• Ich lächelte höflich.


    "Natürlich. Zuerst einmal würde ich es einem meiner Gegner ermöglichen, einen Spion in meinen Reihen zu positionieren. Der würde von mir Informationen erhalten - richtige, die für mich keine Bedeutung haben, und falsche, die aber bedeutsam aussehen. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass der Spion nicht weiß, dass ich weiß, dass er ein Spion ist. Gleichzeitig würde ich eine Situation schaffen, in er zwei Gegner in Konkurrenz zueinander treten. Die anderen Gegner würden durch Spione von mir informiert, dass die beiden in einer Konkurrenzsituation sind. Dann würde ich einen von beiden ermorden lassen. Das würde dann so aussehen, dass der Überlebende einen Konkurrenten aus dem Weg geräumt hat. Zwischen ihm und einem anderen muss dann erneut eine Konkurrenzsituation entstehen. Außerdem müssen sie beide einen deutlichen Vorteil bekommen, wenn die Situation entschieden ist. Einer von beiden wird zwangsläufig zuerst losschlagen, um die Situation zu ereinigen, bevor es sein Leben kostet. Dadurch fühlt sich der Rest bedroht. Die Situation eskaliert und sie bekämpfen sich irgendwann öffentlich. Natürlich müssten meine Spione dafür sorgen, dass die Situation auch wirklich eskaliert. Ein Unfall hier, ein Mord dort..." Ich zuckte mit den Schultern. "Der Spion, der mich auskundschaften soll, würde dann erfahren, dass ich die Situation als harmlos einschätze und mit den Truppen zu einem Manöver aufbreche. Offiziell würde ich das auch, nur dass ich immer in der Nähe und informiert bleiben würde - was meine Gegner aber nicht wüssten. Dadurch fühlten sie sich ebstärkt, das Ganze in einen Bandenkrieg ausarten zu lassen. Das wäre dann der Zeitpunkt für mich, zurückzukehren und die Truppen einzusetzen. Ich würde alle, die kämpfen und kein Soldat sind, verhaften lassen und gleichzeitig dank der Informationen meiner Spione auch die Anführer festsetzen. Hinrichten lassen würde ich niemanden. Ich würde ihr Vermögen einziehen, die Kinder an anständige Familien zur Adoption geben und die Erwachsenen als Zwangsarbeiter in eine entfernte Stadt geben. Die Kinder derjenigen, die Barbaren gegen mich aufgehetzt haben, würden an Barbaren zur Adoption gegeben. Das Vermögen würde ich unter den Einwohnern aufteilen. Gleichzeitig würde ich den Bürgern befehlen, mir ab sofort jeden Kriminellen zu melden, damit nie wieder solche chaotischen Zustände eines offenen Bandenkrieges herrschen. Weil die Bürger sicher nie wieder solche Zustände erleben wollen, würden sie das ohne zu zögern tun. Jedenfalls die meisten. Allerdings steht und fällt as Ganze mit der Qualität der eingesetzten Spione und der Wahl des richtigen Zeitpunkts für jede Maßnahme."

  • Ich hörte mir aufmerksam seine Ausführungen an und schüttelte dann leicht den Kopf.
    Verzeih mir, wenn ich das so sage, aber ein so massiver Einsatz von Spionen und Mördern erscheint mir wenig ehrenhaft.
    Es klang vielleicht hart, aber so war meine Meinung.
    Abgesehen davon, dass du dich dabei wieder sehr stark auf das Volk verlassen würdest, wobei doch jeder weiss, dass das Volk ein sehr wankelmütiges Wesen hat.

  • "Der erste Kaiser von ganz Ch'in hatte es so formuliert: Ehre liegt im Ergebnis, nicht im Weg. Immerhin hat er so das Reich vereinigt. Und ein großer Feldherr aus der Zeit vor der Reichseinigung sagte, dass der direkte Angriff immer ein Fehler wäre, wenn man dem Gegner nicht zehn zu eins überlegen wäre. Was das Volk betrifft: Ja, ich würde mich darauf verlassen. Vor allem würde ich mich darauf verlassen, dass jeder Verdächtige sofort gemeldet wird. Die Angst vor einer Wiederholung des Chaos und die Aussicht auf belohnung, wenn man einen Verdächtigen meldet, würden mir die Verlässlichkeit des Volkes garantieren. Es ist unmöglich, dass der Staat alle Bürger überwacht. Es ist aber sehr wohl möglich, dass alle Bürger alle Bürger überwachen."


