Ein Tag wie jeder andere. Sanfte Lyraklänge schwebten durch die Luft und umschmeichelten die Ohren derer, die sie hörten. Nigrina lag auf einer Liege in der Exedra und genoss die erste laue Frühlingsluft, die ersten, wenn auch noch schwachen, Sonnenstrahlen. Der Frühling in Ravenna war schön. Sie mochte den Frühling hier. Abgesehen davon war Ravenna aber ein Provinznest. Ihr Vater mochte das. Hier war er der große Karpfen im Teich – und dieser Gedanke hatte durchaus etwas Liebevolles an sich. Nigrina war überzeugt davon, dass er es auch jederzeit in Rom hätte schaffen können, aber in Rom hätte er seine privaten Vorlieben kaum so offen ausleben können wie er es hier konnte. Und all seine Geliebten wäre er in Rom kaum so problemlos losgeworden wie hier. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Wenn man seine Prioritäten gesetzt hatte, war es nur konsequent, danach zu leben.
Genau das hatte sie ebenfalls vor. Nur unterschieden sich ihre Prioritäten ein wenig von jenen ihres Vaters, was nur naturgemäß war, war sie doch eine Frau und stand erst am Anfang ihres gesellschaftlichen Lebens. Und was sie und ihre Zukunft betraf, waren Gnaeus und sie, wie in so vielen Dingen, einer Meinung. Rom war der einzige Ort, wo es sie nun hinführen konnte. Ein Ehemann an ihrer Seite die einzige Option, die es gab. Und die Verlobung würde der nächste Meilenstein sein auf ihrem Weg. Erst heute morgen hatte ihr Vater ihr gesagt, dass er einen geeigneten Kandidaten gefunden hatte. Einen Patrizier, selbstverständlich, alles andere hätte sie auch nicht akzeptiert, aber einen geringeren hätte auch ihr Vater niemals ausgewählt. Er hatte vor, bereits brieflich Kontakt aufzunehmen, die eigentlichen Verhandlungen jedoch – so Interesse an ihr gegeben war, aber daran hegte Nigrina offen gestanden nicht den minimalsten Zweifel – würden Verwandte führen, die in Rom ansässig waren. Sie reckte sich ein wenig auf der Liege und machte eine vage Handbewegung, hörte trappelnde Schritte, die sich ein wenig entfernten und gleich darauf wieder kamen. Langsam schlug sie ihre Augenlider auf und nahm den Becher entgegen, der ihr gereicht wurde, und nippte daran. Dann verzog sie das Gesicht und schüttete den Inhalt dem Sklaven entgegen. „Welcher Idiot war das?“ Der wusste, woher der Wind wehte. „Eine Neue, Herrin. Sie kam erst vor wenigen Tagen in den Haushalt deines Vaters.“ Nigrina schenkte ihm einen eisigen Blick. Sie nahm sehr wohl zur Kenntnis, dass er ihr keinen Namen sagte. Es spielte gar keine Rolle, ob er ihn wusste oder nicht, und es spielte auch keine Rolle, dass sie ihn in wenigen Momenten wieder vergessen haben würde – es ging ums Prinzip. Allerdings: Nigrina war heute gut gelaunt. „Dann sorg dafür, dass sie in Zukunft weiß, welches Mischverhältnis ich bevorzuge.“ Unnötig zu erwähnen, dass er mit der Neuen gemeinsam darunter zu leiden haben würde, wenn Nigrina das nächste Mal wieder einen Fruchtsaft vorgesetzt bekam, dem zu viel oder zu wenig Wasser beigemischt war. „Sehr wohl, Herrin.“ Nigrina hatte ihren Blick schon wieder abgewandt, aber dann, plötzlich, sah sie doch wieder zu dem Sklaven auf, und ihre Augenbraue wanderte, ganz in flavischer Manier, ein Stück nach oben. „Mein Saft…?“ Der Sklave sah sie einen Augenblick an, fast erschrocken, dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand, um neuen zu holen. Aus der Küche. Mit hoffentlich der richtigen Mischung. Nigrina unterdrückte indes ein Seufzen. Es waren Sklaven, ja. Was hieß, dass ihre geistigen Fähigkeiten beschränkt waren, nicht immer bei jedem gleich, aber in irgendeiner Form immer. Irgendetwas war immer, selbst bei den Klügsten unter ihnen, und wenn es nur der Fakt war, dass sie Sklaven waren. Und hier waren gerade nicht unbedingt die Klügsten anwesend, hatten sie doch nicht mehr zu tun als für Musik und Getränke zu sorgen und ihr generell jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Aber war es wirklich zu viel verlangt, dass sie gelegentlich auch mitdachten?