimmer treffen können. Die Schließung der Ehe dann war ein wenig bedrückend gewesen."
Es war in höchstem Maße grauenhaft gewesen, eine einzige Farce von Entzücken und Wohlgefallen, ein willenloses Spiel, in Gedanken nur immer die Endgültigkeit der Entscheidung und die ernüchternde Abkehr Aqulius'.
"Doch wir vollzogen die Ehe und dies war ein Augenblick der Kongruenz, zumindest schien es mir damalig so."
Die bereits verblassende Erinnerung an jenes Ereignis trieb Gracchus tatsächlicherweise ein schmales Lächeln über die Lippen, welches jedoch bereits einen Herzsschlag später wieder verging. Er hatte noch nie über diesen Augenblick gesprochen, nicht einmal mit Sciurus, und vor Leontia, die noch vor ihrer Ehe stand, wollte er ihn nicht ausbreiten. Womöglich hätte er ihn mit Aquilius teilen können, doch Aquilius hatte für sich entschieden, so weit wie möglich von ihm fort zu sein, ein Umstand, der seiner Verzweiflung über die Misere nur Vorschub leistete.
"Je weiter wir uns in der Zeit von diesem einen Augenblick entfernten, desto weiter entferte sie sich wieder von mir, bereits am nächsten Tag schon, als alle Gäste das Haus verlassen hatten. Sie zog sich zurück, mied meine Gesellschaft, hielt sich auch vom Rest der Familie fern. In ihrer seltenen Gegenwart ... ich kann nicht mit ihr reden, ich kann sie nicht in Gesellschaft mit mir führen, ich kann nicht einmal mit ihr zu Abend speisen, geschweige denn das Bett mit ihr teilen. Ich habe mich bemüht, Leontia, doch sie ist so furchtbar abweisend, als wäre ich ein Ungeheuer. Bin ich ein Ungeheuer? Ich habe das Gefühl, sie hasst mich, doch ich weiß nicht weshalb. Ich gab ihr meine Worte, beschenkte sie mit Aufmerksamkeiten, ich versuchte sie in mein Leben mit einzubinden, doch was ich auch tue, es scheint alles nur schlimmer zu machen. Sie geht mir aus dem Weg und ich ... "
In einem tiefen Seufzen ließ er seinen Blick sinken, gleichsam seinen Schultern. Er war im Grunde genommen froh um jeden Tag, den sie ihm aus dem Weg ging, doch gleichsam verstörte ihn dieses Verhalten von Tag zu Tag mehr, stieß ihn in tiefe Selbstzweifel und Kummer über seine eigene Unfähigkeit.
"Wäre nur nicht die leidige Pflicht, Leontia, die leidige Pflicht, die darauf wartet, dass mein Samen in ihr aufgeht. Denn alles andere, alles andere habe ich ohnehin schon aufgegeben."
In einer langsamen Bewegung wandte Gracchus seine Miene zu seiner Base hin und blickte sie eindringlich an.
"Was ist es also, das ihr Frauen euch von einer Ehe erwartet, was ist es, das ihr erhofft und auf das ihr besteht? Was ist es, das ich nicht im Stande wäre zu geben, ich, Flavius Gracchus, Sohn des Vespasianus, auf bestem Wege dorthin, wo die Familie meinen Platz bestimmt hat, hinter mir die Macht der Flavia, vor mir der Weg an die Spitze, was ist es, Leontia, das sie von mir erwartet zu tun, was ist es, das sie dazu bewegen kann ihre Pflicht wahrzunehmen?" -
Den Seelenschmerz ihres geliebten Vetters zu sehen, wühlte Leontia bis ins Innerste auf. Sie biss sich leicht auf die Unterlippe, und bemühte sich, ihm gleich bleibend ruhig und gefasst zu lauschen. Jedoch blieb es nicht aus, dass, als er Worte wie Vollzug der Ehe und Samen aussprach, eine keusche Röte Einzug auf ihren Wangen hielt, und sie verlegen die Augen niederschlug. Doch da er seinen Blick, während die Worte förmlich aus ihm hervorbrachen, auf die Wand gegenüber gerichtet hielt, entging es ihm wohl, und als er sie wieder ansah, erwiderte sie dies gesammelt und ruhevoll.
In ihrem Inneren dagegen brodelte es. Wie konnte diese … Frau es nur wagen ihrem lieben, empfindsamen Vetter so etwas anzutun?! Ihn derart mit Missachtung zu strafen, mit Verachtung, gar mit Hass, wie grausam musste diese Claudia sein, um ihn willentlich in diese tiefe Verzweiflung zu stürzen! Sie hatte nicht übel Lust, in ihr Gemach hineinzustürzen, sie zu packen und mit einer spitzen Haarnadel zu bearbeiten, bis sie sich ihrer Pflichten erinnerte. Ein diabolisches, flavisches Funkeln trat bei dieser Vorstellung in ihre klaren blauen Augen, wich jedoch schon eine Herzschlag später wieder der gebannten Aufmerksamkeit. Oder, fragte sie sich dann, konnte es sein, dass die beiden einfach nicht harmonierten?
„Ich bin empört, zutiefst empört, dass deine Ehefrau sich derart der Pflichtvergessenheit ergeben hat.“, machte sie ihrem Herzen Luft. „Sie scheint nicht zu wissen, was sie an dir hat. Schon bei unserem wunderschönen Saturnalienfest war ich, gelinde gesagt, bass erstaunt, dass sie sich doch offenbar verleugnen ließ.“ Doch ihre Entrüstung half ihrem Vetter sicherlich nicht weiter, deshalb bedachte sie ernsthaft die gestellte Frage - die nicht unbedingt einfach zu beantworten war. Sie schürzte leicht die Lippen, die Finger der rechten Hand wanderten unwillkürlich zu ihrem silbernen Ohrgehänge, spielten sacht damit, während ihr Blick in die Ferne schweifte, und sie konzentriert nachsann.
„Nun, zum einen erwarten wir natürlich eine angemessene Verbindung, die vorteilhaft und der Gens von Nutzen ist. Aber das ist bei euch Männern ja nicht anders, denke ich. Des Weiteren hoffen wir natürlich, mit Respekt und Freundlichkeit in die neue Familie aufgenommen zu werden, schließlich muss man so vieles, was bisher das Leben ausgemacht hat, zurücklassen…“ Leontia graute schon davor. „Und was den Gatten betrifft…“, fuhr sie etwas unschlüssig fort, „so wünscht man sich für gewöhnlich einen erfolgreichen und aufmerksamen Mann, weder zu alt noch zu jung, mit guten Manieren und einem gefälligen Äußeren.“
Es kam ihr auch in den Sinn, was Minervina neulich in den Thermen erzählt hatte. „Jemanden, dem man vertrauen kann, und den man vielleicht sogar zu Lieben lernen wird. Auch sollte er, wenn er andere Liebschaften verfolgt, dies diskret tun, und den Anstand haben, Bastardkinder nach außerhalb des Hauses zu verbannen. Und natürlich wünschen wir uns eigene Kinder... Das sind selbstverständlich alles nur Idealvorstellungen, ich spreche auch bloß vom allgemeinen Fall, welche Wünsche Claudia im Speziellen hegt, kann ich natürlich nicht ahnen."
