• Ich hörte gespannt und aufmerksam zu, wie Marcus von jenem fernen Ort erzählte. Vieles von dem, was er erzählte erinnerte im Prinzip an Rom und erweckte den Eindruck, dass es sich tatsächlich um ein zivilisiertes Reich handelte. Anderes war mehr als nur befremdlich. Die Idee, Untergebene und Untertanen vor sich knien zu lassen gefiel mir allerdings sehr. Das war etwas, was ich vielleicht hier im Haus auch einführen sollte.


    Ich merkte gar nicht, wieviel Zeit verging, und als Marcus fragte, ob ich ihn zum Tor der Basileia geleiten würde, wollte ich bereits antworten, als sich Axilla einmischte und ihm ein Gästezimmer anbot.
    Sicherlich war es möglich ihn hier über nacht als Gast zu haben, doch lag es sicherlich nicht in Axillas Macht ihm das anzubieten, schliesslich war nicht sie die Hausherrin, sondern ich. So warf ich ihr einen vorwurfsvollen und auch massregelnden Blick zu, bevor ich selbst etwas dazu sagte.


    Natürlich geleite ich dich gern später zum Tor.

  • Ich musste bei Axilla's Vorschlag innerlich schmunzeln, auch wenn ich mir äußerlich nichts anmerken ließ. Urgulania's tadelnden Blick, den sie Axilla zuwarf, bemerkte ich zwar, ignorierte ihn aber. Auf ihre Antwort hin lächelte ich allerdings erfreut.


    "Ich danke dir, Urgulania."


    Dann wanderte mein Blick zu Axilla.


    "Du vermisst deinen Vater sehr, oder?" fragte ich verständnisvoll und irgendwie wissend. "Sonst würdest du dich nicht um seine Rüstung kümmern, sondern einen Sklaven die Arbeit machen lassen," fügte ich als Erklärung hinzu. Ich hoffte, dass ich damit keine seelischen Wunden aufriss. Vielleicht hätte ich das für mich behalten sollen? Es war mir irgendwie herausgerutscht. "Tut mir Leid, ich hätte das nicht sagen sollen."


    Um die Stimmung nicht kippen zu lassen, wandte ich mich wieder an Urgulania - Themenwechsel!


    "Wenn ich noch etwas länger bleibe... ähm... ich falle euch dabei nicht zur Last, oder?"

  • Ohweia, Urgulania schaute aber streng. Axilla schrumpfte bei dem Blick gleich noch mal ein wenig zusammen. Sie wusste ja schon, dass ihr Vorschlag nicht angebracht war, aber da war es schon zu spät dafür gewesen. Sie wollte gerade ein wenig Schadensbegrenzung betreiben, als Marcus sie mit seiner Frage völlig aus dem Konzept brachte.
    Sie schaute ihn nur stumm an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Was sollte sie ihm jetzt sagen? Die Wahrheit? Dass es keinen Tag gab, an dem sie nicht von ganzem Herzen wünschte, er würde noch leben? Dass er der beste Vater war, den ein Kind sich nur vorstellen konnte? Dass sie ihn geliebt hatte wie einen Gott und die Erkenntnis, dass er tot war, ihr jedes Mal von neuem das Herz aufriss wie ein rostiges Schwert? Dass sie darüber noch nicht einmal sprechen wollte, weil sie dann nicht so fröhlich und unbekümmert sein konnte, wie sie sich gerne selbst gab? Wollte er das wirklich wissen?
    Nein, bestimmt nicht, so etwas wollte niemand hören. Alle wollten immer hören, dass es einem gut ging und man schon darüber hinwegkommen würde, dass der Schmerz mit der Zeit leichter wurde. Wurde er aber nicht. Sollte er auch gar nicht. Sie wollte ihren Vater nie vergessen.
    Das er sich gleich darauf entschuldigte, nahm ihr glücklicherweise den Zwang, etwas sagen zu müssen. Sie ließ es einfach auf sich beruhen und sagte nichts dazu. Ihre Stimme wäre jetzt vermutlich auch nicht dazu geeignet gewesen, groß etwas zu sagen. Und daher war es ihr auch doppelt recht, dass sie nicht auf seine andere Frage antworten wollte. Urgulania hätte sie bestimmt noch viel tadelnder angeblickt, wenn sie darauf geantwortet hätte. Immerhin war sie das jüngste Mitglied der Familie und nicht die Herrin des Hauses.

