Arbeitszimmer | Gracchus

  • Ein anderer Tag, ereignisloser als die meisten, was vielleicht nichts Schlechtes war, bedeuteten doch weniger Ereignisse auch weniger schlechte Dinge, um deren Fortgang man sich Gedanken machen musste. Und so war ein Sklave von der porta der Villa Flavia Felix aus durch dieselbe geeilt, um den dominus zu finden, den ein gewisser Heimkehrer hatte sprechen wollen. Als er schließlich herausgefunden hatte, dass sich Gracchus in seinem Arbeitszimmer aufhielt, klopfte er ehrerbietig an die Türe desselben und machte mit einem Räuspern auf sich aufmerksam, sollte der Herr mit seinen Gedanken allzu sehr in die Arbeit versunken gewesen sein.


    "Domine, Dein Vetter Flavius Aquilius ist soeben in der Villa eingetroffen und möchte mit Dir sprechen. Soll ich ihm etwas ausrichten oder ihn vielleicht hierher führen?" Eine neutral ausgesprochene Botschaft, wusste doch ausser den Vettern niemand, was sich ereignet hatte, wieviel zerbrochen war in einigen wenigen Worten und der verstreichenden Zeit. Aufmerksam blickte der Sklave den Herrn an, auf jede Erwiederung lauernd, denn nicht aufmerksam zu sein, bedeutete sich unter Umständen empfindliche Strafen einzuhandeln.

  • Seit einigen Tagen schon blühten draußen im Garten der Villa Flavia die ersten Bäume, streckten ihre zart weiß-lilafarbenen Blüten dem Himmel verführerisch entgegen. Auch in Gracchus' Arbeitszimmer hatte der Frühling Einzug gehalten, ein heller, warmer Sonnenstrahl schob sich mit jeder verstreichenden Stunde ein Stück weiter durch den Raum über den Boden, doch gleichsam würde er den Schreibtisch aufgrund dessen Positionierung im Raume niemals erreichen. Nicht nur ob dieser Tatsache wegen schien der Tag Gracchus von Düsternis verhangen, nicht eintönig, sondern geradezu farblos. Am Morgen war ihm der Brief seiner Mutter wieder in die Hände gefallen, welcher noch immer in der Schublade verborgen ruhte, und jener Anblick hatte ihm ins Gedächtnis gerufen, dass eine Nachricht seiner Schwester Minervina längst Rom hätte erreichen müssen. Gleich nach ihrer Ankunft in Hispania, so hatte sie ihm versichert, wollte sie einen Brief schreiben. Natürlich gab es unzählige Possibilitäten, weshalb jene Nachricht noch nicht in der Villa Flavia eingetroffen war, beginnend mit einem Versäumnis des Cursus Publicus, welches selten aber dennoch bisweilen vorkommen mochte, über eine Verzögerung der eigentlichen Reise in Ostia oder durch schlechte Witterung bedingt durch einen Zwischenhalt in Gallia und der Tatasche, dass Minervina sich wortgetreu an das Gesagte hielt und tatsächlich erst dann schrieb, wenn sie in Hispania angekommen war, bis hin zu vielen weiteren Möglichkeiten, von welchen Gracchus keine einzige weitere einfallen wollte, deren Existenz er sich jedoch gänzlich sicher war. Keinesfalls hatte das Ausbleiben einer Nachricht jedoch zu bedeuten, dass Minervina etwas geschen sein mochte, dass sie nicht bis nach Hispania gelangt war, nicht, dass ihr Schiff einem Sturm erlegen oder von jenen unzähligen Piraten zum Grunde des Meeres gesandt worden war, welche das Mare Nostrum befuhren, gleichsam wie es nicht vermuten ließ, dass sie jenen aufständigen Iberern in die Hände gefallen war, von welchen man erst in der letzten Ausgabe der Acta Diurna wieder lesen musste. Stand dort nicht etwas von Entführungen geschrieben? Bei allen Göttern, er hätte sie niemals gehen lassen dürfen, er hätte sie bedrängen müssen, die Reiseabsichten aufzuschieben, nachdem er sie nicht von der Unsinnigkeit der Reise hatte überzeugen können. Niemals würde er sich verzeihen können, wenn ihr etwas geschehen war, ganz abgesehen davon, dass er neben dem ruhelosen Geist ihres Vaters nicht auch noch den ihren würde ertragen können. Bereits jetzt konnte er den kalten Hauch in seinem Nacken spüren, das leise Flüstern, die missbilligende Stimme ihres Vaters in seinen Ohren hören, wie unfähig er als Bruder doch war, wie verantwortungslos er sich wieder einmal hinsichtlich seiner Familienpflichten gezeigt hatte und welche Enttäuschung er gleichermaßen für die Familie darstellte. Aus diesem Grunde war Gracchus ein wenig in sich zusammen gesunken, als der Sklave den Raum betrat, jene Zeilen auf der Schrift vor sich nahm er gleichsam längst nicht mehr wahr. Das Räuspern ließ ihn aufmerken und den Worten des Sklaven folgen.
    'Caius!'
    Der Name durchflutete augenblicklich jede Faser, jede Zelle seines Körpers, löste eine Kette von Empfindungen in Gracchus aus, beginnend mit ungläubigem Erstaunen, über erschöpfende Sehnsucht, aufwallende Erregung und freudige Erwartung hin, bis zu überschwänglicher Freude. Nichts jedoch spiegelte sich auf Gracchus' Antlitz wieder, er richtete sich auf und griff nach dem Becher, da ihm seine Kehle mit einem Male ausgedorrt wie eine getrocknete Pflaume schien. Unmerklich zitterte seine Hand als er das Gefäß zu seinem Mund führte, ein Schluck daraus trank und wieder abstellte. Seine Zunge glitt kurz über die Lippen um sie zu befeuchten, schließlich nickte er.
    "Führe ihn her."
    Welch profane, unverfängliche Weisung, und doch konnte Gracchus spüren, wie sie untrüglich jenen Moment herbei führten, an welchem das sich anspannende Seil mit einem lauten Knall würde reißen. Unzählige Fragen lauerten in Gracchus Geist, doch eine einzige davon überschattete alle anderen, ließen sie völlig nichtig erscheinen, jene eine über das, was noch zwischen ihnen war.

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  • Der Sklave neigte ehrerbietig den Kopf und verließ mit einem "Ja, domine," sogleich das Arbeitszimmer des Gracchus, um mich zu holen - dass er nur kurz weg gewesen war, hatte mich nicht erstaunt, genauer gesagt, hatte ich gehofft, dass mein Vetter schnell Zeit für mich finden würde. Alles andere hätte meine gebeutelte Erinnerung auch sehr überrascht. Er war die schmerzlichste aller Erinnerungen und doch mit die sonnigste, vereinte Licht und Schatten, die höchsten Höhen und den tiefsten Abgrund. Der Sklave sagte mir, ich könne zu meinem Vetter gehen, und ich winkte ab, als er mir den Weg zeigen wollte, den ich nur zu gut kannte, ich hätte ihn im Schlaf noch gehen können, ohne irgendwo anzustoßen und mich zu verletzen.


    Langsam ging ich den Gang entlang, richtete vor der Türe meine schäbige Tunika ein letztes Mal, und versuchte mir auszumalen, wie er auf den Fischer Aquilius reagieren würde, mit diesem von der Sonne gebleichten Haar, der sonnenverbrannten, braunen Haut, den frischen Narben auf dem Unterarm, die von meinem Kampf gegen die Räuber berichteten, als ich meine kleine Familie zu verteidigen versucht hatte. Meine kleine Familie, die auf einer Lüge begründet war. Jene Familie, die wusste, wer ich war, die mir meine Kette mit dem Anhänger eines Patriziers vorzuenthalten versucht hatte, damit ich mich nicht erinnerte. Und doch, meine Familie, die mir einige Monate ein seltsames, stilles Glück geschenkt hatte. Würde er das überhaupt verstehen?


    Aber ich wollte nicht an die einfache Kate denken, die mir ein Heim gewesen war, nicht an den Geruch des Meeres, die einfachen Freuden einer warmherzigen Familie ... ich öffnete die Türe zu Gracchus' Arbeitszimmer und trat ein, ohne etwas zu sagen. Worte waren nie wichtig gewesen zwischen uns, soviel ahnte ich noch, und dann sah ich ihn. Es tat weh im ersten Moment. Und doch erleichterte es mich über alle Maßen, ihn gesund und munter zu sehen, so, wie sich sein Gesicht unveränderlich in meine ansonsten wankelmütige Erinnerung eingebrannt hatte. Alle Begrüßungen schienen mir so banal, und was mir spontan in den Sinn kam zu tun, wäre verkehrt. So bleib ich bei der Tür stehen und blickte ihn nur an, ließ meinen Blick seine Gegenwart trinken bis zur Neige.
    "Manius," sagte ich leise, und mit diesem einen Namen schang etwas von der Sehnsucht mit, die noch immer nicht tot war. "Es ist lange her."