"Wenn ich also von mir ausgehe… - so Papa nicht einlenkt, und ich heiraten muß - so wäre ich glücklich, einen feinsinnigen und gebildeten Mann ehelichen zu dürfen. Also mein Idealbild wäre…“ Sie überlegte. Der Ohrring klimperte silbrighell, das Kätzchen haschte auf dem Boden nach einem Knäuel von Seidengarn, Salambo schien mit der Wand verschmolzen zu sein, und die lichtblauen Vorhänge kräuselten sich sacht. „…mein Ideal wäre genauso wie du, Manius.“, stellte Leontia selber etwas überrascht fest.
„Die Claudier sind nun mal eine alte Familie, äußerst hochstehend, aber mit dem Hang zur Extravaganz, Hoffart und anfällig für, nun ja…, so heißt es jedenfalls. Wenn du mich fragst“, schloss Leontia streng, „so würde es deiner Frau nur gut tun, wenn du mal entschieden ein ernstes Wort mit ihr redest, damit sie wieder zur Besinnung kommt.“
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Die Emotion mit welcher sich Leontia ereiferte, erstaunte Gracchus ein wenig, andererseits war sie ein äußerst feinfühliger Mensch, darum war es kaum verwunderlich, dass sie so sehr mit ihm mitfühlte. Jede Erwähnung ihrerseits bedachte Gracchus aus seiner eigenen Sicht heraus. Angemessen und vorteilhaft war die Verbindung für Antonia allemal. Respekt und Freundlichkeit, daran mangelte es in der Flavia sicherlich nicht, auch wenn bisher nicht viel Gelegenheit seitens der Familienmitglieder gegeben war, dies Antonia entgegen bringen zu können. Gracchus war ein wenig älter als Antonia, doch dies mochte sehr passend sein, zudem war er nicht alt und grau, und gute Manieren glaubte er an sich ausmachen zu können. Ob er mit einem gefälligen Äußeren gesegnet war, dies mochte er nicht beurteilen, doch zumindest sah er sich nicht als Scheusal. Auch über seinen Erfolg mochte er nicht allzu genau urteilen, doch bisher hatte er seine Ziele durchaus erreicht und in Erfüllung der Pflichten würde er vorerst nicht damit aufhören. War er etwa nicht aufmerksam genug? Doch wie sollte er seiner Gattin Aufmerksamkeit zukommen lassen, wenn sie ihre Person vor ihm regelrecht verbarg? Sollte er mehr Sklaven mit Geschenken schicken, ihr Briefe schreiben in das Zimmer gegenüber? Die Liebe, dies war ein Thema, welches womöglich ein wenig schwer werden konnte, denn wie sollte er seine Ehefrau lieben, wenn all das, was es wert war als solcherlei bezeichnet zu werden, bereits fern bei einem anderen ruhte? Doch Leontia sprach davon vielleicht zu Lieben lernen, dies barg einen großen Spielraum. Auch der Begriff der Liebschaften war weit gefächert, dauerhaft geschah dies nur in seinem eigenen Cubiculum und Bastarde konnte daraus kaum entstehen. Doch mindestens ebenso überrascht wie Leontia selbst nahm Gracchus ihre Worte auf, dass er den Idealvorstellungen seiner Base gerecht werden würde. Diese Tatsache war ihm sogleich entsetzlich unangenehm, weniger dass sie von seiner Base ausgesprochen wurde, als mehr dass sie so sehr seiner eigenen Wahrnehmung von sich selbst entgegen stand, selbst da er noch wenige Augenblicke zuvor festgestellt hatte, dass er bei Leontias Betrachtung nicht allzu schlecht abschnitt. Abwehrend hob er die Hände und schüttelte den Kopf.
"Aber nicht doch, Leontia, ich bin weit von einem Ideal entfernt. Du wärst nur enttäuscht."
So wie Antonia möglicherweise? War es dies, was sie von ihm fern hielt? Hatte sie ebenfalls all jene hehren Ideale für ihren Gatten vor Augen gehabt und war nun darüber verbittert, dass er jenen nicht standhalten konnte? Doch welcher Mann, bei allen Göttern, sollte dazu in der Lage sein? Schlussendlich sprach Leontia aus, was getan werden musste. Er hatte dies befürchtet. Natürlich hatte er dies gewusst, er musste sich Antonia stellen, musste sich überwinden mit ihr zu Sprechen, doch er hatte so sehr gehofft, dass es eine andere Möglichkeit gab. Es war nicht, dass er nichts zu sagen wusste, doch er war sich dessen um so mehr gewahr, dass alles, was er sagen wollte sich in demjenigen Augenblick wie Weihrauch in einem Kohlebecken verflüchtigen würde, sobald er Antonia gegenüber trat. Ihr manches mal stechender, dann wiederum abweisender, oberflächlicher oder einfach ignorierender Blick würde sein Ansinnen binnen weniger Herzschläge zu Bedeutungslosigkeit verdammen und jegliche Absichten seinerseits gleichsam in die Knie zwingen, wie der schnelle Schnitt des Opfermessers den Bock. Er würde einige vordergründige Bemerkungen fallen lassen, sie würde nicken und in ihrer einzigartig entsetzlichen Art 'Ja, Manius.' sagen, so dass er für den Rest des Tages bei jeder Erwähnung seines Praenomen erschrocken zusammenfahren würde, gleich aus welchem Munde gesprochen.
"Deutliche Worte also, ich habe dies befrüchtet. Dennoch hoffte ich ihr dies ersparen zu können, trotz allem ist sie immerhin meine Gattin und verdient den notwendigen Respekt. Ich danke dir für deinen Ratschlag, Leontia, einiges, was du sagtest wird sicherlich dazu beitragen, meine Gedanken weiter voran zu bringen."
Er blickte sie ernst an, darauf bedacht, das unangenehme Thema nun wie sonst auch eilig beiseite zu schieben.
"Du erwähntest deine Heirat, sofern dein Vater nicht einlenkt ... steht bereits eine neue Verbindung in Aussicht?" -
Verzagt schüttelte Leontia den Kopf. „Soweit ich weiß nicht… aber vielleicht ist Papa schon wieder dabei etwas Neues anzubahnen. Ich weiß es nicht.“ Sie atmete schwer ein, und hoffte dass er ihr wenigsten eine kleine Schonfrist gewähren würde. „Ach Manius… es ist ja nicht so, dass ich nicht gewillt wäre, meinen Beitrag für das Wohl unserer Gens zu leisten. Aber ich bin mir einfach sicher, dass ich zu anderem berufen bin, als zum Heiraten. Doch Papa… - er hat so profane Ansichten, was das angeht. Sicherlich, es zählt mit deiner Schwester Agrippina bereits die höchste Würdenträgerin des Vesta-Kultes zu unserer Familie, aber… aber es wäre doch trotzdem eine angemessene Laufbahn für mich, meinst du nicht auch?“
Ihr Blick schweifte über die luxuriöse Einrichtung des Gemachs, über den opulenten Schminktisch und das Bett mit den seidenen Laken, und kurz fragte sie sich, ob es nicht schwer wäre, all diese Annehmlichkeiten zurückzulassen? Und immer nur weiß zu tragen? Diese Farbe machte sie allzu blass. Aber für die Ehre, die heilige Flamme hüten zu dürfen, und maßgeblich zum öffentlichen Heil beizutragen, und – nicht zu vergessen – sich nie auf diese leidigen Körperlichkeiten einlassen zu müssen, würde sie das sicher in Kauf nehmen. Außerdem, wer weiß, vielleicht lebte es sich auch bei den Vestalinnen ganz komfortabel.