  • Ich lächelte unseren Gast an.
    Mitnichten fällst du uns zur Last. Wie könntest du auch? Wir sind eigentlich immer froh darüber Gäste im Haus zu haben, nicht wahr Axilla?
    Ich schaute kurz zu meiner jungen Verwandten hinüber, gab ihr jedoch keine wirkliche Gelegenheit zur Antwort, sondern fuhr direkt fort.
    Aber vielleicht sollten wir, während wir deinen Geschichten weiterlauschen, etwas essen. Denn ich muss gestehen, dass ich seit heute früh nichts wirkliches mehr zu mir genommen habe.

  • Ich lächelte höflich.


    "Dann solltest du aber unbedingt etwas essen. Es ist nicht gut für den Körper, wenn man hungrig bleibt. Ich für meinen Teil benötige übrigens nicht viel. Etwas Brot genügt mir als abendliches Mahl. Und während dem Essen kann ich ja ein wenig von meiner Stadt sprechen und was ich dort erlebt habe. Von Indien werde ich dann ein anderes Mal berichten. Das ist, denke ich, ebenso abendfüllend."

  • Einen Augenblick überlegte Axilla, ob sie sich einfach zurückziehen sollte. Sie hatte grade keinen Hunger mehr, und vermutlich war ihre Gesellschaft im Moment nicht besonders erquickend. Aber wahrscheinlich wäre Urgulania dann richtig böse geworden. Immerhin hatte sie einen Gast zum Essen eingeladen, und Axilla war Teil dieses Hauses und unter Urgulanias Obhut. Da konnte sie ihre Cousine mit einer Unhöflichkeit nicht so vor den Kopf stoßen, vor allem, da sie ja sonst sehr viel für Axilla ermöglichte. Also versuchte sie, sich so gut es eben ging zusammenzureißen, und lächelte Marcus einmal freundlich zu. Auch wenn keine wahre Fröhlichkeit darin war, so gut konnte sie jetzt nicht schauspielern.

  • Ich nahm einen Schluck Posca, während Urgulania einem Sklaven ein Zeichen gab, dass Essen gebracht werden sollte. Ein kurzer Blick zu Axilla zeigte mir, dass ich das mit ihrem Vater besser nicht erwähnt hätte. Das war seit langem die erste unbedachte Äußerung von mir und jetzt wusste ich wieder, warum ich besser zweimal nachdenken sollte, bevor ich etwas sagte.


    Schließlich fuhr ich mit meiner Erzählung fort.


    "Der Ort, dessen Statthalter ich wurde, heißt An'Chù. Das bedeutet so viel wie "Ort des Friedens". Das hörte sich erstmal ganz nett an und so war ich frohen Mutes, als ich dort ankam. Der Empfang war so, wie es üblich ist. Die Beamten waren alle im Statthalterpalast und verbeugten sich vor mir bei meiner Ankunft. Das war der zeitpunkt, wo mir klar wurde, dass ich jetzt die Verantwortung für diese Stadt hatte. Ich ganz allein. Ich traf mich erstmal mit den führenden Beamten der Stadt und besprach die allgemeine Situation. Es gab ein Problem mit Korruption und es gab so etwa zwei- bis dreimal im Jahr Überfälle von Barbaren. Die 200 Soldaten, die dort stationiert waren, konnten auch nicht viel dagegen machen, weil die Barbaren fast immer mit drei- bis vierfacher Übermacht angriffen. So viel also zum Namen "Ort des Friedens"." Ich lachte kurz sarkastisch. "Stadtmauern gab es übrigens keine. Ich beschloss, erstmal das Problem mit der Korruption zu lösen und befahl dem Kommandant der Garnison, das Training der Soldaten zu verbessern.