  • Die Minuten bis zu Aquilius' Ankunft erschienen Gracchus endlos. Obwohl er nicht den Anschein des Wartens erwecken wollte, saß Gracchus nur da, hielt nichts als die Türe im Blick und wartete, dass sein Vetter endlich durch sie hindurch treten mochte. Er schaffte es nicht einmal, seinen Kopf abzuwenden und beiläuft in den Schriftrollen zu kramen, als Aqulius schließlich in das Zimmer trat, denn sein Kopf wollte ihm nicht mehr gehorchen, seine Sinne waren gefüllt mit Caius und nichts würde sie davon ablenken können, jenen mit all ihrer Aufmerksamkeit herbeizusehen und in sich aufzunehmen.
    "Caius, ..."
    Mehr brachte er nicht hervor, aus der Befürchtung heraus, jedes weitere Wort würde ihm in der Kehle stecken bleiben, oder könnte, wenn es denn in die Welt hinaus entlassen war, den Vetter erneut dazu bewegen, ihn zu verlassen, wortlos, wie zuletzt. Zudem hatten sie noch nie viele Worte füreinander gebraucht, abgesehen natürlich von jenen langen, tiefgründigen Diskussionen über politische, philosophische, kultische oder weltbewegende Themen. Aquilius' Kleidung war einfach, ausgebleicht und schmutzig, doch Gracchus schob dies auf den langen Reiseweg, welcher hinter ihm lag. Sein Haar war ein wenig heller geworden, die Haut indes dunkler, was ihm einen soldatischen Anschein gab, oder auch den eines Eremiten. Zwei Briefe hatte Gracchus ihm nach seinem hastigen Aufbruch gesandt, doch Auqilius hatte sie nicht bentwortet. Irgend ein Scriba hatte Gracchus auf drängendes Nachfragen schließlich mitgeteilt, dass Aquilius anscheinend wohlbehalten an seinem Ziel angekommen war, doch was genau er dort getan hatte, dies konnte ihm niemand sagen. Es war sicherlich nicht nur die Wiedersehensfreude, nicht nur die Lange Zeit des Sehnens, sondern auch der ungewohnte Anblick, der Aquilius noch begehrenswerter erscheinen ließ. Gracchus erhob sich und trat um den Schreibtisch herum, ein leises Zittern lag in seiner Stimme, von der er sich nur einmal im rechten Augenblick Festigkeit wünschte.
    "Es ist gut, dass du wieder hier bist."
    Womöglich war es das nicht, denn vielleicht war Aquilius auch nur hier, um sich endgültig zu Verabschieden. Doch Gracchus glaubte nicht daran, er konnte nicht daran glauben, er musste hoffen, dass all das, was zwischen ihnen gewesen war, nicht einfach weggewischt werden konnte, mit oder ohne Ehefrau, dass nicht ihr Verlangen, ihre Sehnsucht über die tief in ihnen verwurzelte Freundschaft entscheiden und sie für nichtig erkären würde.

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  • Zitterte seine Stimme wirklich oder wünschte ich mir, dass es so war? Ich konnte mir nicht sicher sein, ich war mir nicht sicher, wahrscheinlich würde ich niemals sicher sein, was ihn anging. Gracchus war derjenige in der Familie, der sich am besten hinter einer gleichmütigen Miene verbergen konnte, der die Kunst der Selbstbeherrschung mehr als jeder andere beherrschte, eine Kunstfertigkeit, die ich sicher niemals erreichen würde. Aber so war er nicht immer gewesen, ich kannte ihn auch anders. Lachend. Offener. Der Sonne zugewandter ... dass er meine Sonne gewesen war, wusste er, und doch hatte er mich zurückgewiesen. War er es noch immer?
    "Ich weiss nicht, ob ich bleibe," sagte ich wahrheitsgemäß, denn im Grunde wusste ich nichts mehr. Die Villa roch fremd, ich hatte die Sklaven von so manchem neuem hier wohnenden Familienmitglied tuscheln hören, vielleicht wäre es besser, mir in irgendeiner Provinz eine Aufgabe als Priester zuteilen zu lassen und zu gehen, Rom Rom sein zu lassen, das mir so wenig Glück gebracht hatte.


    "Ich habe Dich geliebt, Manius, und ich weiss nicht, wieviel dessen noch in mir lebt. Ich habe so vieles vergessen. So vieles, dass ich nicht mehr genau weiss, wer ich bin. Was geblieben ist von dem Mann aus dem hispanischen Zweig der Familie, den Du jetzt siehst," bröckelten die Worte aus mir hervor und das Bild des tarpeischen Felsen kehrte zurück, war so mächtig, so übermächtig geworden, dass ich mich fühlte wie an jenem Tag, als er mich von sich wies. "Du wirst lachen, Manius, aber ich war nie so stark wie Du. Wahrscheinlich werde ich es nie sein. Es ist mir wenig geblieben, als das Fieber kam, und ... die Menschen, die mich fanden, machten mich zu einem Fischer ohne Vergangenheit. Die letzten Monate habe ich gearbeitet wie ein peregrinus, wie ein einfacher Mann, und irgendwo dort ging ein Patrizier verloren. Ich bin nur hier um zu wissen, was davon noch übrig ist, und ... ob das, was mich einst dazu brachte, mich vom tarpeischen Felsen stürzen zu wollen, noch da ist."


    Ich blickte ihn ruhig an, aber gleichzeitig brach der Schmerz in meinem Inneren wieder aus. Er würde höflich antworten, wie immer, und wie immer den Verstand vor dem Gefühl halten. In so vielen Dingen war mein Vetter einfach klüger als ich ... ein Patrizier sollte nicht so sprechen, wie ich gesprochen hatte, aber der Fischer in mir war ein einfacher Mann, mit einfachen Worten.

  • Schmerzhaft drangen die Worte seines Vetters in seine Gehörgänge ein, obwohl er nicht sicher gewesen war, dass Aquilius in Rom bleiben würde, so hatte er es doch mit jedem Herzschlag mehr gehofft, und um so bitterer war es nun, das Schwanken in der Stimme des Freundes zu hören. Doch jener erste Satz war längst nicht das Schlimmste von allem, was er sprach. Vergessen, dies war es, was Gracchus sich so oft wünschte, vergessen was war, Sehnsüchte und Wünsche vergessen. Wieder sprach Caius aus, was nicht sein durfte, nach dem sie sich beide so sehr sehnten, die Worte, die Gracchus in den letzten Monaten mehr herbei gesehnt hatte, als alles andere, und doch waren sie vergangen und die Gegenwart war vergessen. Gracchus hörte die Worte über einen Peregrinus, einen verlorenen Patrizier, einen Fischer, einen einfachen Mann, er konnte nichts damit anfangen, verstand nicht den Sinn hinter den Sätzen, denn letztlich blieben ohnehin nur zwei Bruchstücke in seinem Kopf hängen. Wie ein gewaltiger Herbststurm fegten sie durch sein Hirn, hallten an den Wänden seines Schädels wider und ließen ihm Schwarz vor Augen werden. Er schloss die Augen, kurz nur, atmete tief durch um den tarpeischen Felsen aus seinen Sinnen zu vertreiben, doch der Stein war zu schwer, um zu weichen, zu schwer, um ihn zu bewegen. Caius war dort gewesen - seinetwegen. Er presste die Kiefer aufeinander, öffnete die Augen und trat zu seinem Vetter, jeder einzelne Schritt ließ die Sehnsucht in ihm wachsen, jene Sehnsucht, welche ohnehin schon über alle Maße hinaus war. Ohne ein Wort umfasste er Caius' Genick mit der hohlen Hand, mit der anderen um dessen Rücken und drückte den Freund an sich, allen Widrigkeiten zum Trotz. Er sog den Geruch seines Vetters in sich ein, der ungewohnt und doch gleichsam so unendlich vertraut war, und mit jedem Zug wuchs das Verlangen nur mehr, die Sehnsucht, welcher er niemals würde nachgeben können, obgleich er sich nichts sehnlicher wünschte. Einem Flüstern gleich bahnten sich seine Worte ihren Weg zu Aquilius' Ohr.
    "Ich habe dich immer geliebt, Caius, und ich werde dich immer lieben, mehr als jeden anderen. Du weißt, dass es niemals anders sein wird, ebenso wie du weißt, dass ich dem niemals werde nachgeben können. Es tut mir leid, Caius, es tut mir so unendlich leid."
    Er drückte seine Lippen auf den Hals seines Gegenübers, hielt diesen noch immer fest, küsste ihn lange auf seinen Hals, knapp unterhalb des Ohres, bis sein eindringliches Flüstern sich fortsetzte.
    "Leidenschaft darf die Bande unserer Freundschaft strecken, doch lass nicht zu, dass sie sie zerreißen, Caius, lass es niemals zu."
    Jählings ließ Gracchus von seinem Vetter ab, wandte sich um, wissend, dass er keine Sekunden länger in dieser Nähe verharren würde können, ohne dass geschah, was nicht geschehen durfte. Er trat die Flucht an, wie immer, trat zum Fenster, wandte Aquilius den Rücken zu, und wäre ein unbedarfter Beobachter in diesem Augenblick in das Zimmer getreten, nichts an Gracchus hätte auf die letzten Minuten schließen lassen. Er wischte sich beiläufig über die Wange, womöglich war nur eine jener kleinen Fliegen in sein Auge geraten, welche der Frühling gleich der aufkommenden Wärme mit sich brachte. Seine Stimme war nicht fest, als er, nun etwas lauter, sprach, doch sie brach nicht entzwei, wie er befürchtet hatte. Er hatte viel über Caius und sich nachgedacht, nachdem dieser so plötzlich aus seinem Leben verschwunden war, nachdem dieser ihn ohne ein Wort, ohne eine Nachricht des Abschiedes verlassen hatte.
    "Du hast immer das Leben genommen, wie es kam, du hast dir nicht den Kopf zerbrochen, hast angenommen, was in deinem Weg lag, wenn du es gebrauchen konntest, hast es umrundet, wenn dir das Hinforträumen zu müßig war; und niemand hat je etwas anderes von dir erwartet."
    Gracchus entdeckte draußen im Garten einen kleinen Vogel mit braunem Kopf, ein Spatz augenscheinlich, der vor einem von Vetter Felix' Rosenbüschen im Boden pickte. Unweit lauerter Leontias Katze, jenes samtweiche, sanfte Tier, die Ohren angelegt, die Beute keine Sekunde aus den Augen verlierend.
    "Ich weiß nicht, wann dies war, doch es muss einen Punkt gegeben haben, einen genau bestimmbaren Zeitpunkt, an welchem ich den Anschluss an dich verlor. Womöglich als ich das Messer aus Sciurus' Rücken zog, vielleicht auch schon früher oder erst später, hier in Rom, doch es muss einen Punkt gegeben haben. Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir als Jungen uns wünschten Legionäre zu sein, große Feldherren zu werden? Wir fochten die Schlachten der Geschichte aus, du Iulius Octavianus, ich Marcus Antonius, du Hannibal, ich Scipio, wir beide gemeinsam gegen den übermächtigen Feind. Wir tobten über die Hügel, vergaßen Raum und Zeit, bis wir endlich erschöpft keinen einzigen Schritt, keinen einzigen Hieb noch ausführen konnten. Schließlich verlagerten wir die Schlachten auf Pergament, nur allzu genau kann ich mich der vielen Spottgedichte erinnern, welche wir verfassten, uns gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Jeder wahrhaftige Dichter hätte sich die Hände über dem Kopfe zusammen geschlagen, doch wir spotteten ihres Gelächters und lachten selbst am lautesten mit. Die Abende waren gelöst von Ausgelassenheit und Wein, bei mir mehr Ausgelassenheit, bei dir mehr Wein. Doch irgendwann hörte ich auf zu sein, wie ich war, irgendwann fügte ich mich dem, was von mir erwartet wurde, nicht widerwillig, ganz wie von selbst, wie ich im Nachhinein mit Erschrecken feststellen muss. Mein Leben gilt dem Staat, mein Leben gilt meiner Familie und Gens, und erst danach finden meine eigenen Wünsche Berücksichtigung, was kaum überhaupt noch geschieht. Ich frage mich manches mal, was geschehen würde, wenn dies nicht so wäre, wenn ich tun würde, wonach es mir beliebt, ob der Lar meines Vaters tatsächlich randalieren, meine Familie sich echauffieren, die Öffentlichkeit überhaupt Notiz nehmen würde. Ich bin zu feige, dies heraus zu finden, Caius, und wer wüsste dies besser, als du; darum sinke ich weiter und weiter in dieses Sein hinab und es assimiliert mich mit jedem Atemzug mehr und mehr. Ich werde nicht abenteuerlustiger Legionär werden, nicht großer Philosoph oder Dichter, und gehen lassen kann ich mich schon lange nicht mehr, ohne am nächsten Tag dafür zu büßen. Ich werde als knochentrockener Politiker enden, mit ausgedörrtem Geist. Du jedoch, Caius, wirst immer deinen eigenen Weg gehen, Philosoph, Legionär, Dichter, Träumer oder auch Fischer, und es wird dich immer zufrieden stellen, gleich was die Welt darüber denken mag. Was du auch getan hast, was du auch tun wirst, Caius, es wird immer das Richtige sein."
    Endlich spannte die Katze ihre Muskeln und setzte zum Sprung an. Mit einem Satz war sie bei den Rosen, der Vogel jedoch spürte die Gefahr und flog rechtzeitig hinfort, ließ das Tier erfolglos zurück. Gracchus drehte sich zu seinem Vetter um, das Antlitz von Trübsal überschattet.
    "Ich bin noch da, Caius, noch immer, und doch ist womöglich kaum mehr etwas übrig. Doch gleich wieviel, nichts davon ist es wert, ob dessen zum tarpeischen Felsen zu gehen ... nichts daran."

