Eilas Zimmer

  • "Kein Platz mehr für dich?", fragte Lando rhetorisch, und eine Art von Wut stieg in ihm auf, die wohl nur ein Bruder für seine törichte Schwester empfinden konnte.


    "Was hast du dir denn vorgestellt? Dass es hier so weitergeht wie immer? Ich habe eine Verantwortung für diese Familie.. hätte ich ewig Stallbursche bleiben sollen?", er stockte. Diese Frage hatte er sich in letzter Zeit immer seltener gestellt. Früher hatte sie ihn stets begleitet, als die Arbeit immer mehr wurde, und die Verantwortung sich über dem ehemaligen Bauern haushoch auftürmte. Seitdem er verheiratet und Vater geworden war, hatte er sich auf eine Art und Weise in sein Schicksal gefügt, die nicht wirklich mehr viel mit dem Menschen zu tun hatte, der er früher einmal gewesen war.


    Er ließ sich zurück auf das Bett fallen, und starrte an die Decke.


    "Weißt du noch, wie ich dir auf einer alten Kuh das Reiten beigebracht habe? Du konntest es quasi sofort... und ich bin runter gefallen, als ich dir zeigen wollte, wie man schwungvoll aufsteigt."

  • "Warum nicht? Wo ist der Junge, der versehentlich Dinge hat in Flammen aufgehen lassen und wo er auch ging oder stand Unheil verbreitet hat? Aber das meine ich nicht einmal..." seufzte Eila ein wenig resigniert. Sie hatte jede Veränderung an ihrem Bruder genauestens mitbekommen und hätte auch damit leben können, wenn es das gewesen wäre, was ihn glücklich machte. Aber gerade daran hatte sie Zweifel...


    "Mir fehlt dein Ohrenbetäubendes , ausgelassenes Lachen... alles hier ist so... seit diese Frauen hierher gekommen sind, steht alles Kopf. Nichts ist mehr so wie es war..." Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ließ sich neben ihrem Bruder aufs Bett plumpsen.


    "Ich habe das Gefühl, früher war das Leben einfacher und gerade in dieser Einfachheit hat deren Wert bestanden. Weißt du, was ich meine? Ich wünschte, wir könnten immernoch einfach eine Kuh reiten..."

  • "Der Junge?", fragte Lando rhetorisch, den Blick an die Decke geheftet. Er dachte natürlich immernoch oft an sein Leben, das Leben das er jenseits des Rhenus hinter sich gelassen hatte. Aber dieses Leben war passé. Es war fort, schon lange nichtmehr so greifbar wie die Erfolge und Misserfolge des mogontinischen Daseins. Und trotzdem.. es war zu einem Ideal geworden, das ihn zu diesen Taten animiert hatte. Das Dasein als einfacher Bauer war zu einem Bild geworden, das man sich an die Wand hängte, und zu dem man jeden Abend aufsah um sich aus dieser reinen Betrachtung Kraft für den nächsten Tag zu gewinnen.
    "Der Junge ist fort.. und spielt in einer besseren Welt Tempelabfackeln."


    Als sie sich neben ihn auf das Bett warf streckte Lando seinen Arm aus und zog sie zu sich, ohne darauf zu achten ob sie nun wollte oder nicht. Auf souverän großbrüderliche Art und Weise überging er den freien Willen seiner Schwester, einer der wenigen Momente wo er das wirklich konnte. Ansonsten prallten seine Ansichten und Vorstellungen von Eila ab wie ein Schneeball an einer römischen Schildkrötenformation.


    "Das wünschte ich mir auch..."

  • Die Antwort ihres Bruders betrübte Eila. Sie seufzte leise und ließ sich von Loki ohne Widerwillen zu sich ranziehen. Viel zu sehr hatte sie ihn vermisst, als dass sie sich ihm jetzt entziehen wollte. Irgendwann in den letzten Jahren und sie konnte nicht einmal sagen wann und wodurch genau waren sie beide wie es schien erwachsen geworden. Das war der natürliche Lauf der Dinge und dennoch konnte einen das bisweilen traurig stimmen.
    "Du siehst schlecht aus, mein Großer." meinte sie dann und sprach das nächste heikle Thema an. Noch wusste sie nicht, was genau geschehen war, aber irgendwas war - ihr Bruder wirkte mehr wie ein Schatten seiner selbst.