    Für beides hatte ich recht wenig Zeit. Nur einen Monat, nachdem ich dort war, griffen die Barbaren an. Es waren zum Glück nur etwa 500. Ich ließ die 120 Lanzenträger zwischen den Barbaren und der Stadt Aufstellung nehmen, während die 50 Bogenschützen alles beschossen, was nach Barbar aussah. Ich selbst wartete mit den 30 berittenen Soldaten dahinter und übernahm persönlich das Kommando. Die Barbaren waren wohl anderes gewohnt und waren deshalb etwas verwirrt darüber, aber schließlich griffen sie an. Übrigens waren sie fast alle beritten. Ich gab den Lanzenträgern den Befehl, die Reihen zu halten, schickte die Bogenschützen in die Häuser und ritt mit der Kavallerie einen Bogen um den Feind herum, um ihnen in die Flanke zu fallen. Als ich sah, dass die Barbaren mit den Lanzenträgern im Nahkampf waren, bemerkte ich eine Gruppe von zehn Reitern, die hinter dem ganzen Geschehen wartete - der Anführer und sein Gefolge! Ich stürmte mit der Kavallerie darauf zu und es gab eine ziemliche Verfolgungsjagd, aber schließlich erwischte ich die Gruppe und nach kurzem Kampf, bei dem ich nur zwei Soldaten verloren hatte, waren Anführer und Gefolge der Barbaren tot. Ich ließ allen die Köpfe abschlagen und wir ritten zurück und warfen die Köpfe in die Barbarenhorde. Dann gab es ein großes Geschrei und sie zogen sich zurück. Das war auch gut so, denn von meinen Lanzenträgern waren nur noch 8 am Leben. Das war also meine erste Schlacht. Die Stadt war gerettet und die halbe Garnison tot. Kein besonders gutes Ergebnis, aber da ich gegen eine Übermacht gesiegt hatte gab mir das ein gewisses Ansehen in der Provinz. Genügend Ansehen, um von General Liu Meng die Erlaubnis zu erhalten, seine Tochter zu heiraten. Ich hatte bereits ein Jahr zuvor um ihre Hand angehalten... sie war hübsch, gebildet und von ruhigem Gemüt. Und irgendwie war es Liebe auf den ersten Blick. Meine Liu Jiao..."


    Ich lächelte verträumt. Das war vermutlich die schönste Zeit meines Lebens, trotz aller Schwierigkeiten.

  • Während Marcus seine Erzählung fortsetzte, brachte ein Sklave uns etwas zu Essen. Es war nicht viel, etwas Brot, Käse, ein wenig Fleisch und ein Schälchen mit Garum.
    Er setzte es auf dem gleichen Tischchen ab, wo bereits die Getränke standen und zog sich dann zurück.


    Ich nahm mir ein Stückchen Brot mit etwas Käse.

  • Ich war mir nicht sicher, ob ich mehr über meine Tätigkeit als Statthalter berichten sollte oder mehr über Liu Jiao oder über etwas ganz anderes. Meine Herrschaft über die Stadt war eher hart und ich befürchtete, dass Axilla und Urgulania mich für einen grausamen Despoten hielten. Und Jiao... es würde mich unweigerlich dazu führen, mir wieder ihren Tod und den meines Sohnes bewusst zu machen. Doch wovon sollte ich sonst erzählen? Hatten Axilla und Urgulania es nicht verdient, auch von diesen Seiten von mir zu erfahren?


    Während mir diese gedanken durch den Kopf gingen, aß ich erstmal ein Stückchen Brot. Nachdenklich kaute ich darauf herum, während ich versuchte, eine Entscheidung zu treffen.

  • Axilla hatte keinen Appetit und konnte sich nicht wirklich dazu überwinden, etwas zu essen. Sie nahm ein kleines bisschen Brot und kaute etwas lustlos darauf herum. Eigentlich aß sie überhaupt nur etwas, um nicht unhöflich zu sein. Sie hörte Marcus zwar aufmerksam zu, aber in Gedanken war sie bei ihrem Vater. Also dachte sie auch nicht nach, als sie in die Stille hinein plötzlich einfach fragte, was ihr durch den Kopf schoss.
    Die Schlacht bei Gaugamela, oder? Als Alexander auch die Hauptmacht der Perser in der Mitte gebunden hatte und sie von den Flanken angreifen ließ, während er mit seiner Reiterei an der feindlichen Flanke vorbei zu Dareus ritt?
    Als sie aufsah und in die Gesichter von Urgulania und Marcus blickte, merkte sie, dass ihr Gedankensprung zum einen wirr und zum anderen plötzlich war.
    Ähm, ich meine, deine Inspiration bei der Schlacht mit den Barbaren.
    Hoffentlich hatte sie jetzt nicht wieder etwas vollkommen Unpassendes von sich gegeben. Die wenigsten Mädchen interessierten sich für klassische Schlachtaufstellungen, oder wollten darüber diskutieren. Axilla hoffte, Urgulania nahm das ganze nicht zu streng. Immerhin zeugte es ja auch von Axillas Bildung.

  • Ich nickte anerkennend. Axilla hatte das absolut richtig erkannt, woher ich die Inspiration für das Manöver hatte.


    "Ganz genau. Auch Alexander war in Unterzahl und hatte die Stärke der Perser im Zentrum der Schlachtordnung gegen sie genutzt."


    Ich dachte einen Moment lang nach, bevor ich wieder zu meiner Erzählung zurückkehrte.