    Ich mische mir wieder Posca.


    "Aber kommen wir zur Ehre zurück. Meiner Meinung nach erhält man Ehre, indem man der Gesellschaft dient. Je weniger man dabei an sich selbst denkt, umso mehr Ehre erhält man."


    Natürlich bedeutete "an sich selbst denken" auch "an die eigene Ehredenken". Und mir gefiel die Diskussion.

  • Offensichtlich traffen hier wirklich zwei Welten aufeinander und das machte mir Spass. Ich blickte kurz zu Axilla, denn ich befürchtete, dass es ihr vielleicht weniger Spass machen könnte. Doch dann wandte ich mich wieder unserem Gast zu.
    Eine zahlenmässige Überlegenheit ist nicht das wichtigste. Ich bin sicher Axilla, die ja bewiesen hat, dass sie auf dem Gebiet der Militärgeschichte recht bewandert zu sein scheint, könnte uns ein paar Beispiele nennen wo eine technisch überlegene, aber zahlenmässig weit unterlegene römische Armee gegen eine Horde Barbaren siegreich war.
    Ich nippte an meinem Kirschwasser.
    Was die Sache mit dem Volk angeht, so führt das meiner Meinung nach nur dazu, dass vermehrt Unschuldige denunziert werden, weil die Denunzianten ihre Chance zur Bereicherung sehen.
    Dann schüttelte ich wieder leicht den Kopf.
    Es kommt sehr stark darauf an, was man unter Ehre versteht. Es gibt ja durchaus einen Unterschied zwischen persönlicher und öffentlicher Ehre.

  • "Und wenn zwei ziviliserte Staaten gegeneinander kämpfen? Da ist mir kein Beispiel bekannt, dass der zahlenmäßig Unterlegene bei einem direkten Agriff den Sieg davon getragen hätte. Bei Flankenangriffen hingegen sah es schon besser aus."


    Ich nahm sah Urgulania herausfordernd an, wobei sie auch in meinen Augen den Spaß sah, den ich an dieser Diskussion hatte.


    "Das Problem mit Denunzianten existiert natürlich, aber hatte Sulla nicht auf diese Art seine Gegner eliminiert? Man darf den Denunzianten halt nicht uneingeschränkt glauben, sondern muss die Information von mehreren Stellen bestätigt wissen und nach Beweisen suchen."


    Das mit der Ehre war zwar richtig, aber da war meine Erfahrung recht deutlich.


    "Persönliche Ehre nützt nicht dem gemeinwohl, im Gegenteil. Viele Kriege sind aus einer Kränkung der persönlichen Ehre einer Person entstanden. Einzig die öffentliche Ehre ist wichtig."


    Und doch folgte ich meinem persönlichen Ehrenkodex - ja, die Welt war schon komisch.

  • Sulla hat es so getan, doch war das sicherlich nicht unbedingt ein Glanzlicht der römischen Geschichte. Ausserdem glaube ich nicht, dass ein Herrscher, egal wie ehrenhaft oder ehrlich er ist, sich nicht dazu verleiten liesse den einfachsten Weg zu gehen und nur auf die Denunzianten zu hören.
    Bei allem Vertrauen in die Menschen war ich ja dennoch nicht dumm oder völlig weltfremd.
    Also meinst du, dass ein Mensch glücklich und zufrieden sein kann, wenn er selbst ohne jede Ehre ist, solange die Welt um ihn herum ihn für ehrenhaft hält? Ist öffentliche Ehre nicht hauptsächlich etwas, für das wir selbst nicht viel tun können, weil sie nur widerspiegelt was andere von uns denken?