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  • Ein wilder, sehnsüchtiger Rausch erfasste mich, als er zu mir trat, mich berührte, ich ihn so nahe spüren konnte wie schon lange nicht mehr. Sein Geruch war mir vertrauter als jeder andere, selbst als der Orestillas, als der jedes Weibes, mit dem ich irgendwann einmal im Bett gelegen hatte, selbst der Geruch meiner zu früh verstorbenen Mutter war vor dieser Erinnerung verblasst wie ein Häufchen Asche im Wind verging.
    Er war real, keine Erinnerung, seine Hand war es, die meinen Nacken berührte, sein Körper war es, den ich an meinem so warm und lebendig fühlen durfte, als sei ich direkt von der Erde ins Elysium aufgestiegen, um mich mit allen meinen laren zu vereinigen. In diesem Augenblick war ich zuhause, egal, wo wir uns nun befanden, sei es inmitten einer luxuriösen Patriziervilla oder irgendwo in der ärmlichsten Hütte an einem Strand. Das Schlimme an diesem Gefühl war, dass ich es nicht aussprechen durfte, ohne wieder Gefahr zu laufen, ihn zurückzuweisen. Und dann sprach er, sagte die Worte, die gleichzeitig die schönsten und schrecklichsten waren, die zu hören ich gehofft hatte.
    Er erwiederte meine Gefühle, aber nachgeben wollte er ihnen nicht. Mein Manius, der Einzige. Ich zitterte unwillkürlich, versuchte es zu verbergen, aber es gelang mir weit weniger gut, als ich gehofft hatte, ich konnte einfach nicht anders, als bis ins Mark zu erschauern, hatte mich dieser ewige Zwiespalt doch einmal zum Äußersten getrieben. Seine Lippen waren weicher, als ich erwartet hatte, und ich schämte mich dafür, dass meine Haut wohl nach Salz und Schweiß schmecken musste, weil ich noch nicht gebadet hatte, nicht so parfümiert, wie er es verdient hätte, wenn er mich schon berührte. Ihm hätte immer nur das Schönste, das Beste gelten sollen, nicht ein abgerissener Zielloser wie ich.


    Dann war der vollkommene Moment vorbei, in dem ich einfach nur genossen hatte, seine Wärme gespürt, als könnte er mich für den Rest meines Lebens erhellen - er trat ans Fenster, und ich blieb stehen, unfähig mich zu berühren, fühlte ich doch noch das Echo seiner Lippen auf meiner Haut. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass es nie enden sollte, nicht vor unser beider Tod ... aber es war vorüber, und ich konnte nur versuchen, diese Erinnerung in mein Innerstes einzuschließen, sie auf ewig zu bewahren. Mehr unbewusst als bewusst lauschte ich ihm, hörte die bittere Selbstanklage aus seinem Mund, und je mehr er sprach, desto mehr verblasste die Wärme in mir, machte Kälte Platz, die voller Furcht und Mitgefühl war. Ich wusste, Mitleid hätte er nicht ertragen, aber ich fühlte mit ihm, versuchte es zumindest, denn diese hoffnungslose Einsamkeit aus seinen Worten, ich kannte sie genauso gut wie er, vielleicht musste jeder Patrizier sie kennen lernen, wenn er begann, sich auf den glatten Marmorböden der ewigen Stadt zu bewegen. In Hispania war vieles leichter gewesen, aber das Prinzip blieb stets dasselbe, egal, wo man sich befand.
    "Ich habe das Leben nicht genommen, wie es kam, Manius, ich habe einfach genommen, was ich bekommen konnte und mir keine Gedanken über die Zukunft gemacht. Ich habe vor mich hin gelebt und getan, wonach mir war, aber glaubst Du, das ist der richtige Weg? Irgendwann ist alles hohl und leer, und es erfreut einen nichts mehr, und niemand."


    Langsam sog ich den Atem ein, und sprach leiser, aber durchaus bestimmt. Wenn ich eines wusste, dann, dass ich niemals zulassen würde, dass er sich selbst zerfleischte, dass er so einsam wurde, dass es nichts und niemanden mehr für ihn geben würde. Dafür ... liebte ich ihn zu sehr.
    "Manius, wir waren damals Kinder und Kinder spielen nun einmal, sie träumen nun einmal, denn auf diesen Träumen wird Rom immer wieder neu erbaut. Du und ich, wir haben damals unsere Träume geteilt und ich hoffe, wir werden es wieder. Es gibt niemanden sonst hier, bei dem ich mich nicht verloren fühlen würde, wenn wir miteinander sprechen, und wenn ich Dich sehe, dann sehe ich in Dir nicht nur den Mann, der sich redlich bemüht, unserem großen Namen durch seine Taten gerecht zu werden, sondern auch den Freund, an dessen Seite ich immer stehen werde, was auch immer geschieht, egal, wie sehr es schmerzt. Ich hatte die Wahl, Manius, und ich bin nicht gesprungen." Der Wind hatte damals an meiner Toga gezerrt, ich wusste es wieder, als sei es gestern gewesen, aber ruhige bedachte Worte hatten geholfen, die Worte eines Mannes, dem ich noch danken musste. Der vielleicht irgendwann Freund sein würde, aber das war in diesem Moment weniger von Belang.


    "Ich verrate Dir etwas, ich war selten zufrieden in meinem Leben, denn ich hatte nie ein wirkliches Ziel. So lange gut zu leben, bis einem das Geld ausgeht, ist weder ein Ziel noch eine sinnvolle Existenz, sich bei den Verwandten durchschnorren noch weniger, während alle anderen den Weg der Politik gehen, berühmt werden und was auch immer. Allein wenn ich Furianus mit seiner minderen Geburt, seinem Verhalten und seiner absolut fehlenden rethorischen Begabung betrachte, dass er dennoch seinen Weg macht, während ich lange Zeit vor mich hin trieb wie ein Stück Holz im Meer ... man fühlt sich irgendwann nutzlos. Erst jetzt beginne ich langsam zu erkennen, wo ein Platz für mich sein könnte, und ein guter Teil dessen ist bei Dir. Du warst mein Marcus Antonius damals und ich Dein Iulius Octavianus, und vielleicht wären sie ewig Freunde geblieben, wäre der Lauf der Geschichte ein anderer gewesen. Für mich klingst Du, als stündest Du auf einem inneren tarpeischen Felsen, und ich kann Dich nur bitten, Manius, nur hoffen, dass Du meine Worte verstehst, die ich Dir nun sage."