    "Nach der Schlacht gegen die Barbaren führte ich ein paar Änderungen ein. Zunächst erneuerte ich die Lanzenträger nicht. Statt dessen stockte ich die Zahl der Bogenschützen von 50 auf 120 auf und die Kavallerie von 30 auf 80 Mann. Außerdem ließ ich eine Stadtmauer aus Lehm errichten, etwa so hoch wie zwei Männer. Weil es an Arbeitern fehlte, befahl ich, dass jeder männliche Einwohner der Stadt zwei Stunden täglich beim Bau helfen musste. Selbst meine Beamten nahm ich von dieser Pflicht nicht aus und auch ich selbst arbeitete jeden Tag zwei Stunden an der Mauer. Sie war erstmal nur aus Lehm, weil die Bearbeitung der Steine zu lange gedauert hätte. Dadurch, dass ich selbst auch an der Mauer gearbeitet habe, konnte niemand etwas gegen die Zwangsverpflichtung sagen. Ich ließ nur zwei Gründe gelten, nicht beim Bau mitzuhelfen: Entweder man war krank oder man pflegte einen Kranken. Beides musste von Beamten bestätigt werden. Die Beamten wussten nicht, dass ich sie persönlich überprüfte, und so konnte ich etliche bestechliche Beamte der Korruption überführen.


    Ich hielt es für nötig, die Korruption möglichst schnell in den Griff zu kriegen, so dass ich immer die Höchststrafe verhängt habe. Das bedeutet Hinrichtung. Überhaupt verhängte ich ab da für alle Verbrechen die jeweilige Höchststrafe. Dadurch sank die Kriminalität sehr schnell, aber ich machte mir auch einige sehr mächtige Feinde. Gleichzeitig stieg dadurch aber der Wohlstand der Stadt, wodurch ich wiederum Freunde gewinnen konnte. Meine Strafen wendete ich unabhängig von der gesellschaftlichen Position des Delinquenten an. Das gab mir den Ruf der Rechtschaffenheit, weil ich niemanden bevorzugte. Außerdem ließ ich den Barbaren verkünden, dass jeder, der das Schwert gegen mich erheben würde, des Todes sei. Wer sich jedoch mir unterwerfen würde, dem würde ich Unterstützung in der Not zukommen lassen.


    Um rechtzeitig vor allem gewarnt zu sein, baute ich ein kleines netz aus Spionen auf, die mich vor allem vor herannahenden barbaren warnen sollten. es war gut, dass ich das gemacht hatte, denn wenige Monate später griffen die Barbaren wieder an. Ich hatte genügend Vorwarnzeit, um die Reiterei in einem nahe gelegenen Tal zu verstecken. Als die Barbaren in Reichweite der Bogenschützen kamen und von einem Pfeilhagel übersät wurden, wussten sie nicht, dass ich mit meiner Kavallerie in ihrem Rücken war. Noch bevor sie die Stadt erreichten, hatten die Pfeile meiner Bogenschützen so viele Tote und Verletzte gefordert, dass die Barbaren den Rückzug antraten. Doch da stand ich ihnen mit meiner Kavallerie gegenüber. Und auf einmal gerieten sie in Panik. Da hatte ich dann leichtes Spiel. Ich konnte sie besiegen und ließ alle gefangenen und verwundeten Barbaren hinrichten. Danach war fast ein Jahr lang Ruhe. Und dieses Jahr sollte das bislang glücklichste in meinem Leben werden."


    Ich nahm einen Schluck Posca, weil mein Mund vom vielen Reden recht trocken war.

  • Die Details der Kämpfe interessierten mich weniger und Axillas Einwurf, der sicherlich nur dazu dienen sollte sie interessanter wirken zu lassen, ignorierte ich. Es war zwar nicht unbedingt normal für ein Mädchen ihrer Herkunft, dass sie sich mit solchen Dingen auskannte, aber bei diesem jungen Exemplar wunderte mich schon lange nichts mehr.
    Marcus' Erzählungen über seinen Kampf gegen die Korruption fand ich hingegen viel spannender. Dass er Höchsstrafen verhängte war ganz nach meinem Geschmack und da er sagte, dass es den Wohlstand der Stadt förderte, konnte ich dem ganzen sogar noch mehr abgewinnen.