  • Aus dieser Diskussion hielt sich Axilla wohlweißlich raus. Sie hatte schon Mühe, überhaupt der Diskussion zu folgen. Spionage war nicht unbedingt ihr Fachgebiet, und Ehre war für sie auch ein ziemlich dehnbarer Begriff, dessen Bedeutung auf den jeweiligen Betrachter ankam. Abgesehen davon war sie sich sowieso sehr sicher, nur wieder einen bösen Blick von Urgulania zu erhalten, wenn sie sich einmischte.
    Stattdessen aß sie lieber noch den Rest ihrer leeren Brotscheibe auf und setzte sich ein wenig zurück, um einfach nur zuzuhören. Und auch das war schon schwierig genug, denn die Diskussion zwischen Urgulania und Achilleos kam in Bereiche, in denen sie nicht mehr mitreden konnte, weil ihr einfach die Erfahrung fehlte. Sie war in diesem Punkt halt doch nur ein sechzehnjähriges Mädchen, und nicht wie diese beiden jenseits der dreißig.
    Sulla allerdings hielt sie auch für ein sehr schlechtes Beispiel. Die Iunier waren zwar allesamt treu dem Kaiser ergeben, aber nichts desto trotz war der Gründer der Republik und erster praetor maximus Lucius Iunius Brutus gewesen. Und dann einen selbsternannten Diktator als gutes Beispiel für Denunziantentum anzuführen war in vielerlei Hinsicht ungeeignet.
    Eigentlich wartete Axilla auf eine gute Gelegenheit, sich zu verabschieden und auf ihr Zimmer zu verschwinden. Aber andererseits war die Diskussion auch grade an einem spannenden Punkt angelangt und sie wissen, was wohl am Ende dabei herauskam. Also verhielt sie sich einfach ruhig und lauschte.

  • "Vielleicht zeichnet gerade das den guten Herrscher aus? Dass er nicht den einfachen Weg geht?" fragte ich rhetorisch.


    "Ich denke, dass Ehrenhaftigkeit nichts damit zu tun hat, ob man glücklich und zufrieden ist. Es ist in diesem Sinn auch völlig unerheblich, ob man für ehrenhaft gehalten wird oder ehrenhaft ist. Es gibt viele, die sich so sehr um ihre persönliche Ehre sorgen, dass sie vor lauter Sorge unglücklich sind. Es gibt wiederum andere, die keinerlei Ehre haben und trotzdem mit einem Leben als Bandit glücklich und zufrieden sind. Ist es überhaupt wichtig, glücklich und zufrieden zu sein? Ist es nicht vielmehr so, dass ein gewisses Maß an Unzufriedenheit erst das volle Potential eines Menschen erweckt, wenn die Unzufriedenheit in die richtigen Bahnen gelenkt wird? Und sollte man nicht einen Zustand anstreben, in dem man weder glücklich noch unglücklich ist? Einen Zustand, in dem weder das eine noch das andere existiert? Ein zustand also, in dem alle Gegensätze verschwinden und damit jegliches Leid getilgt ist?" "Auf Kosten jeglicher Freude," fügte ich in Gedanken hinzu.


    "Ist es nicht auch völlig unerheblich, was andere von einem denken, so lange man weiß, dass man das Richtige tut? Richtig im Sinne der kosmischen Harmonie?"

  • Jetzt musste ich aber energisch widersprechen. Wenn Unzufriedenheit ein erstrebenswerter Zustand war, dann hatte ich klar den falschen Wirtschaftszweig gewählt. Natürlich war das ein Argument, dass ich nicht anbringen konnte, schliesslich musste die junge Axilla ja nicht mehr erfahren als notwendig.
    Dennoch regte sich mein Widerstand.

    Ich glaube nicht, dass Unzufriedenheit etwas erstrebenswertes ist. Wenn dem so wäre, wären sicherlich nicht viele religiöse Feste darauf ausgelegt die Götter zufrieden zu stimmen, damit sie uns nicht negatives angedeihen lassen. Wenn Unzufriedenheit erstrebenswert wäre, dann bräuchte ich morgens das Haus nicht verlassen um meine Arbeit zu verrichten, denn dann wäre die daraus resultierende Unzufriedenheit des Pöbels etwas positives, dass uns alle weiterbringen würde. Ich glaube nicht, dass das so ist.
    Ein wenig schmunzeln musste ich allerdings über seinen Kommentar, dass es unerheblich sei was andere von einem dachten. Eine solche Erkenntnis würde doch die gesamte Gesellschaft des Imperiums auf den Kopf stellen, denn ein Grossteil der Menschen lebte doch nur um den Schein zu waren und das Bild, das andere von ihnen hatten, zu beeinflussen. Ich selbst war da keine Ausnahme und ich war mir sicher, dass es bei Marcus nicht anders aussah.
    Und woher soll man wissen, was das Richtige ist? Sofern man nicht über die Fähigkeiten der Augures oder der Haruspices verfügt den Willen der Götter zu deuten, dürfte das sehr schwer fallen.