  • "So fühle ich mich auch.. das Handelshaus ist niedergebrannt, und die Asche sitzt tief in mir, sie sträubt sich vehement dagegen, mich wieder zu verlassen.", murmelte Lando mit dem seit Tagen für ihn typischen Rasseln in der Stimme, "Manchmal habe ich das Gefühl, dass das noch mein Untergang sein wird."


    Er sah sie einen Moment lang nachdenklich an, dann küsste er sie auf die Stirn, und drückte sie ein wenig enger an sich. Mit einem schmalen Lächeln wischte er das leidige Thema beiseite, und wandte den Blick wieder gen Decke: "Wo bist du gewesen? Ich bin mir sicher, du hast einiges erlebt... was hast du gesehen?"
    In Gedanken dachte Lando daran, dass er die Gegend um Mogontiacum kaum verlassen hatte. Einmal nach Italia, an der ewigen Stadt vorbei, nach Ostia. Das war es. Weiter war er nicht gekommen. Und weiter wollte er auch nicht kommen. Im Gegensatz zu seiner Schwester hatte er nie diese ungemeine Neugier entwickelt, sich ob des Verlusts dessen, was ihm einmal Heimat gewesen war immer auf das konzentriert, was ihm die neue sein würde.

  • "Das Handelshaus ist was?" Eila war von der Nachricht völlig überrascht. "Was ist denn passiert? Und sag so etwas nicht. Du weißt, dass ich so etwas nicht hören will." meinte sie dann. Eila verdängte jeden Gedanken daran, dass ihr Bruder ernsthaft krank sein oder gar sterben könnte. Und auch wenn die ungesunden Geräusche, die seine Lunge beim Sprechen machte, alles andere als gut klangen, erlaubte sie sich nicht weiterzudenken.


    "Kann man denn nichts dagegen machen? Hat Marga keine Idee, was dagegen helfen könnte?" Üblicherweise hatte der gute, aber strenge Geist des Hauses doch für alles irgendwo noch ein kleines Geheimrezept gehabt.


    "Oh, du wirst es nicht glauben, Loki. Ich bin über Gallien hinaus bis zur Heerstraße im Norden Galliens gereist... Es ist ähnlich und dennoch anders. Sie haben auch sehr viel Wald, aber es ist noch kühler und häufig neblig oder verregnet. Es gibt so viel zu sehen. Ich bin zunächst bis Dubris geritten, dem Hafen in Nordgallien. Dort ist wenig mehr als das Kastell und das Hafengebiet selbst. Aber von dort aus konnte man übersetzen. Ich bin dann an der Ostküste weitergeritten, bis hin zu eben jener Heerstraße. Am liebsten wäre ich noch weiter in den Norden geritten, aber die Soldaten rieten mir davon ab. Alles was nördlicher liegt, sei unsicheres Gebiet. Und dann dachte ich daran, was du mit mir anstellen würdest, würde mir etwas zustoßen und davon erfahren, dass ich bewusst in solch gefährliches Territorium gereist bin und hab mich schmunzelnd für eine Route zurück Richtung Süden entschieden..." Sie musste bei der Erinnerung lachen. Sie wusste noch genau, wie vor ihrem inneren Augen ein vor Wut tobender Loki erschienen war und sie ungeachtet ihres Alters übers Knie gelegt hatte.


    "Da siehst du mal, was für einen Einfluss du von mir hast. Selbst wenn ich fast am Ende der Welt bin, hab ich noch Angst vor deinem Zorn." grinste sie ihn dann an.

  • "Nein. Hat sie nicht...", brummte Lando, der es unterließ zu erwähnen, dass es Elfleda war, die ihn vornehmlich verarztete. Warum sollte er Reaktionen provozieren, von denen er wusste, dass sie kommen würden?


    Während er ihr zuhörte, lehnte Lando seinen Kopf auf den ihren und roch ihr Haar, eine vertraute Pose, wie sie viel zu selten vorkam. Viel zu selten. Ihre Erzählungen waren durchaus spannend, allerdings nagte die Erschöpfung so sehr an Lando, dass er nurnoch brummte, als sie geendet hatte. Wenn für Eila solche Momente ein Maß an geschwisterlicher Sicherheit bargen, so war es für Lando genau das gleiche. Alle Sorgen konnte ausnahmsweise mal von ihm abfallen, und die Stimme seiner Schwester trug ihn sanft in einen Moment des sorgenfreien Schlafs...
    "...das hast du dir auch verdient.", war das letzte, was sie noch zu hören bekam bevor Lando fest eingeschlafen war.

