Bibliotheca | Legem brevem esse oportet, quo facilius ab imperitis teneatur

  • Das Rom dieser Tage laborierte unter einem kühlen Wind, der vom Mare Tyrrhenum her wehte und so die unpläsierliche Zeit des Winters ankündigte. Derhalben hatte man Manius Minor nicht in den Hortus, sondern die Bibliotheca einbestellt um gemeinsam mit seinem Onkel Aulus, dessen Vollendung des Cursus Iuris nicht allzu lange zurück lag, womit er in den Augen Manius Maiors eine weitaus größere Eignung als er selbst aufwies, seinem Sohne die bestehenden Fragen, die sich aus dessen Expedition in die Untiefen der Iurisdiktion zweifelsohne ergeben hatten, zu replizieren und zugleich dessen Lernfortschritte durch diese zu prüfen. Zwar waren seit dem Schiedsspruch, an dem der Vater ja persönlich partizipiert hatte, bereits einige Tage vergangen, doch hatte es sich nicht früher ergeben, den Quaestor Principis für die Erziehung des jüngsten Flavius heranzuziehen.


    So erschien der Knabe gehorsam, wie der Sklave ihm gewiesen hatte, in den Räumen voller Regale, die säuberlich die Buchrollen separierten und im Falle genauerer Nachfragen zweifelsohne den adäquaten Kommentar oder den präzisen Wortlaut des Gesetzestextes offerierten.

  • Piso war schon hier. Er stand nicht so, dass man ihn direkt von der Türe aus sehen konnte, aber er war hier, hinter einem Regal. Man hatte ihn gewissermaßen dazu verdonnert, dem kleinen Manius die Juristerei näher zu bringen, und Piso hatte sich die Freiheit genommen, aus seiner Arbeit auszubrechen, noch bevor er in die Bibliothek erwartet wurde, und sich erst einmal einen Schuss Martial zu gönnen. Poesie und kunstvolle Wortschmiederei war doch immer etwas Feines, und nach dieser Maxime hatte auch Piso sich 5 Minuten Ruhe über einem guten Buch gegönnt. Denn alleine zu sein war manchmal sehr schön. Abgeschottet von der hässlichen Welt um ihn, die so widerwärtig... real war. Nein, eine Reise in die Phantasien eines Schreiberlings waren immer wieder schön.
    Diese Reise wurde aber nun unterbrochen, denn die Türe ging auf. Lautlos legte Piso die Schriftrolle auf die Seite und machte einen Satz aus dem Bereich hinter dem Regal hervor, um sich grinsend dem jungen Flavier zu zeigen.
    “Salve, Minimus!“, machte er so onkelhaft jovial wie möglich, als er auf ihn zuging. “Magst du einen Keks?“ Einen solchen hatte er nämlich noch übrig.
    Um dann doch etwas ernster und ein bisschen respektabler zu erscheinen, räusperte er sich. “Nun denn, junger Mann. Ich habe gehört, du möchtest etwas über das Rechtswesen erfahren. Setzen wir uns doch.“ Er deutete zu einem der Tische hin, die in der Bibliothek standen. Es war ein runder Tisch, relativ niedrig, und natürlich frei von Krempel und Schmutz – schließlich sorgte Mago, der Bibliothekar der Flavier, für penibelste Sauberkeit in der Bücherei. Ja, ein Ästhet der alten Schule, auch wenn er ein bisschen zu ordnungsbewusst für Piso war, schließlich konnte Schönheit man auch im Chaos finden. Noch ein Vorteil hatte der Tisch, er war nicht weit weg von der juristischen Abteilung der Bibliothek, die Piso von dort aus, wo er stand, einsehen konnte.

  • Eine leichte Insekurität befiel den Knaben, als er zwischen die stillen Reihen kaum supervisibler Regale passierte, zwischen denen ohne jedwede Ankündigung sein Onkel hervortrat. In der Tat war ihm diese Überraschung trefflich gelungen, denn der junge Flavius zuckte von Schreck ergriffen zusammen, trat gar einen Schritt zurück und blickte zu Piso auf, wobei seine Miene suggerierte, nicht der ihm wohlbekannte Onkel, sondern ein leibhaftiger Lemur sei auf ihn zugetreten.