    Ich machte eine kleine Pause, trat näher auf ihn zu und legte meine kräftig gewordene, schwielige Hand auf seine Schulter, drückte diese und blickte ihm direkt in die Augen, diese tiefen, kummervollen Augen.
    "Spring nicht. Gib Dich nicht auf, Manius, gib den Marcus Antonius in Dir nicht auf. Ich werde bei Dir sein."

  • Ein feines Lächeln begann Gracchus' Lippen zu kräuseln, auf denen noch immer der leicht salzige Geschmack seines Vetters haftete, doch es war freudlos, gleich wie sorgenvolle Falten sich über seine Stirne schoben, denn letztlich stellte sich nur ein weiteres Leben als Trug heraus, ein Leben, von dem er über alle Maßen gehofft hatte, dass es glücklich würde verlaufen, denn nichts anderes hatte er sich je für Aquilius gewünscht.
    "So gibt es für uns in dieser Zeit womöglich keinen Weg der richtig und gleichsam angenehm wäre, nur einen Weg, der uns leer und hohl werden lässt, was immer wir auch tun. Welch deplorable Aussichten, mein Freund, welch Misere aus uns selbst heraus geboren."
    Das Lächeln erweiterte sich jedoch alsbald, wurde überdeckt von ehrlicher Erleichterung.
    "Doch mit dir an meiner Seite bin ich bereit, noch jeden Weg zu gehen. Und wer weiß, eines Tages, Caius, eines Tages ... vielleicht ... "
    Aquilius mochte Recht haben mit seiner Einschätzung, der tarpeische Felsen hatte sich längst vor Gracchus' Füßen aufgetan, allfällig war er ebenfalls bereits gesprungen, doch obwohl er tiefer und tiefer in den Abgrund stürzte, gab es kein Sterben, gab es nur endloses Fallen ohne das erlösende Aufschlagen auf den Grund. Doch womöglich gab es ein Seil, welches um seine Hüften geschlungen war, ein Seil welches just in diesem Moment angezogen wurde. Nicht nur Auqilius war nach Hause zurück gekehrt, gleichsam mit ihm fand auch Gracchus ein Stück seines Zuhause wieder, vielleicht auch ein Stück Marcus Antonius, als er nun in die dunklen, tiefgründigen Augen des Freundes blickte, die warme Hand auf seiner Schulter spürte. Vielleicht konnten sie eines Tages den Lauf der Geschichte verändern und die Schlacht bei Actium verhindern.
    "Geh nicht wieder aus Rom fort, ich bitte dich. Nach was auch immer es dich drängt, es wird eine Möglichkeit geben, dies in Rom zu tun. Willst du Fischer sein, ich werde dir einen Fluss durch den Garten graben lassen, wenn es sein soll auch einen Hafen bis zum Meer hin. Willst du Politiker werden, ich werde dafür Sorge tragen, dass du den notwendigen Status erreichst und man dich wählt, willst du Rosen züchten, so schwatze ich Felix einige Büsche ab. Nur verlass mich nicht, Caius, nicht wieder ohne ein Wort des Abschieds, ohne die Gewissheit der Wiederkehr."
    Er zog seinen geliebten Vetter zu den bequemen Korbstühle hin und drängte ihn mit ihm Platz zu nehmen.
    "Setze dich zu mir, und erzähle, wo du gesteckt und was du getrieben hast. Wo bei allen Göttern hattest du dich überhaupt vergraben? Hast du meine Briefe nicht erhalten?"

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  • Ich betrachtete meinen Vetter genau, während er mir antwortete, aber es war mir wie so oft kaum möglich zu erkennen, was er sich denken mochte. Er war nach wie vor derjenige in unserer Familie, der sich am ehesten hinter einer ausdruckslosen Miene oder einem Lächeln verbergen konnte, um sein Innerstes zu schützen, und nicht zum ersten Mal beneidete ich ihn um diese Fähigkeit. Dennoch, ich war geübt, jedes Muskelzucken zu registrieren, gab es mir vielleicht doch einen kleinen Einblick, den mir seine Worte immer verwehrten. Was mochte er während der langen Zeit meiner Abwesenheit alles gedacht haben? Vielleicht sogar gelitten unter fehlendem Wissen? Als er lächelte, war meine kleine Welt jedenfalls wieder in Ordnung, auch wenn es töricht, dumm war, noch immer jedem Lächeln auf seinen Lippen nachzufiebern, als hätte unsere Liebe jemals irgendeine Chance gehabt.


    "Ich bleibe, Manius, ich bleibe, solange ich kann und mich nicht die Priesterschaft in irgendeine entlegene Provinz schickt, um da die Truppen mit Zuspruch zum Kampf zu begleiten. Was ich werden will, weiss ich noch nicht einmal genau, momentan ... ist es, glaube ich, ganz gut so, wie es ist. Ich muss mich erst einmal selbst wieder finden, weil einige Dinge passiert sind, die ich wieder langsam zu einer gewissen Ordnung bringen muss." Ich folgte seiner Weisung zu den Stühlen und ließ mich nieder, die Beine ausstreckend. Wie immer war sein privater Lebensbereich mit einer Mischung aus dezentem Luxus und Funktionalität gestaltet, der mich einmal mehr ahnen ließ, wie viel Zeit er hier doch verbringen mochte.


    "Deine Briefe konnte ich nicht erhalten, Manius, denn sie trafen mich nicht an. Erinnerst Du Dich an Arrecinas Entführung durch meinen Sklaven Rutger?" Ich erinnerte mich nicht gerne daran, hieß es doch, über das Leben Rutgers noch eine Entscheidung treffen zu müssen, denn man hatte mir sehr wohl gesagt, dass er im Carcer der Villa festsaß. "Aristides und ich brachen gemeinsam auf, um beide zu jagen, und einen Teil der Strecke legten wir gemeinsam zurück. Aber irgendwann wurden wir getrennt, und ich geriet in ein ziemlich heftiges Gewitter, musste unter einigen Bäumen Schutz suchen. Einen Tag später hatte ich bereits Fieber und ich weiss über den nächsten eil meiner Reise nicht viel. Ich glaube, mein Pferd, der gute alte Lapsus, hat mich in Richtung Meer getragen, weil er das Meer mag, und dort lasen mich Fischersleute auf." Die Erinnerung an das einfache, aber friedliche Haus mit den einfachen Mahlzeiten, dem warmen Lachen Orestillas gaben mir einen feinen Stich ins Innerste, und ich atmete tief durch.


    "Die Familie, die mich aufnahm und gesundpflegte, war sehr arm, und bestand nur noch aus zwei Menschen, dem Vater, der zu krank war, um jeden Tag hinauszufahren, und seiner Tochter Orestilla. Als ich erwachte, erzählten sie mir, ich sei Orestillas Gemahl und ... ich glaubte es. In meinem Kopf herrschte nur noch Nebel, wer ich war, war mir entglitten und ich erinnerte mich sehr lange an nichts mehr, ich wurde zum Fischer." Ich hob den Blick zu ihm und wartete auf ein Zeichen seiner Mimik, wie er diese Nachricht aufnehmen würde.

  • Zwei Worte nur waren es, zwei Worte aus Aquilius' Mund, und doch hätte jener Felsen, welcher von Gracchus' Herzen hinabfiel, nicht größer können sein als jener tarpeische. Ich bleibe. Erleichterung durchströmte Gracchus und er hob in marginaler Weise die Mundwinkel, denn hatte er noch während seiner Hochzeit geglaubt, dass womöglich alles einfacher würde sein, würde er um Caius' Anblick, um Caius' Gegenwart nicht in der Villa wissen müssen, so hatte ihn die Zeit seiner Abwesenheit schmerzlich eines Besseren belehrt. Selbst die unüberwindbare Nähe zwischen ihnen beiden, der fortwährende Kampf in seinem Inneren zwischen Ratio und Emotio, selbst der brennende Schmerz des Verlangens konnte niemals so entsetzlich sein wie die quälend Sehnsucht ob endloser Ferne und der nagende Zweifel ob peinigender Unwissenheit. Er ertappte sich dabei, wie er gedankenverloren den Körper seines Vetters mit seinen Blicken berührte, als könnten jene durch den Stoff der Tunika die nackte Haut ertasten, die Wärme, welche jene abgab, auf- und den Duft nach süßer Verheißung einfangen, doch musste Gracchus sich nicht lange zwingen, seine Aufmerksamkeit den Worten Aquilius' folgen zu lassen, waren jene doch so merkwürdig sonderbar, dass sie ohnehin seine Konzentration auf sich zogen. Ohne, dass er sich dessen gewahr war, hob sich seine Augenbraue, marginal zuerst bei Erwähnung Arrecinas und Rutgers, doch schließlich sichtlich und unübersehbar im Angesicht der Worte hinsichtlich Fieber und Erinnerung. Welch Fluch hatte nur über der Flavia gelegen, dass jener Tag nicht nur die Persönlichkeit eines, sondern gleich zweier Familienmitglieder forderte, welch zorniger, rachsüchtiger Geist musste hierfür Sorge getragen haben? Für einen Moment befürchtete Gracchus die Schatten seiner eigenen Vergangenheit, doch obgleich Auqilius darin sicherlich eine gewichtige Rolle spielen konnte, so hatte ihn bisherig doch nichts mit der Tochter seines Vetters Aristides verbunden, weshalb er jene Befürchung sogleich wieder verwarf. Dennoch war es zweifelsohne ein verfluchter Tag gewesen, gleichsam ob gewirkt durch einen Menschen oder durch das Gebinde der Parzen. Die Braue legte sich zurück in ihre unverfängliche Position über Gracchus' Auge, als jener mit seinen Gefühlen um die Herrschaft seiner Mimik zu ringen begann und darob Ausdruckslosigkeit auf sein Antlitz legte. Mochte jene Fischersfamilie seinen Vetter anstatt auszurauben und dem Tod zu übergeben gepflegt und seinen Körper bei Gesundheit erhalten haben, doch hatten sie ihm gleichsam sein Leben geraubt, hatten ihm ein anderes Leben aufgezwungen und seinen Geist getäuscht. Unbändige Wut stieg in Gracchus auf, Zorn über solch einfältiges Verhalten, die Dreistigkeit des Truges, gleichsam wie auch ein anderes Gefühl sich seinen Weg hinauf zur Oberfläche erkämpfte, ein jenes, welches viel heftiger nach Freiheit drängte als Zorn und Wut gemeinsam. Doch nur die Bewegung seines Adamsapfels, als Gracchus dies alles hinunter schluckte um es aus seiner Stimme zu vertreiben, verriet die Diskordanz seines Innersten.
    "Du wurdest ... zu ihrem Gemahl?"
    Mit dem letzten Wort konnte er nicht mehr den Blick seines Vetters ertragen, wandte den seinen zur Wand hinter Aquilius ohne das Regal, ohne die Schriften darin und ohne die kleine, bronzene Spardose mit der Figur des geflügelten Mercurius, zu sehen. Mit einem Mal konnte er verstehen, was Caius zu dem Felsen über Rom geführt hatte, doch mehr noch als die Furcht, sein Vetter könnte Gefallen gefunden haben an der Form der Ehe, mehr noch als das Wissen darum, dass er mit jener Frau womöglich Nacht um Nacht die Schlafstatt geteilt hatte, mehr als dies fürchtete Gracchus darum, dass Caius jene Frau geliebt haben konnte, tatsächlich geliebt.