  • "Dieses Jahr des Friedens war aus vielerlei Hinsicht für mich ein besonders glückliches Jahr. Korruption und Kriminalität waren, wie schon gesagt, deutlich gefallen und durch meinen zweiten Sieg gegen die Barbaren hatte ich auch noch mehr an Ansehen gewonnen. Außerdem konnte ich mich ein wenig der Stadtentwicklung widmen. Ich ließ zunächst den Statthalterpalast renovieren. Der hölzerne Palast war in etwa so groß wie euer Haus hier, also ist der Begriff "Palast" vielleicht etwas irreführend. Ich benutze ihn aber trotzdem weiter. Der Palast hatte zwei Innenhöfe. Einen zwischen dem Eingang und der großen Halle und einen zwischen der großen Halle und meinen Privatgemächern. Um den äußeren Hof waren die Officia der Beamten angeordnet. Jedenfalls ließ ich den Palast komplett renovieren, also vor allem das Holz neu lackieren und ein paar Vasen aufstellen und Kalligraphien berühmter Texte aufhängen. Außerdem ließ ich den Ahnentempel der Statthalter renovieren und stellte dort einen kleinen Schrein für meine Ahnen und die Ahnen meiner Frau auf. In der Stadt ließ ich den Markt erneuern und die Straßen pflastern und so wurde Stück für Stück aus der Provinzstadt nahe der Grenze ein recht guter Ort zum Leben. Die Barbaren handelten auch mit uns, anstatt uns zu überfallen, und das alles machte mich auch bei den Bürgern beliebt.


    Um mein Glück perfekt zu machen, war meine Frau schwanger. Was kann es schöneres geben als eine Familie zu gründen? Wäre es so geblieben, hätte ich dort bis an mein Lebensende bleiben können."


    Ich trank einen kleinen Schluck.


    "Aber so blieb es leider nicht. Der Provinzstatthalter, mein Mentor, wurde nach zehn Jahren treuer Dienste versetzt, und zwar nach Panyu am anderen Ende des Reiches. Das ist dort üblich, damit man sich keine Machtbasis aufbaut und dem Kaiser gefährlich wird. Es war schon etwas Besonderes, dass er überhaupt zehn Jahre Statthalter war. Normal sind höchstens fünf. Sein Nachfolger war, so wie ich, ein entschiedener Gegner der Korruption und wir verstanden uns von Anfang an recht gut. Insofern war blieb alles gut. Auch als mein Schwiegervater ein neues Kommando erhielt, nämlich 1000 Meilen weiter östlich, war noch alles in Ordnung. Natürlich wagten sich meine Feinde nicht vor, so lange mein Schwiegervater binnen einer Woche mit 30.000 Mann vor der Stadt stehen konnte, aber auch, als er weg war, fürchteten sie um meine guten Kontakte zu den Truppen und zum Provinzstatthalter. Beides zusammen war zu gefährlich für sie. Natürlich hatte ich Feinde, denn der Kampf gegen Korruption und Kriminalität machte für sie das Leben ziemlich unangenehm.


    Schwierig wurde die Situation erst, als meine Frau bei der Geburt meines Sohnes starb. Mein Sohn starb am Tag darauf. Einige meiner Feinde streuten das Gerücht, dass dies ein Zeichen der Götter war. Sie sahen jetzt die Zeit zum handeln gekommen. Insgeheim stachelten sie die Barbaren gegen mich auf und ermunterten sie zu einem Angriff auf die Stadt. Sie taten das, weil ich in den ersten beiden Schlachten die schlechte Eigenschaft hatte, ganz vorne bei meinen Truppen mitzukämpfen. Sie hofften, dass ich so in der Schlacht getötet würde und sie mich loswürden. Womit sie nicht gerechnet hatten, war, dass ich von den Angriffsplanungen der Barbaren erfahren hatte - dank meinen Spionen. Deshalb griff ich die Barbaren an, als ihre Anführer noch ihren Angriff planten. Ich schaffte es, die Anführer gefangen zu nehmen und sie nannten mir die Verräter, die ich dann sofort hinrichten ließ. Diesmal war ich aber zu hart in der Bestrafung, weil ich ein altes Gesetz anwendete, das auch die Hinrichtung der Familien erlaubte. Ich bin mir nicht sicher, warum ich diese Härte an den Tag legte, aber ich denke, dass die Trauer über den Tod meiner Frau und meines Sohnes und der Zorn darüber, dass sie es wagten, den Tod meiner Frau und meines Sohnes gegen mich zu verwenden, mich dazu brachten. Hinterher hatte ich es bereut, aber mein Ansehen unter den Bürgern der Stadt war deutlich gesunken. Vorher verehrten sie mich, jetzt fürchteten sie mich."


    Man merkte mir an, dass ich meine Entscheidung von damals bereute. Sie fügte mir immer noch seelische Qualen zu, obwohl es nun mehr als fünf Jahre her war. Vielleicht verstand Axilla jetzt, warum ich mir selbst nicht verzeihen konnte. Vielleicht verstand sie jetzt, warum ich mich für einen schlechten Menschen hielt.


