Seiana grinste, konnte aber nicht verhindern, dass sie leicht rot wurde. „Appius, du übertreibst. Davon abgesehen bist du mein Bruder, du musst das sagen. Aber danke.“ Sie stellte sich kurz auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, dann ließ sie beide eintreten und rückte Appius einen Sessel zurecht, bevor sie ihm ebenfalls einen Becher Wein einschenkte und ihm diesen reichte. Danach machte sie es sich ebenfalls bequem, nippte an ihrem Wein und schüttelte auf Faustus’ Frage hin den Kopf. „Nein, ich wusste nicht dass du nach Germanien bist.“ Wie auch, Appius hatte sich nicht mehr gemeldet, nachdem er verschwunden war, genauso wenig wie Faustus – und im Gegensatz zum Jüngsten der Familie hatten die Kontakte ihrer Mutter über den Zweitältesten nichts herausfinden können, oder sie hatte es nicht mitbekommen.
Die Beine inzwischen wieder angezogen, gelegentlich einen Schluck Wein trinkend, lauschte Seiana den Erzählungen von Appius, und musste unwillkürlich den Aelier denken, der ihr ebenfalls von Germanien berichtet hatte. Archias war aber schnell aus ihren Gedanken verschwunden, als Appius davon sprach, dass er verliebt gewesen war. Betroffen hielt sie inne, als er einen Unfall erwähnte – aber es gab nur einen kurzen Moment, in dem er die Fassung zu verlieren schien, dann sprach Appius bereits weiter, ging darüber hinweg, als wenn es nichts wäre, schien nicht darüber reden zu wollen… Und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Appius hatte sie noch länger nicht mehr gesehen als Faustus, und auch wenn sie ein gutes Verhältnis hatten, war es doch nicht so eng wie das zu ihrem jüngsten Bruder. Sie musste feststellen, dass sie schlicht nicht wusste, was sie sagen könnte, um Appius auch nur zu verdeutlichen, dass sie da war, wenn er sie brauchte… und sie fühlte sich auf einmal hilflos. Der Blick, den sie Faustus zuwarf, drückte genau das aus: Hilflosigkeit. Sollte sie das tun, was Appius offenbar das liebste war, nämlich darüber hinweg zu gehen? Oder sollte sie ihm wenigstens sagen, dass er darüber reden konnte, wenn er wollte – vielleicht dachte er ja, sie würden nichts hören wollen darüber…
Seiana biss sich kurz auf die Unterlippe, dann zwang sie sich zu einem Lächeln. „Es klingt aufregend, was du erlebt hast.“ Einen Moment zögerte sie noch, dann gab sie sich einen Ruck. Sie hatte nie ein Blatt vor den Mund genommen, und auch wenn sie in den letzten Jahren gelernt hatte, wann es besser war – in den meisten Fällen hieß das, wann es sich für eine Frau gehörte – zu schweigen, betraf das doch nicht ihre Brüder, egal wie lange sie sie nicht gesehen hatte. „Hör mal… es tut mir leid, was du erlebt hast. Was der Frau passiert ist, die du geliebt hast. Ich weiß nicht, ob du darüber reden willst oder nicht, aber wenn du willst, dann kannst du das. Ich möchte nur, dass du das weißt.“