  • Eila wusste nicht mehr, wie genau sie an dem schrecklichen Tag wieder in die Casa und letztlich in ihr Zimmer gekommen war. Ebenso wenig, wieviele Tage und Stunden seither vergangen sein mochten. Sie lag zusammengerollt auf ihrem Bett und starrte die Wand an. Nur am Rande merkte sie, wie es in ihrem Zimmer dunkler und wieder heller wurde. Sie wollte nichts essen, nichts trinken, einfach nichts von garnichts. Eine leise Stimme in ihr, wusste, dass sie eigentlich aufstehen sollte, irgendwie weitermachen sollte. Aber sie hatte einfach keine Kraft dazu.


    Es war als wäre mit dem letzten Atemzug ihres Bruders jeder Lebenswille in ihr erloschen. Er war ihr Leben gewesen... alles, was sie noch hatte. Ihr Herz lag in tausende Splitter zerbrochen am kalten, dunklen Boden eines Brunnens aus Schmerz. Ihre Tränen waren schon lange versiegt, ihre Wangen von ihrer schier unendlichen Zahl noch immer gerötet. Er ist tot... tot, tot, tot. Dieser Gedanke beherrschte ihr ganzes Sein.


    Doch langsam aber sicher kämpfte sich aus den tiefen ihres Unterbewusstseins dieses fiese kleine Wesen hoch, dass einen jeden Menschen davon abhielt sich in seiner Trauer aufzulösen und unterzgehen - der schiere Überlebenswille. Der Körper handelte manchmal von Geist unabhängig. Und das sehr effizient. Der Hunger begann langsam aber sicher zu schmerzen, so wenig Eila auch eigentlich das Bedürfnis verspürte etwas zu essen oder zu trinken. Doch ihr Körper sah das anders. Wie lange würde sie sich hier noch verkriechen können, wie lange vor der Realität und dem Leben fliehen? Diesem Leben ohne ihren geliebten Bruder. Dem Leben in Einsamkeit.


    Sie wusste es nicht, doch noch gab sie sich nicht geschlagen. Sie rollte sich noch ein wenig weiter zusammen. In der kleinen Welt ihres Zimmers verbarg sie sich wie in einer Festung hinter einem Bollwerk aus Trauer.

  • Eila lief wie so oft durch den Wald, der direkt an das Grundstück ihrer Eltern grenzte, auf der Suche nach Beeren. Der Waldboden war bedeckt von tiefgrünem Moos und man konnte bereits die ersten Knospen der Frühblüher ausmachen. Nicht mehr lang, dachte sie, und die Wärme und Pracht des Frühlings würde wieder seine Finger ausstrecken. Ahh, dachte sie dann, da hab ich dich. Nur weniger Schritte von ihr entfernt stand eine Waldreben-Strauch, der bereits erste Blüten ausbildete. Sie schritt auf die Pflanze zu und bückte sich gerade herunter, um eben jene zu pflücken, als irgendetwas kleines hartes sie am Rücken traf. Erschreckt wandte sie blitzartig um, ihre Hand zu der Stelle schnellend, wo eigentlich ihr Sax hätte sein sollen. Angespannt scannte sie den Wald hinter sich, konnte aber nichts entdecken. Dann blickte sie nach oben um sicher zu gehen, dass nicht etwas vom Baum heruntergefallen und sie erschrocken hatte. Doch der Baum über ihr war Blatt- und Fruchtlos, sodass sie diesen Gedanken verwarf. Erneut scannte sie ihre Umgebung, konnte aber nichts entdecken...obwohl. HA! Wie oft schon war sie über das leuchtende Haar ihres Bruders froh geworden, dass so einfach in in eine natürliche Umgebung passen wollte. Es waren nur wenige Strähnen, die hinter dem Baum hervorlugten, doch genug um ihn preiszugeben. "Du kannst rauskommen.", meinte sie dann lachend. Doch zunächst rührte sich nichts. "Deine Haare mögen an rote Beeren erinnern, Loki, aber die wachsen nicht an Bäumen, soweit ich weiß." fügte sie daher hinzu, die Strähnen verschwanden ganz hinter dem Baum aber nur einen Moment später trat ihr Bruder, der eingesehen zu haben schien, dass er entdeckt worden war, hinter dem Baum hervor und lächelte sie an. Sie rannte auf ihn zu, entschlossen ihm eine Kopfnuss zu erteilen, doch er war schlichtweg zu stark und zwang sie lauthals lachend in eine Umarmung und wirbelte sie herum, wie er es schon unzählige Male gemacht hat. "Du Troll! Ständig musst du mich erschrecken!" rief sie, so gut es unter dem atemraubenden geschleudert werden eben ging. Doch auch sie musste lachen und wusste genau, dass ihr Bruder nur zu gut wusste, dass sie es ihm keineswegs übelnahm.