Kontemplativ stützte sie das Kinn in die Hand, und betrachtete ihren liebsten Vetter. Ein seltsamer Gedanke war das, den sie da vorhin gehabt hatte, und dann so unbedacht ausgesprochen hatte – aber es würde wirklich vieles einfacher machen, wenn sie, rein theoretisch natürlich, ihn heiraten könnte. Überhaupt, nicht zum ersten Mal fiel Leontia auf, dass es letztlich immer die Männer ihrer Familie waren, die über unübertroffene Würde, Charme und Geist – nun ja, bisweilen auch Charme oder Geist – verfügten. Bei keinem Vertreter einer anderen Gens hatte sie diese Qualitäten bisher in solchem Ausmaß zu entdecken vermocht. Vielleicht genügte deshalb keiner ihren Ansprüchen?
„Da fällt mir noch etwas anderes ein.“ , kehrte sie doch noch einmal zu vorherigen Thema zurück. Manius hatte bei ihrem strengen Ratschlag so geknickt gewirkt. „Hast du es schon einmal ernsthaft mit Romantik versucht? Manches Mal lassen sich auch die hartherzigsten Frauen erweichen, wenn du, nun ja, eben ihre verwundbare Stelle findest. Den Schlüssel zu ihrem Herzen. Das können ganz unterschiedliche Dinge sein, wie du sicher weißt, Einfaches wie Musik oder Blumen, Lyrik oder ein wohlgesetztes Kompliment… oder eine kleine Bootspartie zu zweit, zum Beispiel.“ Bei ihr hatten Cassius’ Bemühungen in dieser Hinsicht allerdings nie Früchte getragen. „Es mag banal klingen, und natürlich ist nicht jede von uns für dasselbe anfällig. Am wirksamsten sind diese Mittel sicherlich, wenn sie tatsächlich von Herzen kommen.“ Vielleicht sollte sie einmal versuchen, diese Frau auszuhorchen, um in Erfahrung zu bringen, wie Gracchus sie am besten erobern könnte?
Verschwörerisch beugte Leontia sich ein wenig vor, um ihren Vetter weise in eines der Geheimnisse des Schönen Geschlechtes einzuweihen. „Und wir lieben es ausnahmslos alle, und über die Maßen, wenn man unserer Erscheinung Beachtung zollt. Schließlich verbringen wir tagaus, tagein Ewigkeiten vor dem Spiegel, um präsentabel zu sein, und, du kannst mir glauben, die Prozeduren, denen wir uns unterziehen, sind nicht immer angenehm. Da ist es Labsal, danach auch zu hören, dass es sich gelohnt hat. Was ich damit sagen will: ihr könnt uns gar nicht oft genug sagen, wie schön wir sind. Das ist mein Ernst. Sagt es ruhig immer wieder.“ Schmunzelnd fügte sie hinzu: „Auch wenn wir es mal nicht sind. Gerade dann.“
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Einfühlsam legte Gracchus seine Hand auf Leontias Schulter.
"Du musst ihn verstehen, Leontia, du bist deines Vaters einziges Erbe an diese Welt und indem du dich dem Cultus der Vesta anschließt, nimmst du eurem Familienzweig die Möglichkeit, fort zu bestehen."
Obwohl Aetius ein äußerst unbeherrschter Mann mit vielen banalen Freuden war, so konnte Gracchus nachvollziehen, dass er seine Tochter nur ungern an die Göttin verlieren würde. Obwohl bekannt war, dass Leontias Vater neben ihr weitere Nachkommen gezeugt hatte, so waren dies allesamt Bastarde, und mit seiner Gattin waren ihm keine weiteren Kinder vergönnt gewesen. Da es jedoch zudem seit längerem in dieser Hinsicht still um ihn geworden war und Aetius auch keine Anstalten mehr machte, noch einmal zu heiraten, war zu vermuten, dass seine hohe Zeit vorüber war und Leontia somit sein einziges Kind bleiben würde. Natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass er sich einen Sohn adoptierte, doch seiner Tochter sein Erbe zu hinterlassen war nicht die schlechteste Möglichkeit. Wer wusste zudem schon, was Leontias Vater auf sich genommen hatte, um zu seiner Tochter zu kommen, möglicherweise hatte er die selbe Odyssee zurücklegen müssen wie Gracchus dieser Tage und sollte Gracchus' Nachkomme einzig und allein eine einzelne Tochter sein, so würde auch er sie nicht in den Cultus der Vesta eintreten lassen, sondern dafür Sorge tragen, dass zumindest sie seine Linie fortführte. Doch andererseits mochte er Leontia nicht im gleichen Gram versinken sehen, wie er ihn selbst durchlebte.
"Natürlich wäre auch der Eintritt in den Kultus der Vesta keine schlechte Alternative, doch bedenke, dass auch dieser Weg nicht immer einfach ist."
Er wusste jedoch nicht, welcher Weg einfacher sein würde, derjenige einer Hochzeit oder derjenige in den Tempel des Vesta. Es war unvermeidlich, dass ein einzelner nur immer eine der beiden Seiten kannte.
"Wie wäre es, wenn du Agrippina auf- und sie um ihren Rat ersuchst. Sollte dich dies in deiner Entscheidung stärken, so wird womöglich ein Brief von ihr als höchste Priesterin der Vesta an deinen Vater ein angemessenes Gewicht haben, um ihn umzustimmen. Anderfalls fürchte ich, wird höchstens Felix' Wort noch bis zu Aetius hindurchdringen."
Er zog seine Hand wieder zurück, lehnte sich an der Wand an und ließ seinen Blick über die Einrichtung schweifen. Das tiefe Blau war wirklich beruhigend, ein wenig kam er sich vor wie ein Fisch im Meer. Womöglich war dies der Grund, weshalb Fische solch ruhige Zeitgenossen waren, womöglich lag es jedoch auch einfach nur an ihren für das menschliche Ohr nicht hörbaren Lauten, falls sie denn überhaupt zu solchen fähig waren. Gracchus hatte sich nie eingehender mit Fischen und deren Zucht beschäftigt, obwohl es als äußerst schick galt, doch er verabscheute es, einer Mode zu folgen, hinter deren Ideen man nicht stehen konnte, ohne sich vor sich selbst zu schämen. Als er den nachdenklichen Blick seiner Base auf sich ruhen fühlte, wandte er ihr wiederum sein Angesicht zu und lauschte ihren Worten über die Romantik.
"Du meinst also, ich sollte womöglich Ovid bemühen?
Du hast mein Herz entzündet,
Nun Flamme, liebe mich!
Weib, nimm mich zu leibeigen!
Das bitt' ich flehentlich."
Womöglich war dieser Gedanke nicht einmal abwegig. Was lag ihm näher, als die Worte?
"Nun, immerhin, sollte es mit der Liebe nicht klappen, so gibt er in seiner Liebeskunst schlussendlich auch zahlreiche Hinweise, wie sich der Ungeliebten wieder zu entledigen ist."
Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte leicht.