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  • Etwas im Klang seiner Stimme ließ mich aufmerksam werden, ihn genauer anblicken, wenngleich nicht mit meinen Augen, sondern mit meinem Herzen. Dafür kannten wir uns schon zulange, dass ich nicht diese feinen Nuancen zu erkennen gelernt hätte, etwas, worüber ich nicht nachdenken, mich nicht erinnern musste, um es doch zu tun. Allein, wie er 'Gemahl' aussprach, es klang viel Schmerz in diesem einen Wort, das so viel, oder aber auch so wenig bedeuten konnte. Dachte er denn wirklich, mich hätten Gefühle mit Orestilla verbunden, die meinen für ihn gleichkamen? War es ihm doch nicht so gleichgültig, wie man es meinen konnte, was zwischen uns war und nie sein durfte? In seiner Haltung lag die übliche, aufrechte Art, die ich zu gut kannte von ihm, und in dieser schlichten Haltung lagen viele Erinnerungen, die nach und nach vorsichtig an die Türen meines eistes klopften und hineinschlichen, so sich diese auch nur einen Spaltbreit öffnete.


    "Ich wurde zu dem Mann in der Familie, der hart arbeitete, um sie zu ernähren. Der Orestilla und ihren greisen Vater schützte, als wir angegriffen wurden, um uns unseren Fang zu rauben. Zu jenem Mann, der jeden Abend bei ihr lag und der Vater ihres Kindes werden wird, aber ..." eine kurze Pause entstand, in der ich selbst erst einmal Luft holen und meine Gedanken ordnen musste, war dieses Geständnis doch schon nicht leicht gefallen, einen Bastardsohn zuzugeben, der niemals wirklich ein Flavier, niemals wirklich ein Fischer sein würde. Wenn es denn ein Sohn würde, aber in diesem Fall war sich die alte Dorfamme sehr sicher gewesen, weil Orestilla schon sehr früh damit begonnen hatte, sich morgens zu erbrechen.


    "... aber ich habe sie nicht geliebt. Ich achte sie, Manius, ich schätze sie als einen freundlichen, offenherzigen Menschen, aber ich liebe sie nicht. Ich werde für mein Kind bezahlen, aber ich kann dorthin nicht zurückkehren. Vielleicht bezahle ich den beiden eine Wohnung hier in Rom, vom Fischfang können sie ohnehin alleine nicht leben, ich weiss es noch nicht. Aber es ist, wie es ist ... ich war als Fischer nicht unglücklich, und für diese Wochen eines einfachen Lebens bin ich den beiden seltsamerweise dankbar. Ich habe etwas lernen können, das niemand unserer Schicht jemals lernen wird." Es war ein seltsamer Gedanke, dies auszusprechen, aber ich fühlte mich im Recht, zumindest so weit, dass es mir nichts ausmachte, die oftmals so leere Art des patrizischen Lebens klar an die Wand zu malen. Ich erhob mich und trat neben ihn, um ihn direkt anblicken zu können. "Manchmal ist es gar kein so schlechter Gedanke, all das für eine Weile hinter sich zu lassen und etwas ganz anderes zu tun. Man merkt viel eher, wo man eigentlich steht." Und wo ich stand, stand ich gut. Neben dem einzigen Menschen, den ich wirklich ohne Vorsicht, ohne Einschränkung und ohne Zurückhaltung liebte.

  • Wie so oft in vergangener Zeit gestaltete sich das Gespräch mit Aquilius als emotionales Auf und Ab, zitterndes Bangen alternierte mit erleichternder Gewissheit. Obwohl Gracchus seine Gefühle zu verbergen suchte, nicht ob der Wahrung regelgerechter Konventionen wegen, welche zwischen ihnen ohnehin keine Bedeutung hatten, sondern um Caius und sich selbst vor jenen zu bewahren, trotz dessen konnte er seinen Vetter nicht im Ansatz täuschen. In manch stillen Augenblicken fürchtete sich Gracchus davor, dass nichts in ihm Caius je verborgen blieb, denn fortwährend fürchtete er, dass irgendwann ihn seine Sehnsüchte übermannen und von nichts würden abhalten, und mochte er seinem Vetter auch blind vertrauen, in dieser Hinsicht war jener mit noch mehr Schwäche geschlagen, als er selbst. Gleichsam jedoch war das Wissen um Caius' Gespür die Bestätigung aller Hoffnung und darum der größte Schatz, welchen es in Gracchus' Leben zu bewahren gab, welchen er tief in seinem verborgenen Inneren hegte und pflegte, welchen er liebevoll polierte und liebkoste. Seine Anspannung wich und selbst Aquilius' Geständnis hinsichtlich des zu erwartenden Bastardes konnte sie nicht wieder aufkommen lassen. Die besten Männer hatten solcherlei Nachkommenschaft gezeugt, meist in weniger frommem Glauben, gleichsam verpflichtete dies zu nichts. Gracchus ließ sich Zeit mit seinen Worten, wählte sie sorgsam, um Aquilius nicht damit zu verletzen, doch konkomitierend ihm deutlich vor Augen zu führen, wie sich die Sachlage aus einer äußeren Perspektive darbot.
    "Freundlich und offenherzig mag sie sein, dennoch hat sie dein Leben in eine Lüge gewandelt, Caius. Bedenke dies bei all deinen Entscheidungen, du schuldest ihr nichts, denn sie hat dir nicht nur dein Leben bewahrt, sie hat es im gleichen Augenblick genommen. Das Kind entstand aus ihrem Trug heraus, nicht einmal jenes liegt in deiner Verantwortung. Ich weiß, du wirst dich nicht von deiner Unterstützung abbringen lassen, nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil du ein Mensch mit einem großen Herzen bist, und es liegt mir ebenso fern dir dies nahe bringen zu wollen, weniger weil ich ein Mensch mit großem Herzen bin, denn aus Pflichtgefühl, doch vergiss dies niemals, was immer auch die Zukunft von dir in dieser Hinsicht fordern wird."
    Auf die Worte des Vetters bezüglich der Zufriedenheit mit jenem einfachen Leben deutete Gracchus nur ein Nicken an, denn obgleich er nicht verstehen, nicht nachvollziehen konnte, was Aquilius an diesem Leben glücklich gemacht hatte, so war doch kein Mann jemals weise genug, als dass er eine Erfahrung ablehnen konnte, mochte sie auch noch so gering sein. Schließlich kräuselte gar ein Lächeln seine Lippen als er seinem Vetter antwortete.
    "In der Tat kann sich der Mensch glücklich schätzen, dem es vergönnt ist mehr zu sehen, mehr zu erleben, als sein Weg ihm vorgibt, vor allem jener, welchem es nach diesem Ausflug möglich ist, in sein Leben zurück zu kehren. Denn sich auf seinen Stand zu besinnen, dies gibt dem Menschen Standfestigkeit."
    Er ahnte in diesem Moment noch nicht, wie bald schon er selbst aus seinem Leben gerissen werden sollte, wie schnell Lug und Trug mit eigener Kraft gesponnen und ein Leben vertauscht sein konnte.
    "Ich bin froh, dass du dich für dieses Leben entschieden hast, Caius, denn obgleich dir diese leichte Bräune einen gewissen soldatischen und durchaus vorteilhaften Anschein gibt, so bin ich doch der Ansicht, dass dein Potential beim täglichen Auswerfen eines Netzs verschwendet wäre."

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  • "Ich kann sie dennoch verstehen, so verachtenswert eine solche Tat auch gewesen sein mag, Manius. Sie war nicht nur verzweifelt und die Familie in großer Not, sie hatte sich auch in mich verliebt ... und seit dem Felsen weiss ich nur zu gut, zu was Menschen bereit sein können, wenn sie verzweifelt sind, wenn sie lieben und es nicht leben dürfen. Vielleicht wird jeder in dieser Stadt Orestillas Tat verdammen, aber ich kann es nicht, und ich will es auch nicht. Sie hatte einige Wochen die Illusion einer Familie, eines Mannes, der Vater ihres Kindes ist, und sie wird damit leben müssen, dass diese Illusion beendet ist. Nenne es ruhig eine Folge meines viel zu geduldigen und großen Herzens, aber ich kann für sie nur Mitleid empfinden. Wir beide wissen, wie es ist, etwas zu erhoffen und nicht bekommen zu können .." damit erhob ich mich und trat an das Fenster, ihm den Rücken zuwendend, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte, nicht sehen musste, denn die Erinnerung an unser letztes Gespräch war schon schmerzvoll genug. Zumindest dachte ich mir, dass es das letzte gewesen war, das letzte vor meinem Gang zum Felsen ... an viel mehr konnte ich mich nicht erinnern. Es war wie verhext, doch so war es nun einmal.