    "Ich hätte die Hinrichtung der Familien noch verhindern können, aber dann hätte ich meine Glaubwürdigkeit verloren. Ein Jínshí hat seine Befehle immer gut durchdacht, deshalb irrt er sich nicht. Ich war éin Jínshí. Ich bin es noch immer."


    Meine Worte klangen traurig und ein wenig trotzig zugleich. Meinen inneren Zwiespalt konnte ich nicht verbergen.

  • Seinen Ausführungen zum Handel und der Verhältnis von Strafen zum Wirtschaftswachstum konnte Axilla nicht wirklich folgen. Dafür hatte sich Axilla nie wirklich interessiert und es war ihr auch nie wirklich beigebracht worden. Da lagen ihr Schlachtpläne und Gedichte – wenn dies auch eine seltsame Mischung war – eindeutig besser. Daher schwieg sie auch bei Marcus’ Erzählungen und versuchte einfach, aufmerksam zuzuhören.
    Urgulania sagte auch nichts. Überhaupt erschien sie Axilla heute sehr schweigsam, abgesehen von der tadelnden Bemerkung gegen Axilla hatte sie noch irgendwie nichts gesagt. Ein bisschen komisch kam das Axilla schon vor, aber sie konnte ja schlecht fragen, wieso ihre Cousine heute so wortkarg war, noch dazu vor einem Gast.


    Und dann kam’s. Axilla schaute auf und blickte zu Marcus hinüber. Die Strafe, die er verhängt hatte, tat ihm aufrichtig leid, das konnte sie hören. Ihr fiel ihr Gespräch im Perystilum wieder ein, als er meinte, er sei ein schlechter Mensch. Hatte er deswegen so eine schlechte Meinung von sich selbst? Sicher, es war grausam gewesen, was er getan hatte, Axilla war viel zu weichherzig um das anders zu sehen. Aber wenn er es bereute, dann hieß das doch eher, dass er eben kein schlechter Mensch war?
    Andererseits hatte er auch gesagt, Menschen seien nur Staub. Axilla war mit dieser Aussage nach wie vor nicht einverstanden. Aber wenn er meinte, er sei nur unwürdiger Staub, vielleicht konnte er sich deshalb nicht vorstellen, etwas zu tun, das diese schlechte Tat wieder aufwog? Staub konnte ja schlecht ein ehrenvolles Leben führen.
    Aber für Axilla hieß das nur, er war ein Mensch. Alle Menschen machten Fehler. So war das nun mal. Sie hatte auch eine Menge Fehler, und sie beging ständig neue. Einige davon bereute sie noch nicht einmal. War sie deshalb ein schlechter Mensch? Wäre sie ein besserer Mensch, wenn sie nicht mit Silanus im Balneum gewesen wäre? Oder wäre sie ein besserer Mensch, wenn sie sich nicht auf diese Liaison mit Thimótheos einlassen würde? Sie war ein Mensch, sie machte Fehler, und dasselbe gestand sie auch Marcus zu.
    Axilla hätte gerne mit ihm darüber gesprochen, aber nicht vor Urgulania. Am Ende würde sie dann noch von beiden in die Mangel deswegen genommen, und darauf konnte sie gut verzichten. Und alles konnte sie ihm ohnehin nicht sagen, sie konnte ihr Leben nicht als Beispiel anführen. Das wäre dann doch zu riskant gewesen.
    Also blickte sie nur einmal zu Marcus hinüber, ihm direkt in die Augen. In ihren lag kein Vorwurf, nur Verstehen. Sie bemitleidete Marcus nicht, also wollte sie bei ihm auch nicht diesen Eindruck erwecken. Aber sie mochte ihn nach wie vor, auch wenn er das getan hatte. Für sie war er kein schlechter Mensch, und wenn sie ihm das jetzt so auch nicht sagen konnte, wollte sie doch, dass er es wusste. Und sei es nur durch einen kurzen, einfachen Blick.

  • Die Erzählungen über die Renovierungen und Modernisierungen waren zwar wirklich interessant, aber dennoch war es etwas anderes, das meine Aufmersamkeit auf sich zog.
    Während ich auch die Erzählungen über die Kämpfe weiterhin mehr erduldete als genoss, waren seine Ausführungen über die im Folge der Kämpfe stattfindenden Strafen viel interessanter und auch ein Stück weit spannender. Ich konnte natürlich auch sehen und hören, dass er seine Entscheidung bereuhte, doch konnte ich es nur bedingt verstehen. Es handelte sich um Verräter, die auf jeden Fall hingerichtet gehörten. Und die Hinrichtungen an ihren Familien waren, in meinen Augen, ein äusserst raffinierter Schachzug, war doch weitläufig bekannt, dass Familien dazu tendierten Rache üben zu wollen, wenn einer der ihren hingerichtet wurde.

