Lepidus hatte gleich einen Tag nach dem Erhalt der Nachricht seine Antwort losgeschickt. Der Bote wurde angewiesen, sie möglichst im Eilschritt zu überbringen, auf dass sie seine Schwester noch rechtzeitig erreichen würde. Wieder einmal deutete der Tiberier die Situation ganz in seinem Sinne oder wie es seine verquere Weltsicht und Wahrnehmung es ihm weiß machten. Und doch empfand er beim Schreiben seit langem tatsächlich wieder so etwas wie brüderliche Gefühle in Anbetracht der furchtbaren Leiden, die er sich ausmalte, die seine Schwester wohl durchleben musste. Das ist sicherlich kein einfaches Schicksal für ein Mädchen, welches mit ganz anderen Standards aufgewachsen war.
Ad
Tiberia Lucia
Casa Accia Ducciaque, Roma
Meine liebe Schwester,
was für eine Überraschung! Oder sollte ich besser sagen Enttäuschung? Überraschende Enttäuschung wäre wohl die richtige Verbindung der Worte. Erst reißt er dich an sich und nun entführt er dich auch noch! Ich bin schockiert wie spät ich davon erfahre. In zwei Tagen! Ich musste ja meine ganzen Korrespondenzpflichten nach hinten schieben, um dir noch eine Nachricht zu senden. Erzähl mir bloß nicht, dass du das nicht auch schon früher gewusst hättest! Dass der Germane allerdings so schnell wie möglich Rom verlassen würde, dass hätte ich in der Tat auch absehen können, fällt mir doch letztlich ein großer Anteil daran zu. Ja, es ist in der Tat sehr befriedigend zu sehen, dass meine Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, dem Germanen so viel Angst zu machen, dass er beim Kaiser sicherlich heulend auf die Knie gegangen ist, um von hier fortgehen zu können. Sein Glück, dass dieser gerade für ihn so einen netten Posten frei hatte, so kann er den Leuten doch wahrlich weiß machen, dass er freiwillig und ehrenvoll seinen Abgang aus Rom nimmt. Zum Glück kennen wir ja alle die Wahrheit!
Weißt du Schwester, lange Zeit empfand ich sehr viel Wut auf dich und dein Verhalten, doch nun tust du mir fast schon ein bisschen leid. Wie du frieren wirst da oben im Norden, mit welch rauen Sitten du dich herumschlagen musst, in welche Orte es dich ziehen wird, die Rom an Pracht und Glanz so weit unterschreiten werden, dass du glauben wirst, du seist in einer ganz anderen Welt gefangen. Wahrhaft bemitleidenswert. Sieh nur welches Los du dir freiwillig erwählt hast! In altkluger Manier möchte ich fast aussprechen: Ich hab‘s dir ja gesagt!
Und nun werden wir uns nicht einmal sehen, bevor du diese Reise antrittst. Bleibt zu hoffen, dass du den Weg eines Tages zurückfindest und nicht an irgendeiner seltsamen Krankheit dahinsiechst, welche es dort oben geben soll. Bleibt nur zu hoffen, dass die Götter dir eines Tages wieder wohlgesonnen sein werden. Ich werde wohl für die Opfer darbringen und für die Beten müssen. Wie gesagt, ich habe ja leider einen gewissen Anteil an deiner Abreise, deshalb werde ich die Götter für dich wohlstimmen.
Mir scheint es gibt kaum angemessene Worte in Anbetracht eines solchen Abschieds, der so unpersönlich daherkommen muss. So bleibt mir nur zu sagen: Viel Glück und bleib am Leben.
Lucius Tiberius Lepidus
Villa Tiberia
Italia, Roma