"Du bist nicht nur wunderschön, Leontia, du bist dazu auch noch scharfsinnig und klug. Und das, liebste Base, ist mein Ernst." -
Dankbar für Gracchus’ Verständnis, lächelte Leontia tapfer und nickte. Wie er es formulierte, klang alles, was ihrem Gefühl nach so vertrackt und verworren war, einfach klar und logisch. „Ja, ich verstehe schon. Du hast sicherlich recht. Dann werde ich Agrippina um Rat bitten.“ Sie beugte sich hinunter, und kraulte ihre Katze, die sich zu ihren Füßen auf dem Teppich räkelte, am Bauch. Dann nahm sie das verschmuste Tier auf den Schoß, und streichelte sie abwesend. Der Gedanke bei Agrippina vorzusprechen bereitete ihr ein wenig Unbehagen. Sie kannte sie kaum, und hatte sie nur als ehrfurchtgebietende, ferne Frau in Erinnerung. Aber es war natürlich das einzig vernünftige.
Sein Kompliment ließ sie vor Freude erröten. „Danke.“, murmelte sie, und schob sich verschämt eine lose Strähne hinters Ohr. „Das höre ich sehr gerne..“ Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Ja, ganz genau so musst du das sagen. Sie wird dahinschmelzen. Und bestimmt kannst du sie mit Poesie anrühren! Ich für meinen Teil lausche dir so ausnehmend gerne, Manius. Aber ‚zu leibeigen’, gleich? Pass nur auf.“ Schmunzelnd wiegte sie den Kopf hin und her.
„Das mit Ovid ist ein Scherz oder?" Leise lachte sie auf. „Du willst doch nicht behaupten, dass dieser große Poet in seinem, wenn auch wohl sehr skandalumwitterten Werk – ich habe es natürlich nie gelesen – es gewagt hat, Anleitungen zum Mord zu verbreiten? Also nein.“ Von dieser Vorstellung sehr erheitert, lachte sie noch einmal leise in sich hinein, und kraulte Sphinx sanft hinter den Ohren.
„Wie sagt dir eigentlich deine Arbeit im Cultus Deorum zu, wenn ich fragen darf? Die Zeremonie zu den Saturnalien zu sehen, war für mich überaus erhebend. Mir scheint, dies ist wirklich deine Berufung, nicht?“ -
Erschrocken wehrte Gracchus ab.
"Aber Leontia, ich sprach doch nicht von Mord! Ich würde niemals auch nur im Entferntesten an solcherlei in Bezug auf Antonia denken! Unsere Rechte gestatten es mir jederzeit, mich von ihr zu lösen, und wenn sie nicht dazu fähig ist mir einen Erben zu schenken, so wird dies womöglich eines Tages die letzte Lösung sein. Doch soweit ist es noch nicht. Nun, ich sprach von den Remedia amoris des Ovid, auch wenn jene sich eher an denjenigen wenden, der sich von seiner Liebe lösen möchte, so sind einige der Passagen sicherlich tauglich, auch bei jenem Verwendung zu finden, der sich allgemeinhin von seiner Beziehung lösen will. Im Übrigen lege ich dir nahe, dir diese und auch die Ars Amatoria in einer ruhigen Stunde durchaus einmal zu Gemüte zu führen, denn glaube niemals, was Männer über ein Werk schimpfen, die sich selbst tugendhaft und weise nennen. Ob jenes Werk tatsächlich skandalumwittert ist, dies wirst nur du alleine bestimmen können."
Ein hintergründiges Lächeln kräuselte seine Lippen, dann wandte sich Gracchus ihrer Frage bezüglich seiner Berufung zu.
"Der Cultus Deorum war bereits meine Bestimmung, noch bevor ich das Licht der Welt erblickte. Meine Eltern hatten sehr genaue Pläne bezüglich ihrer Nachkommen und sie wollten vermeiden, dass wir allzu sehr in Konkurrenz treten würden. Animus sollte in die Fußstapfen unseres Vaters treten, eines Tages ein bedeutendes Kommando führen, mir selbst war der Platz im Cultus vorgesehen, für Lucullus ein hohes Amt in der Verwaltung angedacht, möglicherweise im kaiserlichen Palast. Die Grundzüge unserer Ausbildungen waren natürlich ähnlich, doch sie waren ebenso sehr genau auf jene Wege abgestimmt. Als Kind konnte ich den Nutzen dieser Entscheidung lange Zeit nicht verstehen, ich sträubte mich regelrecht gegen den mir zugedachten Weg."
Ein wenig verlegen betrachtete Gracchus seine Finger.
"Ich wollte Soldat werden, wie mein Vater, eine Legion in den Sieg führen und als Triumphator nach Rom zurück kehren. Ich denke Aquilius hatte einen großen Anteil daran, dass ich von diesem Wunsch abstand nahm, mit ihm gemeinsam waren die Studien ein Leichtes und schließlich fand ich regelrechten Gefallen an Schriften, Philosophieen, Gedankengebäuden und der Aussicht, eines Tages ein Amt im Cultus Deorum zu bekleiden und damit dem Wunsch meines Vaters zu folgen. Dann jedoch ... nun ... du weißt ... Animus ... auf einmal geriet dieses ganze Gefüge ins Wanken. Meine Eltern haben ihn nie aus der Familie verstoßen, doch mit einem Mal musste alles so sein, als hätte es ihn nie gegeben. Was ich mir als kleiner Junge gewünscht hatte, sollte plötzlich mein Weg werden, Vater drängte mich in die Rolle des Erstgeborenen und bestand darauf, dass ich mich so bald als möglich einer militärischen Karriere zuwenden solle. Lucullus fiel es natürlich leicht, seinen Weg nun in den Cultus Deorum anzustreben, seien wir ehrlich, ein Leben als drittgeborener Sohn in der Verwaltung ist sicherlich eine Art der Pflichterfüllung, doch ob es ausfüllend sein mag, dies sei dahin gestellt. Doch ebenso ehrlich betrachtet war ich längst nicht mehr für eine Laufbahn in der Legion geeignet, nicht einmal für eine der städtischen Einheiten. Ein zeitliches Tribunat erachte ich als Chance, ich gedenke dies durchaus vielleicht einmal in meinen Weg einzufügen, doch dauerhaft in einer Einheit meinen Dienst zu tun, den ganzen Tag herumreiten, zu Feldzügen aus zu ziehen, in Zelten zu schlafen, Tote und Verwundete vor Augen, ich würde dies nicht lange aushalten, so deplorabel dieses Eingeständnis auch sein mag. Erzähle es niemandem, Leontia, ich bitte dich darum, doch Mut und Tapferkeit sind jene Tugenden, von denen ich befürchte, dass sie mir niemals zueigen sein werden."
Zudem wäre Gracchus nicht in der Lage Blut fließen zu sehen, nicht fremdes und erst recht nicht sein eigenes. Auqilius hatte ihn schon in Achaia damit geneckt, eines Abends hatte er ein Messer gezogen, sich in die Hand geschnitten und die blutende Wunde unter Gracchus' Nase gehalten, welchem daraufhin schwarz vor Augen geworden war. Ihr Gefährte Lucius und Aristides hatten sich bestens amüsiert, auch später am Abend noch, da Gracchus seinem Magen nicht mehr als trockenes Brot zumuten wollte.