    "Was hat sich denn hier während meiner absenz getan, Manius? Neu eingezogene Familienmitglieder? Verstorbene? Es ist mir fast peinlich, Dich fragen zu müssen, aber ... Du bist der einzige, von dem ich mir eine ehrliche Antwort erhoffen kann, der nicht irgendein dummes Schauspiel spielt, um sich selbst zu erhöhen. Wir spielen alle unsere Rollen, aber wenigstens hier bei Dir glaube und hoffe ich, es nicht tun zu müssen, sein zu dürfen, was ich bin - noch immer ein Suchender, der gerade erst den Hauch eines Ziels erfahren hat." Meine Hände hinter dem Rücken ineinander legend, atmete ich ein. "Wie ist es mit Deiner politischen Karriere vorwärts gegangen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass Du etwas anderes hattest als Erfolg ... Du hattest ihn immer."
    Vielleicht verstand er, warum ich das Gespräch auf Unverfänglicheres richtete, versuchte, von dem schwierigen Thema der Gefühle wieder zurück auf den sichereren Boden der Belanglosigkeiten zu gelangen, denn alles war belanglos gegen das Wissen zu lieben, und nicht teilen zu dürfen. Ja, ich konnte Orestilla nur zu gut verstehen.

  • Beklommen senkte Gracchus den Blick und war froh als Aquilius an das Fenster hin trat, ihm den Rücken zukehrte und dabei nicht sah, wie er sich auf die Unterlippe biss, die Augen schloss und tief durchatmete. Die Worte seines Vetters schmerzten so sehr, und immer, wenn Gracchus die Scherben seines Ichs gesammelt und zusammen gesetzt zu haben glaubte, schlugen jene Worte, jene Erinnerungen ihn wiederum in tausende und aber tausende winzige Splitter, so klein, so winzig, dass jedes einzelne davon durch ein Nadelöhr würden passen. Immer ging das Leben weiter, doch ein jedes Mal konnte Gracchus einige dieser Splitter nicht mehr auffinden, verlor ein jedes mal ein Stück von sich selbst, ein marginales nur, doch in der Häufung würde sich diese Abstinenz einst gravierend bemerkbar machen. Er hatte gehofft, Aquilius könne ihn hassen, er hatte gehofft, Aquilius' Abwesenheit würde alles erträglicher machen, er hatte gehofft, Aquilius' Rückkehr würde alles einfacher machen, er hoffte und hoffte, doch nichts änderte sich, nichts wurde erträglicher, nichts wurde einfacher. Er wollte Caius noch immer folgen, wollte zu ihm treten, ihn berühren, seine Hände an seine Schultern legen, seine Lippen an seinen Hals, seinen Nacken küssen, die Augen schließen und in Aquilius' Präsenz versinken. Doch er tat nichts, blieb wo er war und zerbrach noch einmal in tausende und aber tausende Splitter. Der Themenwechsel kam so abrupt und dennoch nicht unerwartet, denn alles war noch wie immer, nichts hatte sich geändert und letztlich blieb nur Flucht. Was hatte sich getan? Wie lange war Aquilius fort gewesen? Seit den Saturnalia in etwa musste es gewesen sein, denn schon dort hatte Gracchus ihn vermisst.
    "Aristides' Kinder sind in der Villa eingezogen."
    Es musste noch vor den Saturnalia gewesen sein, denn bereits damals hatte Arrecina nicht mehr um sich selbst gewusst.
    "Nein, dies ist keine Neuigkeit, du weißt darum bereits, nicht wahr? Nun, Marcus hatte seine Tochter einige Zeit bei sich in Mantua nach jener Misere mit dem Sklaven, doch sie weilt nun wieder in Rom. Lass mich nachdenken, meine Geschwister haben sich eingefunden, dies war wohl nach jener Nacht. Quartus Lucullus und Minervina."
    Er legte seinen Kopf leicht schief.
    "Erinnerst du dich überhaupt an sie? Lucullus wuchs auf unserem Landgut in Oberitalia auf, er sollte nach Animus' Tod seinen Weg in den Cultus Deorum gehen, während ich ... du hast das nicht alles vergessen, oder?"
    Ein wenig Furcht schwang in Gracchus' Stimme mit. Aquilius war der einzige Mensch, der um all seine Verfehlungen wusste, der den größten Teil seines Weges mit ihm gegangen und ihn in der Zeit, in welcher er sich gegen den Willen seines Vaters gestellt, nicht verlassen hatte.
    "Nun, er kam nach Rom, um diesen Weg zu gehen. Ich muss gestehen, ich bin nicht sicher, was er von all jenen Verwirrungen hält, doch er ist ohnehin nicht in der Position, mir Vorhaltungen zu machen, davon abgesehen, dass wir uns augenscheinlich beide unserer Rolle als Brüder zu bewusst sind, als dass er sein Wort gegen mich würde erheben. Er ist mir so fremd, Caius, ich kann ihn nicht einmal einschätzen. Minervina ist mir ebenfalls fremd, doch sie hat das Temperament ihrer Mutter, obgleich sie sich zu beherrschen weiß, hält sie ihre Gefühle nicht unbedingt zurück. Sie erwartet von mir, dass ich einen Gatten für sie finde, obgleich sie jegliche meiner Vorschläge ablehnt. Dann reiste sie auch noch nach Hispania, nach Hispania zu dieser Zeit, um die Welt zu sehen und dort ..."
    Gracchus schüttelte den Kopf, als könne er damit all das Übel der Welt abschütteln.
    "Sie wurde entführt."
    Er hob eine Hand und massierte sich die Schläfe.
    "Der Praefectus Praetorio löste sie aus, genaueres weiß ich nicht. Sie ist noch immer dort und ich kann nichts tun, als in Rom zu sitzen und auf das Ende meiner Amtszeit zu warten. Manches mal glaube ich, die Götter haben diese Familie verlassen, Caius. Meine Ehe gliedert sich nahtlos in all dies ein, Antonia ist eine sicherlich gute Gattin, doch ich ..."
    Gracchus brach ab und ließ seine Hand sinken, er wollte nicht wieder darüber nachsinnieren, doch gleichsam brachte ihn jene eheliche Misere auf ein Gespräch und auf eine Person, welche er bisherig noch nicht erwähnt hatte, und welche im Gedanken um sie tatsächlich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen zaubern konnte.
    "Unsere Base Leontia ist ebenfalls in die Villa eingezogen, ihr Vater sandte sie aus Ravenna. Sie ist unschuldige Perfektion, gleich einer erblühenden Rose, ganz wie in ihren Briefen. In ihrer Gegenwart können wir alle nur verblassen, uns schäbig fühlen und unserer Verdorbenheit schämen. Was immer von uns erwartet wurde, Caius, worum wir uns bemühen müssen und uns quälen, ihr ist es von den Göttern gegeben, sie geht mit einer Leichtigkeit durch diese Welt, welche beneidenswert ist."
    Einige Augenblicke verstrichen, in welchen Gracchus seine Base ob dieser Leichtigkeit beneidete, schließlich fuhr er fort.
    "Erfolg - im Amt ist er mir tatsächlich beschieden. Nun, äußerst ruhmreich mag meine Zeit als Vigintivir nicht gewesen sein, doch was sollte ein ein Decemvir litibus iucandis schon an Ruhm ansammeln? Ich bin zufrieden mit dem Verlauf dieser Amtszeit, und auch die Kosten hielten sich in Grenzen."
    Tatsächlich waren die Kosten rückwirkend ein beträchtlicher Faktor, denn nach der Entführung seiner Schwester wusste Gracchus nicht, wie sehr die Hinterlassenschaft seines Vaters würde dadurch schrumpfen und wie viel im Anschluss für seine weiteren politischen Absichten würde bleiben, denn gerade ein Aedilat war äußerst kostspielig. Natürlich bestand die Möglichkeit seinen Vetter und Patron Felix um einen Kredit zu bitten, doch dies würde er nur äußerst ungern auf sich nehmen, gerade da er auch für Lucullus' Amtszeit und Minervinas Mitgift eine adäquates Summe zurückhalten musste.

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  • "Aristides hat erstaunlich viel Nachwuchs gezeugt, scheint es mir langsam ... kaum ist man mal einige Tage weg, quillt die Villa schon über. Aber wer kann es ihm schon verdenken," sagte ich grübelnd. Immerhin hatte ich auch mehr ungewollt als gewollt nun die Aussicht auf einen Sohn (zumindest eine sehr wahrscheinliche Aussicht), und musste damit auch erst einmal fertig werden.
    "Minervina kenne ich gar nicht mehr, und Lucullus ... nunja, wirklich zum Gespräch kamen wir noch nicht, wahrscheinlich waren wir dafür zu große Tempelhocker damals." Meine Erinnerung an Lucullus war derart verschwommen, dass ich ihn wahrscheinlich auf dem Gang nicht einmal erkannt hätte, wäre er mir begegnet, und ich erwog für einige Momente lang ernsthaft die Anschaffung eines nomenclators, um mir das Problem der fehlenden Erinnerungen ein wenig zu erleichtern. Spätestens auf dem forum würde es unangenehm werden, die meisten Gesichter weder einem Amt noch einem Namen zuordnen zu können. Seine Worte über die anderen Verwandten ließ ich an mir vorüberziehen, denn ihre Namen sagten mir in etwa so viel wie die völlig Fremder, allenfalls sein veränderter Ton bei seiner Nachfrage, ob ich denn alles vergessen hätte, ließ mich wieder aufmerksamer sein.