  • "Moooment! Götter sind etwas anderes als Menschen, also fallen die aus der Betrachtung heraus. Und, wie schon gesagt, die Unzufriedenheit der Menschen muss in nutzbringende Bahnen gelenkt werden. Ich selbst hätte doch niemals meine Reisen unternommen, wenn ich rundum zufrieden gewesen wäre."


    Irgendwie war aber absehbar, dass ich sie nicht würde überzeugen können.


    "Das Wissen darum, ob etwas das Richtige ist, kann man zumindest ungefähr haben. Die wichtigste Frage ist: Nutzt es der Gesellschaft? Wenn ich etwas aus dem Blickwinkel betrachte, dann habe ich zumindest eine Ahnung, ob es richtig oder falsch ist. Nutzt es hingegen nur mir selbst, dann ist es ganz sicher falsch. Der Nutzen muss für mehr als eine Person existent sein und idealerweise allen Menschen nützen. Die Wahrung von Sitte und Anstand sind auch sehr wichtige Indizien dafür, ob man das Richtige tut, ebenso wie Ehrlichkeit und Menschlichkeit."


    Oder, wie es mein Lehrmeister in Han sagte: Der Mensch muss funktionieren.


    "Was mich zur Essenz des Ganzen bringt. Der Edle, also derjenige, der harmonisch zum Nutzen aller agiert, zeichnet sich durch fünf Tugenden aus. Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit und durch die Tugend, alle so zu behandeln, wie er selbst behandelt werden will. Daraus folgen dann auch direkt die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft: Loyalität, Pietät und Wahrung von Sitte und Anstand. Das hört sich alles ganz einfach an und ist doch unendlich schwer zu verwirklichen. Ich zum Beispiel bin ehrlich, rechtschaffen - jedenfalls haben das andere so gesagt und gewissenhaft. Menschlichkeit habe ich nicht immer und ich behandle Menschen auch manchmal schlecht. Das liegt daran, dass ich hin und wieder überreagiere. Loyal bin ich, wenn die Loyalität verdient ist, Sitte und Anstand versuche ich auch so gut es geht zu wahren, aber da tauchen schon Probleme auf, weil es stark von der Gegend abhängt, wo man ist. Und auch, was die Pietät, insbesondere die Verehrung der Eltern und der Ahnen anbetrifft, bin ich bei weitem nicht so gut, wie ich es gerne wäre. Ich bin übrigens überzeugt, dass viele fer Probleme bei der Erfüllung der Tugenden und der Pflichten durch Gefühle verursacht werden. Jedenfalls ist das bei mir vor allem bei der Behandlung der Menschen so. Aber ich arbeite stetig an der Lösung des Problems."


    Dass ich damit auch erhoffte, psychisch unangreifbar zu werden, verschwieg ich erstmal. Wobei Verschweigen kein Lügen war.

  • Jetzt würde ich mich zwar auf ganz dünnes Eis begeben, aber das ging nicht anders, wenn ich mich nicht geschlagen geben wollte.
    Nun ja, ob deine Reisen wirklich nutzbringend waren, ist sicherlich auch Ansichtssachen. Verzeih, wenn ich das so sage, aber wärest du nicht gereist, hättest du niemals den Befehl geben müssen Menschen zu töten. Daher ist dies sicherlich sehr stark vom Betrachtungspunkt abhängig.
    Das war ein eindeutiger Tiefschlag und innerlich scholt ich mich dafür.


    Was der Gesellschaft nutzt ist also deiner Meinung nach das Richtige? Was ist mit der Ausrottung eines ganzen Volkes, nur weil es dem Wohl eines anderen im Wege steht? Oder ein Frevel an den Göttern? Ist er richtig, nur weil er meiner Gesellschaft auf irgendeiner Weise nutzt? Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein guter Blickwinkel ist.


    Die Tugenden und Pflichten, die er dann aufzählte waren im Prinzip nicht viel anderes als jene Virtutes, nach denen jeder Römer zu leben versuchte. Zwar gab es einige Unterschiede, aber die waren eher unbedeutend, daher konnte ich dagegen kaum etwas sagen.