"Nun, ich schob diese Entscheidung hinaus, grollte innerlich meinem Vater, dass er von mir verlangte, Anmius' Verfehlung zu korrigieren. Ich widmete mich mehr und mehr den Studien, verließ Achaia nicht und beantwortete alle Anfragen meines Vaters damit, dass die Zeit noch nicht reif sei. Dies tat ich so lange, bis er schleßlich starb, und selbst danach konnte ich mich zu keiner Entscheidung bewegen, weder zugunsten des Militärs, noch traute ich mich dem Cultus Deorum beizutreten, wonach alles in mir drängte. Dies war keine rühmliche Zeit, beileibe nicht, vorallem da ..."
Er zögerte, war sich nicht sicher, wieviel er davon Leontia anvertrauen konnte, und überhaupt sollte.
"Nun, die Götter erreichten schließlich, was meinem Vater nicht möglich war, sie erzwangen meine Entscheidung, verwoben mein Leben in ein verworrenes Netz, aus welchem es für mich schlussendlich nur noch einen Ausweg gab. Ich schrieb dir dies nie, doch ich verließ Achaia nicht, da meine Studien beendet waren, ich hatte sie schon lange zuvor abgeschlossen, so sie dies überhaupt jemals sind. Ich verließ die Provinz fluchtartig, legte mein Leben in die Hand Juppiters, legte einen Eid zu seinen Gunsten ab, damit er mich sicher nach Rom geleiten würde. Er tat nicht nur dies, sondern führte mich damit gleichermaßen auch dorthin, wo ich sein wollte, wohin mir jedoch die Pflicht als Sohn und die als Bruder den Weg versperrt hatten. Ich habe oft darüber nachgedacht seit ich wieder hier bin, vor allem auch seit Lucullus ebenfalls wieder in Rom weilt um seinerseits seinen Weg pflichtbewusst zu gehen. Mein Vater mag anderes vorgesehen haben, doch ich bin mittlerweile der Ansicht, dass ich Rom weit mehr dienen kann, indem ich mein Leben in den Dienst der Götter stelle, statt in den Dienst des Militärs. Und dies ist alles was zählt, denn Rom steht noch vor der Familie." -
„Oh, entschuldige!“ Leontia lachte sehr verlegen. „Ich wollte doch keineswegs andeuten… nur ein Missverständnis, entschuldige vielmals, wie dumm von mir…“ Sie versuchte, sich vor Augen zu führen, dass nicht alle Männer sich so radikal von ihren Verflossenen trennten, wie ihr Vater es zu tun pflegte, aber es fiel ihr schwer. Sie kannte doch, außer ihm, kaum Männer, eigentlich nur die in ihrem Verwandtenkreis. Außerdem Sklaven, die ja nicht zählten, und Gestalten aus der Literatur, die oft noch extremer handelten…
Verblüfft hörte sie Gracchus’ Empfehlungen bezüglich ihrer Lektüre. „Die Remedia Amoris, sicher, und – die Ars Amatoria?“ Wirklich? Ihre Amme hatte sie immer vor dieser Schrift gewarnt und ihr eingeschärft dass es ein ganz und gar verworfenes Werk sei… Aber wenn Gracchus es ihr ans Herz legte, würde sie es natürlich lesen! Leontia vertraute ihm in dieser Hinsicht blind. Außerdem hielt sie sich selbst in ihren Tugenden für gefestigt genug, um den Anfechtungen zu widerstehen, die aus einer Schriftrolle möglicherweise auf sie einwirken könnten. „Gut, das werde ich tun.“, beschloss sie. Aber Dido durfte nichts davon merken, sie würde sie sonst bestimmt fürchterlich ausschimpfen. Und auch wenn Leontia die Herrin war, und Dido eigentlich eine Sklavin, lehrten die Schimpftiraden ihrer alten Amme sie noch immer das Fürchten.
Kurz fragte sie sich, welche Gedanken sich wohl hinter Gracchus’ hintergründigem Lächeln verbergen mochten. Es war schon ein wenig seltsam mit Manius, mal hatte sie das Gefühl, ihn ausgesprochen gut zu kennen, dann wiederum erschien er ihr beinahe mysteriös… Sie legte den Kopf schief und lauschte ihm mit vollkommener Aufmerksamkeit als er begann von seiner Bestimmung zu erzählen, und von seinen Geschwistern… Es fiel ihr schwer, ihn sich als Kind vorzustellen. Ein wenig beneidete sie Aquilius, dass er an der Seite von Gracchus in Achaia hatte aufwachsen dürfen, dass es ihm vergönnt gewesen war, mit ihm zu lernen, und, wie es schien, ihn zu Höherem zu inspirieren.
Als er von Animus sprach, spukte wieder Minervinas Enthüllung in ihrem Kopf herum. Gerne hätte sie ihn dazu gefragt, doch auf irgendeine Weise erschien es ihr unverschämt, so schwieg sie, und nickte nur betreten. Was hatten diese Sekte bloß an sich, wie gelang es diesen Leuten nur immer wieder, aufrechte Römer vom Glauben abzubringen? Nach allem was sie gehört hatte, musste es sich doch um eine höchst absurde Lehre handeln… was konnte denn bloß so anziehend daran sein? Merkwürdig, sehr merkwürdig… ein Hauch von Neugier regte sich in ihr.
„Ich kann nicht glauben, dass du nicht mutig bist!“, widersprach sie ihm energisch. „Du bist einfach zu bescheiden, Manius. Den alltäglichen Militärdienst nicht als das Nonplusultra anzusehen, dass hat noch nichts mit mangelndem Mut zu tun. Es soll dort doch wirklich zumeist sehr ennuyant zugehen, für einen gebildeten Geist muss das wie der Tartaros sein. Doch ich bin mir ganz sicher, dass du in einer Schlacht einen mitreißenden Heerführer und glänzenden Strategen abgeben würdest!“ Vollkommen überzeugt lächelte sie ihn warm an, während sie diese Worte sprach. Manius und nicht mutig – so ein Unsinn! Niemand sonst konnte so kühne Gedankengänge verfolgen, furchtlos Hypothesen erstellen und wagemutig glänzende Schlüsse ziehen wie er. Außerdem hatte er sich gegen den Willen ihres Vaters gestellt, als er den Kontakt zu ihr gehalten hatte, und das wagten nur wenige. „Du bist wirklich zu bescheiden!“, wiederholte sie.