    Furcht ist aber meist eine viel sicherere Machtbasis als es Verehrung ist. Das ist eine unumstößliche Tatsache, die sich immer wieder bestätigt. Daher solltest du deine Entscheidung nicht bereuen.

  • Ich nahm Axilla's Blick nur kurz wahr, aber lange genug, um zu erkennen, dass sie mich verstand. Zu meinem Erstaunen war kein Vorwurf und auch kein Mitleid in ihrem Blick zu erkennen. Möglicherweise hatte ich sie falsch eingeschätzt? Vielleicht war sie geistig ja schon viel reifer als ich es für eine Frau in ihrem Alter für möglich hielt?


    Urgulania's Kommentar traf eine meine damaligen Überlegungen, aber inzwischen hatte ich mir genug Gedanken darüber gemacht, um eine andere Sichtweise zu haben.


    "Das ist leicht gesagt, Urgulania, aber wenn man einmal die Hinrichtung eines dreijährigen Kindes befohlen und angesehen hat, dann denkt man anders."


    Ich hatte das Bild wieder vor meinem geistigen Auge. Der Soldat, der die Hinrichtung durchführen sollte, kam auf mich zu und bat mich, das Leben des Kindes zu verschonen. Ich lehnte ab. Das Kind weinte, die Eltern schrien und weinten. Der Soldat zog sein Schwert und sah mich fragend an. Ich stand nur ohne jedes Gefühl da und bestätigte den Befehl...


    Ich leerte das Glas mit Posca und sah Urgulania an. Erst nachdenklich, dann freundlich sah ich sie an.


    "Furcht ist als Machtbasis übrigens nicht so sicher, wie man denkt. Wenn man verehrt wird, dann wird das Volk sich freiwillig gegen die Feinde stellen. Wird man gefürchtet, so wird das Volk sich nur unter Zwang gegen die Feinde stellen oder sogar auf Seiten der Feinde kämpfen, um die Ursache seiner Furcht zu beseitigen. Dass mich meine Feinde vor mir gefürchtet haben, hat mir nichts ausgemacht. Im Gegenteil, das war beabsichtigt. Aber dass sich alle vor mir gefürchtet haben, das hat meine Position geschwächt."

  • Ich schüttelte leicht den Kopf.
    Du hast selbst erlebt, wie das mit der Verehrung ist. Eine einzige Entscheidung, deren Gründe das Volk nicht versteht, eine einzige Tat, die in den Augen des Volkes nicht ganz fein ist und schon verehren sie einen nicht mehr.
    Es war ein Stück weit auch das, womit ich mich im Moment Tag für Tag beschäftigte, denn ich war die einzige Person, der die Alexandriner die Schuld geben würden, wenn sie nicht genügend Getreide bekämen. Ich hatte bei meinen Inspektionen der Getreidespeicher genügend arme und fast verhungerte Kinder gesehen, die irgendwo im Rhakotis-Viertel in Behausungen lebten. Immer wieder kam in mir der Wunsch auf ihnen einfach sofort einen Sack Getreide zu geben um ihren Hunger sofort zu beenden, doch immer wieder siegte bei mir die Vernunft über diesen Impuls. Wenn ich jedem dieser Kinder einen Sack geben würde, hätte am Ende die Stadt nicht mehr genug für alle anderen und das wäre dann meine Schuld.
    Ich habe nie Kinder hinrichten lassen, aber genügend Kinder, die mich an den Getreidespeichern angebettelt haben, dass ich ihnen etwas zu Essen gebe, sind vermutlich bereits verhungert, weil ich das grosse Ganze vor Augen haben muss und nicht das Wohl aller Alexandriner zurückstellen kann für eine Hand voll hungriger Kinder die im Armenviertel vermutlich sowieso Recht bald an Krankheiten sterben würden.
    Es war sicherlich nicht das Gleiche, wie die Hinrichtung von Kindern zu befehlen, aber dies hätte auch nicht in meiner Macht gelegen, denn als Frau wäre ich nie mit solchen Entscheidungen konfrontiert worden. Aber ein verhungerndes Kind zu sehen, zu wissen, dass es durch meine Entscheidung sterben wird, war für mich als Frau nicht weniger schlimm, denn auch wenn ich selbst keine Kinder hatte, war ich dennoch mit jenem Mutterinstinkt ausgestattet, der jeder Frau innewohnt.
    Ein Volk, dass sich mit seinen Feinden verbündet um den eigenen Herrscher zu bekämpfen, hat nicht verdient weiterzubestehen. Als Statthalter der Stadt wurdest du von ihrem Kaiser eingesetzt um als sein Vertreter über sie zu herrschen und allem was du erzählst hast nach zu urteilen, scheint ihr Kaiser dem unsrigen nicht unähnlich zu sein und damit sicherlich auch durch den Willen der Götter auf seinem Thron sitzen.
    Demnach wäre ein Aufstand gegen den Vertreter des Kaiserlichen Willens auch einer gegen den Göttlichen Willen und könnte nur mit der Vernichtung des Volkes bestraft werden.