  • Das hatte gesessen! Ich sah Urgulania einen Moment lang emotionslos an, während ich meine Gedanken ordnete.


    "Für die Gesellschaft in Han war es nutzbringend. Das ist alles, was zählt. Hätte ich den Befehl nicht gegeben, dann hätte ihn jemand anderes gegeben. Ganz egal, was es für mich bedeutet, allein der höhere Nutzen zählt."


    Ihre anderen Punkte waren durchaus interessant und eine weitere Erörterung wert.


    "Kommen wir jetzt zur Ausrottung eines ganzen Volkes. Der Grund "weil es einem anderen im Wege steht" ist sicher nicht das Richtige, weil die Harmonie der Völker, also Gesellschaften, über der Harmonie innerhalb einer Gesellschaft steht. Allerdings... wenn zwei Völker einfach nicht in Frieden leben können, dann muss eines der beiden Völker vernichtet werden. Denn so lange beide Völker dauernd Kriege führen, ist die Harmonie der Völker dauernd gestört. Ist jedoch eines der beiden Völker vernichtet, dann ist die Harmonie hergestellt, wenn auch zu einem hohen Preis. Das führt mich dann auch gleich zum Frevel an den Göttern. Ein solcher kann nur einen kurzfristigen Nutzen haben, langfristig wird er sicher schaden. Deshalb ist der auch etwas Falsches, zumal er gegen Sitte und Anstand verstößt. Außerdem stört er die Harminie zwischen Himmel und Erde, weshalb er schon deshalb falsch sein muss.


    Ich erkläre einmal kurz die Hierarchie der Harmonien. Am höchsten steht die Harmonie von Himmel und Erde, danach kommt die Harmonie der Reiche oder Völker, danach die Harmonie der Provinzen, dann die Harmonie der Regionen, dann die Harmonie der Städte und Dörfer, dann die der Stadtviertel, dann die der Familien und schließlich die der Menschen innerhalb der Familien. Die höhere Harmonie wiegt immer schwerer als die niedrigere. Allerdings kann die höhere Harmonie nicht hergestellt werden, wenn die darunter liegende Harmonie nicht existiert.


    Sind also die Menschen in den Familien in Harmonie, dann können auch die Familien in Harmonie sein. Sind die Familien in Harmonie, so können auch die Stadtviertel in Harmonie sein. Et cetera."

  • Ich nahm mir, während er das Konzept der Harmonien erklärte, noch ein Stückchen Brot und knabberte daran. Dann erwiderte ich:
    Mit der Harmonie ist es sehr schwer. Deinem Konzept folgend, kann es eigentlich nie zu einer Harmonie zwischen zwei Völkern oder zwischen Himmel und Erde kommen, denn es wird nie passieren, dass alle Menschen mit ihren nächsten in Harmonie leben.

  • Ich nickte bestätigend und lachte kurz.


    "Ganz genau. Aber man kann zumindest immer versuchen, die Harmonie zu erreichen. Das bringt einen zwar nicht zum Ziel, aber der Weg ist es wert, gegangen zu werden."

  • Ich schüttelte energisch den Kopf.


    "Da irrst du dich. Einen Weg nur zu gehen, um ein Ziel zu erreichen, ist die wahre Verschwendung. Denn alles, was man erhält, wenn man ein Ziel erreicht, ist, ein Ziel zu verlieren. Man wird ziellos und muss sich ein neues Ziel suchen. Wenn ich aber ein so weit entferntes Ziel suche, dass ich es nie erreichen kann, werde ich immer ein Ziel haben und deshalb auch stets einen Weg, dem ich folge. Die meisten Wege haben mehr zu bieten als das Ziel. Man muss nur die vielen kleinen Details wahrnehmen, die den Weg interessant machen. Die Perfektion der Straße, die Schönheit der Landschaft, die Menschen, denen man begegnet, der schillernde Käfer, der auf einer Blme sitzt, die man sonst genauso übersehen hätte wie den Käfer... es gibt tausende von Dingen zu entdecken. So ist es auch mit dem philosophischen Weg. Man mag das Ziel nicht erreichen, aber man findet so viel Nutzen, dass das Ziel auch nicht wichtig ist. Und doch behält der Weg sein Wesen. Das Wesen des Weges ist es, dass man weiter in Richtung des Zieles geht. Man hält an nichts fest, deshalb verdirbt man auch nichts."