Ein verworrenes Netz? Leben in die Hand Iuppiters? Etwas unheilvolles schwang in diesen Sätzen mit, sie schienen Leontia trübe wie ein aufgewühlter See, dessen Grund man nicht erblicken kann. Sie legte den Kopf noch etwas schräger, lauschte konzentriert, und zupfte dabei an ihrem Ohrring. „Fluchtartig?“, fragte sie vorsichtig. „Aber welche – wenn du mir die Frage erlaubst – welche Gefahr drohte dir denn in Achaia?“
„Ich gewinne den Eindruck, dass die Götter dich über verschlungene Wege geführt haben, nur um dich am Ende doch deiner wahren Bestimmung zuzuführen.“, sprach sie schließlich nachdenklich. „Und ich glaube, dass du sowohl dem Volk Roms am besten dienst, als auch unserer Familie am meisten Ehre machst, indem du dich dieser widmest. Du … du tust doch wahrlich für beide sehr viel. - Lass mich dir bei dieser Gelegenheit noch mal danken, für das wunderbare Saturnalienfest! Du hast alles so schön ausgerichtet, das Essen und der Wein, und die Dekoration und überhaupt der ganze Ablauf, es war traumhaft, einfach perfekt.“
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Wie ihn seine Base so vehement verteidigte, erkannte Gracchus wieder, dass sie ein völlig falsches Bild von ihm hatte, geprägt von ausschweifend fomulierten und lange perfekt gefeilten Briefen, und er stellte sich die Frage, ob er in jenen Briefen womöglich unwissentlich dieses falsche Bild von sich gezeichnet, oder aber, ob jene Zeilen nur völlig unzureichend gewesen waren und Leontia darum herum sich ihr eigens Bild von ihm aufgebaut hatte. Die Wahrheit über Manius Flavius Gracchus lag vermutlich zwischen beiden Sichten, der ein wenig überzogenen Leontias, und der wenig souveränen Gracchus'. Da er ihr jedoch nicht erneut widersprechen wollte, äußerte sich Gracchus nicht weiter bezüglich des Militärdienstes, seine Gedanken schweiften ohnehin schon weiter zu den unangenehmen Erinnerungen an die letzten Wochen und Monate in Achaia. Außer Aquilius wusste niemand, was dort geschehen war, selbst jener hatte es erst sehr viel später in Rom erfahren. Es waren Dinge, derer Gracchus sich zutiefst genierte, zudem waren sie dazu angetan, ihm kalte Schauer über den Rücken zu jagen, so er ihrer gedachte. Da dies jedoch ohnehin bereits der Fall war, begann er sich zöglicherlich zu erklären.
"Nun, ich hatte Athenae verlassen, mit einem Teil meines Erbes lukrierte ich eine Landvilla auf Creta, wie bereits angedeutet versuchte ich zu jener Zeit den Eindruck zu erwecken, Achaia noch nicht den Rücken kehren zu können, gleichsam suchte ich Abstand von Caius, da ich befürchtete ihn durch mein Zögern von seinem eigenen Weg abzuhalten. Ich war nicht nur einfältig, sondern geradezu hochmütig, glaubte meine eigene Zukunft selbst in der Hand zu halten, glaubte nicht nur das Leben, womöglich auch mich selbst, überlisten zu können. Ich wusste sehr wohl, dass meine Trägheit in der Familie Aufmerksamkeit erregen würde, eine kleine Villa, Sklaven, Schriften, all das ist nicht umsonst, darum begann ich, um dies auszugleichen, Sesterzen in Geschäfte zu investieren, Handel ohne die Erträge der Erde, manches mal gar ohne Waren, gegen Wort und Pergament. Eine äußerst unrühmlich Episode meines Lebens, ich bedaure dies zutiefst und ich zergehe förmlich in Scham, wenn ich nur darüber nachdenke. Doch ich assekuriere dir, dass ich meine Lektion daraus gelernt habe, denn die Sanktionierung meines Tuns ließ nicht sehr lange auf sich warten. Die Bewohner Cretas sind sehr eigen, sie sind stolz auf ihre kleine Insel, doch dieses gesamte kleine Reich wird von wenigen Mächtigen beherrscht, ihnen gehören die Ländereien, die Geschäfte, die Einwohner als Klientel, allesamt sind sie Emporkömmlinge, rohe Männer, die keine Eindringlinge in ihr Machtgefüge dulden, schon gar nicht in jenes Geflecht aus Gold- und Silbermünzen, in welchem ein Patrizier ohnehin nichts verloren hat. Sie machten mir dies unmissverständlich deutlich, nicht mit Worten, sondern auf ihre eigene Art, und ich konnte dabei nur tatenlos zusehen."
Noch immer konnte Gracchus dabei zusehen, denn jenes Bild, in welchem alles schlussendlich gipfelte, war in seiner Erinnerung eingebrannt und würde sich niemals daraus lösen. Es war dies das Bildnis seines alten Sklaven Sciurus, seines Lehrers und seiner ersten Liebe. Doch jener blickte nicht ernst, wie er es so oft im Tadel getan hatte, er lachte auch nicht auf seine angenehm ungezwungen und ansteckende Art, noch funkelte die Flamme des Begehrens in seinen Augen. Trübnis lag über seinen Pupillen, der Mund war leicht geöffnet in einem stummen Tadel an seinen unbedachten und törichten Schützling, welcher all seine Bedenken über Wochen hin in den Wind geschlagen und ihn darum einen ängstlichen alten Mann geschimpft hatte. An den Seiten seines blassen Körpers spiegelte sich das frühe Morgenlicht in feinen Tautropfen, die von den saftigen, grünen Grashalmen um ihn herum auf ihn übergegangen waren, und von seinem Rückgrat ein Stück den Rücken hinab lief eine rotbraunfarbene Spur, die sich in einer Kuhle zwischen oberem und untererm Rücken in einen winzigen See aus getrocknetem Blut ergoss. Kein Blick hatte Gracchus für den, trotz seines Alters äußerst wohlgeformten, Körper, einzig das schmucklose, einfache Messer in Sciurus' Rücken war dazu angetan, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schluckte, um seine Kehle, die trocken war wie der Tiber während der Hundstage, zu befeuchten, und fuhr schließlich fort.
"Es endete mit einer Drohung und dem Tod meines Leibsklaven. Danach ging alles sehr schnell, noch am gleichen Tag verließ ich die Insel, ließ alles stehen und liegen, brach gen Rom auf mit nichts als mir selbst und unterbrach den Weg nur, um im Tempel des Iuppiter um Vergebung für meinen infamen Dilettantismus zu bitten und den Eid zu schwören."
Manches mal waren die Wege des Schicksals tatsächlich äußerst verworren, doch es war müßig, darüber nachzudenken, wo er heute stehen würde, wenn er damals nicht jener Unvernunft nachgegeben hätte. Womöglich würde Sciurus, der alte Sciurus, noch am Leben sein, doch schlussendlich hatte sich sogar für ihn ein passabler Ersatz gefunden, wenn auch Gracchus dessen Fehlen in seinem Leben noch immer als äußerst deplorabel erachtete. Doch vielleicht wäre er noch immer in Achaia, hätte noch immer keine Entscheidung getroffen, würde sich träge auf seiner Herkunft ausruhen und langsam in Geistlosigkeit hinabsinken. Trotz all jener Dinge, die ihm unliebsam waren - seine Gattin und Aquilius' Ferne beispielsweise - bevorzugte er es doch stattdessen in diesem Augenblick neben Leontia zu sitzen und sich von ihren Worten schmeicheln zu lassen.
"Doch dies alles ist vergangen, der Mensch ist dazu geschaffen nach vorne zu blicken, anderenfalls hätten ihm die Götter die Augen nicht vorne an den Kopf gesetzt. Es freut mich, dass dir die Saturnalia gefallen haben. Ich selbst habe sie auch sehr genossen."
Zumindest für den Anfang, dessen er sich noch erinnerte, war er sich dessen sicher, denn des späteren Abends, als das Thema sich der philosophischen Betrachtung der Liebe annäherte, war er sich nicht mehr gänzlich gewahr. Er konnte sich auch nicht mehr entsinnen, wie er in sein Cubiculum gelangt war, dabei hatte ihm Sciurus versichert, dass er sogar dort noch eine ganze Weile wach gewesen und sich mehr schlecht als recht diversen Schriften gewidmet und dabei noch einige Becher Wein geleert hatte.