    Woran sollte ich mich erinnern? Er war der einzige unserer Verwandten, der mir wirklich im Gedächtnis geblieben war, dessen Klang der Stimme allein mir schon einige meiner Erinnerungen an Achaia und noch weiter zurückliegende Momente zurückgab. Und schmerzliches, das kehrte auch zurück .. Bruchstücke, aber keine vollständigen Geschichten.
    "Ich weiss nicht mehr, an was ich mich alles erinnere, Manius, das ist ja das Problem. Manches sehe ich klar und deutlich, und anderes scheint so von der Dunkelheit verschluckt ... ich erinnere mich unserer Gespräche in Achaia, an ... Dinge, die ... Dir Schmerz verursacht haben, aber ich bekomme sie nicht mehr alle zusammen. Es ist so ...als würden einem die Worte auf der Zunge liegen, aber man kann sie nicht aussprechen." Ich atmete tief ein und seufzte dann, den Kopf schüttelnd. Man konnte Erinnerungen wohl nicht hervorzwingen, aber ich hätte es nur zu gerne getan, zumindest alle, die mit ihm zu tun hatten.


    "Du bist verheiratet ..." Zusammenhanglos griff ich den Gedanken auf, und dann stand er mir mit einem Mal flammend hell vor Augen. Die Hochzeit, diese schöne Frau, die er nicht liebte, die ihn wahrscheinlich nicht liebte, aber doch, sie waren vermählt und ... sie hatte alles, was ich nicht haben würde, niemals. Wieder sog ich den Atem ein, diesmal deutlich mühsamer, und versuchte, irgendwie dieses weitere Detail der uns beide vereinenden Last noch auf die Schultern zu laden. "Ich scheine wirklich einiges verpasst zu haben, vielleicht lerne ich Leontia auch noch kennen." Wieder flüchtete ich in die Belanglosigkeit, auch wenn mich diese Frau nicht interessierte, wenn mich nichts ausser ihm interessierte. Was sollte ich tun, wenn ich schon in dieser Sache niemals Erfolg haben würde? "Ich werde meinen Dienst im Tempel wiederaufnehmen."

  • Er hatte es vergessen. Die Erkenntnis fiel auf Gracchus hinab wie jener Felsen, welchen er erst kurz zuvor noch von seinem Herzen geschafft hatte, doch augenscheinlich war die Erde rund, der Felsen hinab und hinab gefallen, einmal um die Welt, um nun wieder über ihm zu schweben und auf ihn hinauf zu fallen und unter sich zu erdrücken. Zerbrechen in tausende Splitter von dunshafter Leichtigkeit, zermalmt werden unter Massen an drückendem Gestein - gab es denn keine Festigkeit wo Auflösung drohte, gab es denn keine Leichtigkeit unter der Last? Aquilius' Sätze wurden zu einem fernen Flüstern, seine Silhouette vor dem Fenster undeutlich, verschwommen, seine Worte verschwanden hinter einem dicken Regenschleier in Gracchus' Kopf. Es war alles verloren, der Wind hatte es hinfortgeweht, der Regen hinfortgespült und die Strömung mit sich hinfortgetragen, einzig was nicht sein durfte, war geblieben. Es war ein Fluch - was anderes konnte es sein, dass Caius sein Leben vergessen hatte, dass Caius seine Familie vergessen hatte, dass einzig er - Gracchus - und ihre unsägliche Liebe alles, was ihm noch geblieben war, er, der sein Unglück war, diese Liebe, die er nur hätte vergessen müssen um glücklich zu sein? Gracchus wollte zerbersten, wollte nicht mehr ertragen, wollte ein letztes mal zerspringen und zerbrochen am Boden verstreut bleiben, sich nie wieder zusammen setzen. Wie oft musste er das Leben seines Geliebten noch zerstören, bis dies ein Ende fand? Es war die Art, wie Aquilius stockte, als er von Gracchus' Ehe sprach, die Pause, welche daraufhin folgte und wie sich sein Körper versteifte, die Gracchus schlussendlich dazu trieb, seinem Vetter zu folgen, sich neben ihn zu stellen und seinen Blick mit ihm aus dem Fenster hinaus zu richten.
    "Es tut mir Leid, Caius. Du glaubtest hier einen Freund zu finden, mehr noch, doch alles, was ich dir je geben konnte war nur Unglück. Alles, was ich dir geben kann an Erinnerung wird nur weiteres Unglück sein. Ich wünschte, du hättest anstatt all der anderen Gedanken nur mich vergessen können, denn obgleich es mir das Herz zerbrochen hätte, du hättest dabei deine Freiheit gefunden."
    Es drängte ihn danach seinen Vetter zu berühren, nur eine Hand auf der Schulter, doch Gracchus zwang sich seine Hände bei sich selbst zu lassen, denn jede Berührung würde alles nur weiter verkomplizieren.
    "Der Dienst im Tempel ist gut. Irgendwann vielleicht werden uns die Götter verzeihen, irgendwann ..."

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  • Ich fühlte seine Nähe mehr, als ich ihn sah, denn noch imme hielt ich den Blick nach draußen gerichtet, wohl wissend, dasses mir immer schwer fallen würde, ihn anzusehen, ohne mich zu ihm zu wünschen,. ohne diesen speziellen Ausdruck in den Augen zu tragen, der alle Liebenden so sicher und schnell verrät. Eines hatte mir die langsam und schrittweise zurückkehrende Erinnerung gezeigt - dass ich vieles falsch gemacht hatte. Orestillas sanfte und unaufdringliche Liebe hatte mich mehr über dieses Gefühl gelehrt, als es jedes Gewinsel eines luststarren Ovid jemals hätte tun können. Sie hatte mich vor allem einen wichtigen Grundsatz gelehrt, wenn man liebte.


    Ich wandte den Kopf nun doch zur Seite, als er seine Selbstanklage begann, dann schüttelte ich energisch den Kopf, berührte nachdrücklich seinen Arm und drehte ihn zu mir, ohne ihn loszulassen. "Wenn es einen Menschen gibt, an den ich mich jederzeit und immer erinnern will, dann bist Du es, egal wie schwer die Erinnerung sein mag, wie schmerzend sie ist, wie sehr sie mir noch wehtun wird. Was immer in der Vergangenheit liegt, ich empfinde dennoch, wie ich empfinde, und dieses Gefühl war stärker als jedes Vergessen. Kann es denn dann so schlecht sein, mich an dich zu erinnern, Manius?" Langsam griff ich seine rechte Hand und hielt sie zwischen meinen Händen, fühlte den Pulsschlag an seinem Handgelenk, welches das meine berührte, und wünschte mir im Stillen, es könnte ewig so dauern.


    "Manche Erinnerungen kehren schneller zurück, andere langsamer, zumindest war es so in den letzten Tagen vor meiner Rückkehr - ich denke, so grausam waren die Götter nicht, und falls sie es doch gewesen sein sollten, so müssen wir versuchen, daraus zu lernen. Ich habe mich an Dich erinnert, und das muss etwas bedeuten, wenn alles andere so leicht verschwunden war. Selbst meine Erinnerungen an Arrecina, Aristides und meine eigenen Verwandten aus Hispania sind nicht so genau und klar, wie ich es mir wünschen würde." Ruhig blickte ihn ihn an, in seinen Augen nach Verständnis, oder wenigstens Einverständnis für meine Worte suchend, bevor ich den finalen Gedanken aussprach.
    "Wohin auch immer Du gehst, ich werde bei Dir sein, was immer Du tust, ich bin bei Dir, Manius. Du bist nicht mehr alleine, und wenn es bedeutet, dass wir uns niemals haben werden, niemals lieben dürfen, dann bin ich bereit, diesen Preis zu zahlen, um für Dich da zu sein. Sei nicht mein Brutus, sein mein Marc Anton, Manius, und ich werde dein Octavian sein. Nichts auf dieser Welt kann stark genug sein, um uns auseinander zu bringen."