    Lachend drehten sie sich so im Wald, bis Loki auf einmal abrupt anhielt. Von dem Schwindel noch irritiert blickte sie zunächst auf den Boden, um ihr Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Ein gurgelndes Geräusch veranlasste dann, hochzublicken. "Was...", doch die Worte blieben in ihrem Hals stecken. Auf einmal war der Wald nicht mehr Licht und Grün, sondern kalt, grau und Nebelverhangen. Sie schaute zu ihrem Bruder und trat vor Schreck einen Schritt zurück. Das gurgelnde Geräusch kam von ihm. Er schien etwas sagen zu wollen, während ihm Blut aus dem Mund lief. Sie blickte an ihm herab und sah ein Schwert in seiner Schulter stecken, während er seine Hand nach ihr ausstreckte. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Eine Macht schien sie festzuhalten, ihre Glieder waren wie gefroren. Aus panischen Augen blickte Loki sie an, noch immer durch das Blut in seinem Mund hindurch Worte formend und ging in die Knie. Sie schrie, so sehr, dass ihr Hals schmerzte, doch kein Geräusch hallte in dem Wald wieder. Einsame Stille, bis auf die Geräusche ihres Sterbenden Bruders. Doch endlich konnte sie sich losreißen, rannte zu ihm und hielt ihn an den Schultern, um ihn am Umfallen zu hindern. Sie blickt auf das Schwert in seiner Schulter, als sich die Geräusche auf einmal wandelten.


    Sie blickte wieder zu ihrem Bruder, doch es war nicht mehr ihr Bruder, vor dem sie kniete. Es war sein Mörder. Ebenso von Blut überströmt, aber das Gesicht zu einer fürchterlichen Fratze verzerrt. Er starrte sie an, als könnte er in ihre Seele sehen. Er weidete sich an dem Leid und der Furcht in ihr und auf einmal fing er an zu lachen. Ein schrilles, schreckliches, hämisches Lachen, das sogleich den Wald erfüllte und wiederhallte, als wäre es überall um Eila herum. "NEEEEIIN!"... schrie sie und begann um sich zu schlagen.


    Sie schlug die Augen auf, ihre Arme immer noch um sich schlagend, mit rasendem Herzen, tränenfreuchtem Gesicht und schweißgebadet. Es dauerte einige Momente, bis sie erkannte, dass sie in ihrem Bett in ihrem Zimmer der Casa Duccia lag. Und weitere Moment, bis ihr Puls und ihr Atem sich ein wenig beruhigt hatten. Aber noch immer zitterte sie am ganzen Leib. Sie spürte den Drang, sich an jemanden anzulehen. An ihren Bruder. Aber ebenso erleichternd wie die Erkenntnis, dass dies ein Traum gewesen war, ebenso hart traf sie ein ums andere Mal die Erkenntnis, dass ihr Bruder wirklich tot war. Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Nachthemds die Tränen weg, lehnte sich an einen Bettpfosten und zog die Decke an sich. Die Träume waren seltener geworden, aber nicht weniger grausam. Kurz nach Lokis Tod hatte sie beinahe jede Nacht schreckliche Träume gehabt, dann einmal die Woche. Mittlerweile suchten diese sie meist nur noch alle paar Wochen heim. Es war so viel Zeit vergangen, das Leben war weitergegangen, aber sie hatte sich noch immer nicht mit dem Tod ihres Bruders abfinden können. Es schmerzte noch immer und würde, so hatte sie das Gefühl, wohl nie aufhören. Sie schlug die Decke zur Seite und raffte sich auf. Auch wenn die Sonne noch nicht aufgegangen war, wusste sie, dass sie ohnehin keinen Schlaf mehr finden würde, aus Furcht, dass der Traum zurückkehren könnte.


    Sie streifte ihr verschwitztes Nachthemd ab und beugte sich über die Waschschüssel. Mit dem kühlen Wasser darin begann sie den Schweiß und die schrecklichen Gedanken abzuwaschen. Sie streifte ein einfaches Unterkleid über, fuhr sich kurz durch die offenen zerstrubbelten Haare und wickelte sich eine dicke Decke um die Schultern, bevor sie ihr Zimmer verließ, um sich zum großen Balkon zu schleichen.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!