"Vor allem war es eine Freude, die Familie einmal zusammen zu sehen. Natürlich sind wir alle meist sehr beschäftigt, doch es ist ein wenig deplorabel, dass wir selbst für ein einfaches Abendessen so selten zueinander finden. An manchen Tagen kehre ich aus der Urbs nach Hause und begegne bis in die Nacht, wenn ich mich zur Ruhe begebe, keiner einzigen Person."
Er senkte seine Stimme und brachte seinen Kopf ein wenig näher zu Leontia.
"Manches mal ist es so still im Haus, dass ich glaube die Lemuren flüstern hören zu können." -
Mit vor Erstaunen geweiteten Augen hörte Leontia, wie Gracchus vom Handel sprach, vom Schachern um Sesterzen, von Spekulation gar? Ihre Finger, die eben noch mit dem Ohrring gespielt hatten, erstarrten, das Klimpern verklang, es war wieder ganz still im Raum, bis auf Gracchus' Worte, die von höchst befremdenden Aktivitäten kündeten… Je weiter er sprach, desto mehr wurde Erstaunen zu Schock. Jeden anderen, der ihr solch unerhörte Geschichten über ihren Vetter erzählt hätte, hätte Leontia empört des Raumes verwiesen - aber aus seinem eigenen Munde, da musste es wohl wahr sein… Selbst als er von den Drohungen gegen ihn, untermalt vom Tod seines Leibsklaven sprach, konnte dies sie nur unwesentlich mehr erschüttern, als die Tatsache, dass er sich so hatte vergessen können! Unglaublich.
Sprachlos richtete sie den Blick auf eine Kristallvase auf der Fensterbank, versuchte ihre Fassungslosigkeit hinter einer Maske der Ruhe zu verbergen. Matt nickte sie, als er davon sprach, seine Lektion gelernt zu haben. Niemand ist vor solch einem Fehltritt gefeit, versuchte sie sich zu sagen, einmal einen Irrweg einzuschlagen, das kann jedem passieren, schneller als man denkt, das wichtigste ist doch, den rechten Weg wieder zu finden, mag so etwas doch sogar zur Reife und Besonnenheit beitragen… Sei nicht albern, Leontia, dass er dir das überhaupt anvertraut, kannst du ihm nicht hoch genug anrechnen… - Aber es war nicht zu leugnen: Sie war enttäuscht.
Ihr Manius, die Lichtgestalt aus seinen Briefen und ihrer schwärmerischen Phantasie, ihr Manius, der hätte so etwas nie gemacht. Und tief drinnen war sie dem Manius, der da vor ihr saß, ziemlich böse, dass er ihren Manius so en passant überging, ganz so als wäre er nur ein Wunschbild, eine kraftlose Chimäre, eine Fata morgana, die bei näherer Betrachtung einfach verging…
Sie schwieg. Lange. Meinte dann etwas schwunglos: "Es ist gut, dass du all dies Furchtbare heil überstanden, und hinter dir gelassen hast.", und lächelte auch, als er von nach-vorne-blicken sprach."Deplorabel ist das, in der Tat.", stimmte sie ihm dann zu. "Es geht eben jeder seine eigenen Wege, denke ich. Wir sind nun mal eine Familie von, ähm, Individualisten, nicht? - Die Lemuren?!" Erschrocken presste sie die Hand auf den Mund. "Im Ernst? Hat Felix sie denn nicht ausreichend besänftigt, letztes Jahr? Oh du meine Güte, neulich nacht, als ich lange am Webstuhl gesessen habe, da habe ich auch so ein seltsames Raunen gehört, irgendwie… ungut, du verstehst? Beinahe als würde es aus dem Fußboden aufsteigen, klang das, als würde etwas darunter zu mir sprechen wollen!" Sie schauderte, es war auch wirklich unheimlich gewesen, zuckte dann die Schultern. "Nun ja, vielleicht war es auch bloß die Fußbodenheizung."
-
Der Nachklang seiner eigenen Worte hallte einmal ausgesprochen bitter im Raum wider, wie Milch, die über Nacht ob der Lemuren sauer geworden, wie Wasser, das mit zu viel Essig verdünnt worden war. Leontias Schweigen drückte schwer auf Gracchus' Schultern hinab, er glaubte in ihrem tonlosen Hauch ersticken zu müssen. Er hatte nicht erwartet, dass sie Verständnis zeigen würde, er hatte nicht erwartet, dass sie seine vergeudeten Tage im Nachhinein würde gutheißen, hatte auch keine tröstlichen Worte erwartet, wie Aquilius sie gegeben hatte, doch ebenso wenig hatte er ihr Schweigen erwartet und auch nicht jenes leichtfertige Übergehen, mit welchem sie schließlich Jahre seines Lebens hinfort wischte, als hätte es sie niemals gegeben. Tatsächlich hatte er von einer Frau wie Leontia Empörung erwartet, nicht über die Maßen ausdgedrückt, doch einen leichten Tadel, etwas in diese Richtung. Es lag nicht in seiner Intention, ein falsches Bild von sich zu zeichnen, nicht ihr gegenüber, aufgrund deren unbefleckter Unschuld er sich zur Ehrlichkeit verpflichtet fühlte, doch ihr Desinteresse verletzte ihn gar ein wenig, kränkte ihn, auch wenn er sich dies nicht würde eingestehen. Dass er sie mit jenen, in ihren Augen augenscheinlich marginalen, Erinnerungen belästigt hatte, dies beschämte ihn nun geleichermaßen ein wenig. Er sehnte sich nach Caius, denn durch dessen Oberfläche hatte er meist mühelos hindurch blicken können, hatte immer gewusst, was in jenem vor ging, und immer hatten sie füreinander die rechten Worte, Worte, welche ihm nun gegenüber Leontia fehlten. Er wollte den Raum verlassen, sein Heil in der Flucht suchen und ihr entkommen. Wie einfach war die Welt doch in Briefen, tagelang hätte er jenen mit den zuvor ausgesprochenen Worten bei sich behalten, ihn mit sich getragen, wieder und wieder korrigiert, ausformuliert, Worte kombiniert, womöglich am Ende verworfen, im Feuer verbrannt. Doch gesprochene Worte konnten nicht ausgelöscht, nicht aus der Erinnerung getilgt werden, nicht seine, nicht ihre, nicht aus der ihren, nicht aus der seinen. Nachdenklich zog er jeden weiteren Satz bedächtig in die Länge, wie ein Stück geschmolzenen Käse, obgleich es sich bei Käse selten lohnte, jenen genauer zu bedenken oder ihn abzuwägen, wie dies nur Aufgabe der Sklaven war.
"Nun, ich denke nicht, dass die Lemuren dieses Hauses rastlos oder gar rachsüchtig sind, doch wir sollten ihrer niemals vergessen."
Er erhob sich.
"Ich möchte dich nun nicht länger stören, ohnehin habe ich bereits genug deiner Zeit verschwendet. Ich danke dir für das offene Ohr und auch für die Ratschläge, ich werde sie beherzigen, und ich bin guter Hoffnung, dass sie mir hinsichtlich meiner Gattin weiter helfen werden." -
Leontia öffnete den Mund, um auf die Worte ihres Vetters etwas passendes zu erwidern, und hatte auf einmal das hässliche Gefühl zu plappern. Unverrichteter Dinge schloss sie den Mund wieder, verlegen und wie gelähmt von der Atmosphäre bedrückender Befangenheit, die sich in den letzten Minuten im Raume ausgebreitet hatte. Beinahe meinte sie, die Missklänge in ihrem Gespräch körperlich vor sich zu sehen, als zähe, schwefelgelb tingierte graue Schwaden, die träge und gierig zugleich über den Boden krochen, ihre Ausläufer wie Tentakel um ihre Beine schlangen, unaufhaltsam an ihr aufstiegen und beharrlich danach trachteten ihr die Worte, die Formulierungen, die Sätze von den Lippen hinweg zu saugen, und sie sprachlos zurückzulassen.