  • Ihre Argumente hatten durchaus etwas für sich. Und irgendwie war eine philosophische Diskussion jetzt genau das, was ich brauchte, um mich abzulenken.


    "Herrschaft ist wie Kriegskunst. Man hat Gegner, gegen die man sich durchsetzen muss. Man kann Kriege mit Grausamkeit gewinnen oder mit besseren Waffen, aber die höchste Kunst des Krieges besteht darin, den Gegner hilflos zu machen, ohne zu kämpfen. Dieses Ideal erreichen nur wenige, aber es gibt sie. So ist es auch mit der Herrschaft. Wäre ich wirklich vortrefflich gewesen, dann hätte ich nicht grausam sein müssen."


    Natürtlich war mir klar, dass man nur im Verhindern von Kriminalität einen solchen Erfolg haben konnte. Wenn die Kriminalität schon existierte, musste man hart durchgreifen.


    "Es geht um die Vollendung der Kriegskunst. Dem Ideal des vollendeten Kriegers bin ich nicht gerecht geworden. Denn der vollendete Krieger siegt, ohne zu kämpfen, indem er Probleme erkennt und löst, wenn sie noch klein und unbedeutend sind."


    Ich zuckte mit den Schultern.


    "Natürlich hat ein aufständisches Volk die Vernichtung verdient, aber ich war kurz davor, sie zu vernichten, weil ich glaubte, das sie möglicherweise irgendwann aufständisch werden könnten. Sozusagen eine prophylaktische Vernichtung, bevor sie überhaupt die Möglichkeit hatten, auch nur einen Gedanken an einen Aufstand zu verschwenden. Ich wurde paranoid, was auch dadurch gefördert wurde, dass Attentate auf mich verübt wurden. Schließlich bat ich den Kaiser, für einen von mir selbst gewählten Zeitraum ins Exil gehen zu dürfen. Er gestattete mir 18 Jahre. Danach verließ ich Han, aber nach Süden, Richtung Indien. Aber das ist eine andere Geschichte."

  • Ich bin nur eine Frau, ich verstehe nichts von der Kriegskunst.
    gab ich zu Bedenken, bevor ich fortfuhr.
    Aber es grenzt doch schon fast an die Schaffung eines Utopias, wenn man dem von dir beschriebenen Ideals nachhängt. Es ist schier unmöglich jedes noch so kleine Problem zu lösen, bevor es tatsächlich da ist. Das könnten nur die Götter bewerkstelligen, aber kein einfacher Mensch.
    Und dass er nur ein Mensch war, hatte Marcus durch seine Taten bereits bewiesen.
    Eine prophylaktische Lösung darin zu suchen, das Volk in seiner Gesamtheit zu vernichten, bevor es den Aufstand beginnt, wirkt zwar auf den ersten Blick wie eine gute Lösung um aufkommende Probleme schon im Vorfeld zu lösen, aber es schafft auch den Konflikt, dass man niemals sicher sein kann, ob ein Problem auftritt, bevor es auftritt.

  • "Das wurde mir dann auch bewusst. Und weil ich so kurz davor stand, die Stadt entvölkern und neu besiedeln zu lassen, hatte ich mich dafür entschieden, meine Macht aufzugeben und ins Exil zu gehen. Zu dem Zeitpunkt musste ich Abstand gewinnen, sonst wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich den Befehl zur Entvölkerung gegeben hätte."


    In meinen Augen und meinem Gesichtsausdruck war kurz eine gnadenlose Härte zu sehen. Es bestand kein Zweifel darin, dass ich problemlos die Hinrichtung Tausender befohlen hätte. Dann entspannten sich meine Gesichtszüge wieder und ich bekam wieder meinen üblichen, höflichen Ausdruck.


    "Wie dem auch sei, diese Zeiten sind vorüber und inzwischen habe ich genug von der Welt gesehen, um andere Lösungen zu finden. Ich hatte die Möglichkeiten der Spionage nicht vollständig genutzt, deshalb war ich gezwungen, offene Gewalt anzuwenden. Das würde ich jetzt anders machen."

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