  • Auch ich schüttelte leicht den Kopf.
    Das mag ja ganz schön sein, jedes Detail des Weges zu bemerken, aber sind wir doch mal ehrlich, für einen Menschen der nicht den Luxus geniesst ein Leben als Philosoph zu führen, sondern der täglich für sein Leben arbeiten und zum Teil sogar darum kämpfen muss, wäre das nichts. Was nutzt einem ein noch so schöner Weg, wenn man nichts zu essen hat, weil man das Ziel, die Erlangung von Nahrungsmitteln, nicht erreicht, weil man sich nur auf den Weg konzentriert?

  • "Ich denke, dass es kein Ziel ist, Nahrung und Unterkunft zu erhalten. Es ist vielmehr eine Nebenbedingung der Existenz. Dass man dafür möglicherweise ziemlich viel Zeit verbraucht, ist klar. Die restliche Zeit kann man aber durchaus dem eigentlichen Weg widmen. Vielleicht sind ja auch gerade die einfachen Menschen, deren Leben fast komplett aus harter Arbeit besteht, der Harmonie viel näher als wir? Eben, weil sie sich keine philosophischen Gedanken machen können, sondern aus dem Bauch heraus handeln? Weil sie dann instinktiv richtig handeln?"


    Ich sah Urgulania fragend an.


    "Der Ehrlichkeit halber muss ich sagen, dass ich da selbst etwas unschlüssig bin. Wenn die Menschen von Natur aus gut sind und erst durch die Umgebung schlecht werden, dann wäre es möglich, dass sie instinktiv richtig handeln. Sind die Menschen aber von Natur aus schlecht, dann würden sie erst durch die philosophische Schulung zu besseren Menschen und die einfachen Schichten wären verloren oder müssten durch Herrscher in die Harmonie gezwungen werden. Ich weiß aber nicht, ob Menschen von Natur aus gut oder schlecht sind."


    Ich sah kurz zu Axilla herüber. Hoffentlich hatten wir sie nicht überfordert.


    "Du bist so ruhig. Ist alles in Ordnung, Axilla?"

  • Alles in Ordnung? Das war eine gute Frage. Sie kam sich im Moment unglaublich dämlich vor und ihr Kopf schwirrte. Ihre Cousine und Marcus sprangen von einem Thema zum nächsten und philosophierten auf einem Niveau, das sie wohl nie erreichen würde. Ihre Philosophie war da ganz einfach, da gab es nur richtig und falsch, und ob das jemandem etwas nützte oder nicht, das war egal. Nun, Axilla war nicht dumm, natürlich kannte sie auch eine Menge griechischer Lehren wie die des Plato, und sie interessierte sich ja auch dafür. Aber dieses Gespräch war ihr eindeutig zu hoch. Dafür hätte sie noch viel mehr lernen müssen, vor allem von dieser Philosophie, von der Marcus sprach. Davon verstand sie nämlich noch weniger als von dem, was Urgulania sagte. Sie überlegte grade, ob es so eine gute Idee war, Marcus danach gefragt zu haben, ob er es ihr beibringen würde. Das würde ja JAHRE dauern, bis sie das verstand. Zumindest fühlte sie sich grade so.
    Als Marcus also nach ihrem Befinden fragte, schaute sie ihn erstmal nur ein wenig verständnislos an und wechselte dann einen Blick mit Urgulania. Sie wollte das Gespräch, an dem ihre Cousine durchaus Gefallen gefunden zu haben schien, nicht durch ihre Dummheit abwürgen. Vielleicht war jetzt ein geeigneter Zeitpunkt, sich abzusetzen. Dann konnte Urgulania noch weiter diskutieren, und da wäre ihr doch sicher niemand böse.


    Ja, ich bin nur ein wenig müde. Wenn es euch nichts ausmacht, ich glaube, ich bin gerade keine so lustige und scharfsinnige Gesellschaft. Ich würde mich dann schon schlafen legen, wenn es nicht zu unhöflich ist.
    Fragend sah sie zu Urgulania hinüber. Hoffentlich war sie jetzt deswegen nicht böse. Aber zu dem Gespräch konnte sie ohnehin nicht viel beitragen.

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