Nervös sah sie zu Boden, verfolgte mit den Blicken dieses Gespenst, das sie so unbedacht heraufbeschworen hatte, und machte sich Vorwürfe vorhin nicht die richtigen Worte gefunden zu haben. Bei einer brieflichen Korrespondenz wäre ihr das bestimmt nicht passiert! - Mit einer mächtigen Willensanstrengung riss sie sich von der gebannten Betrachtung ihres schaurigen Hirngespinstes los, sah stattdessen wieder ihrem Vetter ins Gesicht und nickte. „Aber das ist doch selbstverständlich. Sei gewiss, dass Dein Besuch mir stets mehr als willkommen ist, Manius.“ Sie erhob sich ebenfalls, um ihn die paar Schritt durch das Gemach hindurch bis zur Türe zu begleiten, und musste sich beherrschen um nicht schon wieder auf den Boden zu starren, um zu sehen, ob ihre Schritte das Gespenst nun entzwei geteilt hatten.
Neben der Schale mit den blauen Schwertlilien blieb sie stehen, verschlang linkisch ihre Hände ineinander und lächelte schüchtern. „Ich wünsche Dir wirklich viel Glück mit Claudia.“ Ziemlich leise fügte sie noch hinzu: „Und... ich danke Dir sehr für Dein Vertrauen.“
-
Gracchus entrang sich ein beinahe unmerkliches Nicken, bezog er ihren Dank doch längst nicht mehr auf die Erwähnung derjenigen Geschehnisse aus seiner Vergangenheit, sondern einzig auf die Einweihung in seine Eheprobleme. Wie ein schattenhaftes Gespenst, die Schultern nicht hängend, doch ebenso wenig gestrafft wie üblich, schlich er aus dem Raum, zog die Tür leise hinter sich zu und ließ Leontia mit ihren eigenen Gedanken zurück, so wie er selbst einige Herzschläge voller Gedanken auf dem Gang verblieb. Bereits hier wurde ihm bewusst, dass all die Dinge, die sie ihm geraten hatte, trotz allem ein großes Maß an Überwindung würden fordern. Doch er war gewillt, dies auf sich zu nehmen, denn war erst einmal der erste Erbe in Aussicht, so wäre das Leben sicherlich ein wenig einfacher. Voller Entschlossheit trat er schließlich den Weg zu seinem Cubiclum an und ließ von ungewohnt optimistischer Aussicht beschwingt das Cubiculum seiner Gattin dabei wieder einmal unbeachtet.
-
Ein leises Seufzen entfleuchte Leontias Lippen, als die Türe ihres Cubiculums sich wieder geschlossen hatte, und einen Augenblick lang verweilten ihre Augen auf der feinen Maserung des Holzes. Dann drehte sie sich, musterte kritisch den Fußboden - das Gewölk schien sich mit Gracchus' Hinaustreten verflüchtigt zu haben -, und schließlich ihre Sklavin.
"Was hätte ich denn sagen sollen!?" - Die Nubierin heftete ihre dunklen Augen mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf ihre Herrin. - "Einen Brief zu verfassen wäre mir gewisslich leichter gefallen!", klagte Leontia. - Salambo nickte verständnisvoll. - "Und was meinst du zu meinen Ratschlägen, Salambo?" - "Sie waren sehr überlegt und geschickt, Domina.", schmeichelte die Sklavin mit ruhiger Stimme. "Zielstrebig umgesetzt werden sie gewiss einen segensreichen Einfluss entfalten."
"Ja, findest du?" Leontia fasste sich in den Nacken und löste ihr zum Knoten geschlungenes Haar. Sie schüttelte den Kopf, und ließ die nachtschwarze Fülle frei über ihren Rücken fließen. Dann nahm sie wieder an ihrem Frisiertisch platz, sah in den Spiegel und betrachtete dort tief in Gedanken versunken ihre Ornatrix, die nun hinter sie trat, um mit einem Elfenbeinkamm, sanft wie eine Liebkosung, Strähne um Strähne zu glätten. Mit flinken Fingern flocht die Sklavin dann das Haar und steckte die schweren Flechten zu einer eleganten Hochfrisur auf, die sie zuletzt mit einem feinen Perlengespinst krönte.
-
Serenus war in einer Identitätskrise. Jeder hatte ein Hobby. Nur er nicht. Für die ziegenrennen wurde er langsam zu alt. Er wurde dieses Jahr zehn Jahre alt. Ziegenrennen konnte man höchstens bis 12 Jahre mitfahren. Und Sklaven und Kampfhunde durfte er auch keine züchten. Ohnehin durfte man in der Villa gar nichts. Vielleicht sollte er sich zu Papa nach Mantua absetzen. Aber zuvor würde er sich mit seiner Lieblingstante Leontia beratschlagen. Vielleicht hatte diese ja eine gute Idee. Mit Dido und einem sauber geschrubbtem Nero im Anhang machte er sich auf den Weg.
Klopf Klopf Klopf
-
Lautlos schwang die Türe auf. Ein feiner Lavendelduft drang hinaus, und Salambo stand auf der Schwelle. "Dominus." Sie neigte den Lockenkopf vor Serenus. "Komm rein, Serenus.", ertönte Leontia Stimme. "Aber der Hund bleibt bitte draußen." Einladend wies Salambo ins Innere, ließ Serenus und Dido hinein, und schloß Nero schnell die Tür vor der Nase.
In eine luftige malvenfarbene Tunika gewandet, ruhte Leontia inmitten des liebevoll Blau-in-Blau dekorierten Gemachs in einem von Kissen überquellenden Korbsessel. Sie hatte eine Schriftrolle auf dem Schoß, einen Pokal mit Granatapfelsaft in der Hand, und die bloßen, ölglänzenden Füße gemütlich auf einen gepolsterten Hocker hochgelegt. Da sie soeben eine ausgiebige Fußmassage genossen hatte, war ihre Miene äußerst entspannt und gelöst.
"Na, mein Spatz? Wie geht es dir heute? Sag, ich habe gehört, dass du neulich einen griechischen Paedagogus ganz heillos in die Flucht geschlagen hast, ist das wahr?" Sie schmunzelte, und schob mit einer trägen Handbewegung eine Schale mit Naschwerk in Serenus Richtung. "Hier, probier mal die kandierte Melone, sie ist nicht schlecht."
Salambo indes rückte unaufdringlich einen weiteren Sessel zurecht, klopfte die Kissen auf, und versorgte Serenus ebenfalls mit einem Kelch Fruchtsaft. Mit jeder unaufdringlichen, mühelosen Servilität, die ihrer Linie in Generationen des Dienens zu eigen geworden war, ließ sie sich dann wieder zu Füßen ihrer Herrin nieder, bereit und willens, auch dem kleinsten und unscheinbarsten Wink Folge zu leisten.
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