  • Der Griff seines Vetters kam so unerwartet, dass Gracchus ob dessen zusammen zuckte, doch er stemmte sich nicht gegen ihn, ließ geschehen, was geschah und suchte Caius' Blick. Die Augen seines Freundes verrieten alles, ließen Gracchus bis tief in seine Seele hinein blicken, gleichsam wie seine eigenen Augen ebenfalls für seinen Gefährten ein offenes Fenster zu seinem Ich sein mussten.
    "Ich könnte mir keinen Menschen vorstellen, den ich lieber an meiner Seite hätte, Caius."
    Er tat einen Schritt, zog Aquilius näher und legte ihm den freien Arm um die Schulter, so dass sich ihrer beider Körper an der Brust berührten, einen Augenblick nur, ein Herzschlag, der ganz ihnen allein gehörte, Remineszenz für künftige Tage, Trost für verlorene Stunden. Womöglich konnte es trotz allem wieder sein wie früher, als zwischen ihnen nicht mehr und nicht weniger stand, doch sie sich beide dessen bewusst waren, wo sie zu stehen hatten, und mehr noch wo und wer bei ihnen stand, als die Hitze des ferventen Feuers zwischen ihnen ihre Herzen gewärmt, doch nicht ihre Leiber verbrannt hatte. Sanft, aber bestimmt, schob er seinen Vetter schließlich ein Stück von sich, legte seinen Kopf leicht schief und blickte ihn mit einem sublimen Lächeln an.
    "Aber nicht Marcus Antonius, mein Freund. Denn auch wenn ich nicht erhaben sein mag über Gier, über Eifersucht, Denunziation, Machtstreben und Eitelkeit, so sei dir dessen versichert, was auch immer geschehen mag, du wirst es nicht erleben, dass ich einer Cleopatra verfalle."
    Es geschah äußerst selten, dass Gracchus sein Antlitz auf so offensichtliche Weise nicht im Zaum halten konnte, doch es hatte niemals die Notwendigkeit bestanden, dies vor Aquilius zu tun, weshalb sich seine Mundwinkel weiter anhoben bis er seine Lippen zusammen presste um dem all zu eklatanten Schmunzeln entgegen zu wirken.
    "Womöglich sollten wir unsere Rollen tauschen. Nicht, dass ich dir das Anrecht auf den Platz des ersten Bürgers nehmen wollte, auch nicht auf ein langes Leben, doch du gibst viel mehr den Anschein eines Soldaten und vielleicht findest du eines Tages deine Cleopatra. Während mir Antonia viel eher das Potential einer Livia zu haben scheint."
    Tatsächlich befürchtete Gracchus an manch spätem Abend, seine Gattin würde eines Tages beginnen seine Lebensfäden aus dem Hintergrund heraus zu spinnen, doch obgleich der Gedanke sonst mehr dazu gehalten war, ihn zu beunruhigen, so gereichte er ihm in diesem Augenblick in jenem Gesamtbild doch eher zur Belustigung. Schlussendlich winkte er jedoch ab.
    "Nein, lass uns dies in seiner Gesamtheit noch einmal überdenken. Ich bin der Ansicht, wir sind über dieses Alter hinaus, in welchem wir uns in unserem jugendlichen Wahn die Historie biegen müssen, auf dass sie uns zur Freude gereicht. Und ich will nicht im Kampf gegen dich antreten und schlussendlich deinen Leichnam aufsammeln. Wie wäre es mit Alexander und Hephaistion? Ein großer Eroberer, dies passt zu dir, und ich könnte mich durchaus an den Gedanken gewöhnen, nach einem Trinkgelage dahinzuscheiden, denn an den Tagen nach übermäßigem Weinkonsum hatte ich noch ein jedes Mal das dumpfe Gefühl an den Folgen dessen auf solch unrühmliche Art und Weise verenden zu müssen."

  • Es tat gut, neben ihm zu stehen, ihn zu berühren, als könnten wir damit noch alles zurückbringen, was früher das Leben schön und einfach gemacht hatte, eine Illusion, die wir nur festzuhalten brauchten, wenigstens für einen flüchtigen Augenblick, einen Moment, der an uns vorüber strich, um dann zu vergehen. Wir wussten beide nur zu genau um die Flüchtigkeit dieses Gedankens, aber wer konnte uns daran hindern, uns zu erinnern, wenigstens für diesen Tag ein wenig von dem zurückzugewinnen, was nur uns gehörte? Dass er so unverhofft seine eigene Neigungen ansprach, ließ mich kurz auflachen - Manius in den Armen einer verführerischen, üppigen Cleopatra mit griechischem Profil, nein, das konnte ich mir auch beim besten Willen nicht vorstellen. Da wäre einer der männlichen Nachkommen aus dem Haus der Ptolemäer wohl passender gewesen, wären sie nicht so degeneriert gewesen.
    "Glaubst Du, ich wollte bis an den Rest meiner Tage mein Leben unter dem strengen Blick einer Livia fristen? Es gibt sicherlich erstrebenswertere Schicksale als gerade dieses, mit dem Gewicht eines imperiums an Sorgen auf den Schultern mit dazu."


    Allerdings, einem Soldaten ähnelte ich inzwischen durchaus, darin musste ich ihm zustimmen, wenngleich es mich weit weniger nach dem Ruhm auf dem Schlachtfeld verlangte als den meisten anderen Männern meines Alters. "Ach Manius, ich bin doch kein Eroberer, und werde wohl nie einer sein. Vielleicht in den Schlafzimmern der gutsituierten römischen Damen, aber sonst sicher nicht. Der Ruhm ist etwas für Aristides und alle anderen Männer unserer Familie, die nach oben streben, ich weiss hingegen noch nicht, ob ich mir dies wirklich zumuten will, zudem sollte ich dafür heiraten, und wo soll man in dieser Stadt noch eine Frau herbekommen, mit der wir nicht zu nahe verwandt sind und die mich nicht tödlich langweilt, sobald sie den Mund öffnet?" Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich ans Fenster, um meinen Vetter ein wenig genauer anzublicken. Er war gereift, ohne Zweifel, und es stand ihm gut. Antonia mochte nicht allzu unzufrieden sein ob ihres Gatten, auch wenn er sie wohl nicht nachts besuchte.


    "Warum sind wir nicht einfach Castor und Pollux, Manius? Du der unsterbliche, und ich der sterbliche Bruder, in ewiger Freundschaft und Nähe verbunden, dass selbst Iuppiter uns gewährt, die Ewigkeit gemeinsam zu verbringen. Auch wenn der Tod bei einem Trinkgelage sicher nicht verachtenswert ist, niemand würde weniger in die Rolle eines Eroberers von Alexanders Range passen als ich." Wieder kehrten einige Bruchstücke der Erinnerung zurück, und ließen sich nicht aufhalten, ich sah sein Gesicht vor mir, wenn ich ihn wieder zum Wein geschleppt hatte und er am Tag danach unbestreitbar litt, ein Umstand, der den hispanischen Zweig der Flavier nie beschwert hatte. "Wir müssen wieder einmal einen Abend gemeinsam verbringen, mit Gespräch, gutem Essen und Wein ... das ist etwas, was ich wirklich vermisst habe."

  • Das Auflachen seines Freundes, seines Gefährten und Geliebten, löste jeden noch so marginalen Zweifel, drängte alle bedrückende Schwermut aus dem Raum hinaus, aus dem Raum des Cubiculum und aus dem Raum zwischen ihnen. Zu kostbar war, was sie verband, als dass es unter der Last dessen, was es war, erdrückt werden sollte, so gestattete auch Gracchus sich ein ehrliches Lachen auf Caius' Zugeständnis bezüglich der Eroberungen fremder Schlafzimmer. Zu Anfang hatte er einst tatsächlich befürchtet, sein Vetter würde dort nach etwas wertvollem suchen, doch er wusste längst, dass für Caius diese Frauen nicht mehr waren, als für ihn ein Sklave, und obgleich er stets von der Angst durchzogen war, dass sich sein Vetter eines Tages damit in ernsthafte Schwierigkeiten bringen und in der Verbannung auf einer kleinen, einsamen Insel landen würde, so war der Gedanke doch zu ertragen.
    "Nun, so werden wir dir eine Frau finden müssen, welche den Mund nicht öffnet, so dass sie dich auch nicht langweilen kann. Ich würde dir die Meinige anbieten, doch obgleich ich wenig Gefallen finden kann an dieser Ehe, so ist sie doch eine Notwendigkeit und Antonia im Grunde genommen für eine derartige Farce durchaus annehmbar."
    Ein subtiles Blitzen stahl sich in Gracchus' Blick hinein und wie er dem Blick seines Vetters begegnete, kam er nicht umhin, vorerst die Lippen zusammen zu pressen, um dem breiten inneren Grinsen in ihm nicht allzu viel Spielraum zu gewähren.
    "Ich trug mich zuletzt mit ganz ähnlichen Gedanken, vorwiegend mit solchen um die Abende in Achaia als Aristides bei uns weilte. Erinnerst du dich an jenen letzten Abend, bevor Marcus aufbrach? Beim Tyros des Bacchus, ich tue es nicht, zumindest nicht mehr allzu detailliert, doch obgleich ich noch mehrere Tage danach dem Glauben erlag, ich würde meinen Lebensatem mit einer Weinfahne aushauchen, so weiß ich doch, dass dieser Abend jede Entbehrung wert gewesen war, und obgleich es nicht gleich solcherart ausufern werden muss, so bin ich doch froh darüber, dass deine Anwesenheit die Abende in dieser Villa wieder bereichern wird."
    Der überwiegende Anteil ihrer Tage in Achaia war äußerst zivilisiert und gesittet verlaufen, Gracchus selbst hatte sich nur selten anderweitiges zugestehen wollen, doch gerade jene beinahe schon als Gelage zu bezeichnenden Mähler, hauptsächlich unter der Leitung ihres Vetters Aristides, waren ihm mehr als vieles andere in Erinnerung geblieben, als seltene Gelegenheit dem Käfig des Lebens zu entkommen und aus allen Normen auszubrechen, obgleich er dies heimliche Vergnügen jedem anderen gegenüber würde abstreiten, welcher nicht Teil dessen gewesen war. Der Gedanke an all dies war Gracchus mit der Aussicht gekommen, Aristides in Mantua aufzusuchen. Mit einem Mal, der Erinnerung an den eigentlichen Grund der Reise -den Tod Antonias' Bruder - wurde Gracchus' Miene wieder ernst.
    "Caius, es gibt noch eine Angelegenheit, die es zu regeln gilt. Ich wollte dir einen Brief senden, doch da ich noch eine persönliche Nachricht beifügen wollte, für dies jedoch bisherig keine Worte fand, liegt noch immer alles unbearbeitet hier."
    Suchend trat Gracchus an ein Regal heran, brauchte jedoch nicht lange um zu finden, was er suchte, waren doch alle Unterlagen akribisch und penibel sortiert und geordnet.
    "Deine Nichte, Calpurnia, ist in die Gefilde des Elysiums hinüber getreten. Du bist damit der letzte verbliebene Flavius des hispanischen Zweiges."
    Vorsichtig zog er die Tabula aus einem kleinen Stapel, hielt sie jedoch vorerst in den Händen und wartete die Reaktion seines Vetters ab. Aquilius hatte nie viel für seine Familie empfunden, dennoch war sie seine Familie gewesen und Gracchus wusste nur allzu genau, was dies bedeutete, obgleich er nicht im Geringsten nachvollziehen konnte, wie es sein würde, gänzlich ohne Familie zurück zu bleiben.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

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