    Mit größter Eile bemühte Manius Minor indessen, jenen Schrecken zu bezähmen und seinem Gegenüber die ihm gebührende Zuneigung zuteil werden zu lassen, was durch den Umstand, dass dieses ihm einen zweifelsohne wohlschmeckenden Keks offerierte, bedeutend erleichtert wurde.
    "Gern!"
    war nämlich die Antwort, die synchron zu einem Ausstrecken der Hand, in welche er vor einem Augenschlag noch die Beine zu nehmen getrachtet hatte, erfolgten. Nachdem er dieses Objekt seiner Begierde erhalten hatte und vornehm, wie man ihn ermahnt hatte, davon abgebissen hatte, wobei das Gebäckstück Krümel hinterließ, die Magos Sinn für Makellosigkeit zweifelsohne empfindlich zu disturbieren geeignet waren, nahm der Knabe an der Seite Pisos Platz, während umschweifslos in medias res ging. In Wahrheit gebrach es indessen dem jungen Flavius selbst an einer präzisen Frage, doch hatte Artaxias ihn eindringlich ermahnt Interesse vorzugeben und sich umgänglich zu gebärden, da es Onkel Piso an wichtigsten Obliegenheiten nicht mangelte und er sich lediglich aufgrund seiner großen Zuneigung zu ihm, Minimus, herabgelassen hatte, ihm Rede und Antwort zu stehen.
    "Ähm, ja..."
    kommentierte er dessentwegen den Prolog dieser Lehrstunde, unterdessen fieberhaft über eine mögliche Frage sinnierend, die ihm noch von dem Gerichtstermin her präsent war. Deplorablerweise erschienen in seinem Geiste lediglich Remineszensen an den korpulenten Praefectus Urbi, besonders seiner barbaresken Custodes Corporis, sowie eine Paar von älteren Männern, die sich im Seitenschiff der Basilica Ulpia an einem Mühle-Spiel verlustiert hatten. Der Selbsterkenntnis seiner überaus mangelhaften Aufmerksamkeit färbten sich seine Wangen in einem geringen Maße rosig, während sein Spintisieren zunahm, dank des in ihm entstehenden Druckes jedoch gleich einem sich schließenden Tore immer härter blockiert wurde.
    "Warum durfte Papa Iudex sein?"
    sprudelte schließlich eine Frage aus dem Knaben heraus, wenig bedacht, vielmehr einer Intuition folgend. Dennoch erschien sie überaus adäquat, ermöglichte sie doch kaum Bezüge zum tatsächlichen Prozessgeschehen, das dem jungen Flavius ja entfallen war.

  • Augenscheinlich stürzte bereits jene primäre Frage den Onkel des Knaben in ernstliches Spintisieren, weshalb dieser bereits begann die Befürchtung zu hegen eine impossible Frage gestellt zu haben, entweder aufgrund ihrer zu großen Diffizilität, oder aber um ihrer simplen Banalität willen.

  • Der Keks war auch schnell hervorgezogen und dem Knaben gegeben. Piso hoffte, er würde schmecken – immerhin war er noch ganz frisch und knusprig! Mit solchen kleinen süßen Sachen konnte man Kinder gut bestechen, dachte sich Piso und sah sich darin bestätigt, als vom Kleinen ein winziges Stückchen Unsicherheit abzubröckeln schien wie alter Zement von einer Mauer. Unsicherheit, die Piso wohl durch sein plötzliches Erscheinen angezettelt haben mochte. Nun ja. Wozu waren denn Onkel da, wenn nicht, um ihre Neffen vollzukaspern? Nun ja... hmm... war wohl nicht so gut gelungen. Wie gut, dass es Kekse gab.
    Als Piso die Hand lockerte, damit Minimus seinen noch nicht gänzlich wohlverdienten Keks abstauben konnte, dachte sich der Flavier, dass es wohl gut gewesen wäre, hätte man ihn auch schon von so zartem Alter auf in die Kunst der Juristerei eingewiesen. Und auch der der Huldigung an den Göttern. Denn Piso hatte sich das alles selber erarbeiten müssen. Er fühlte sich trotz seines patrizischen Standes durchaus als selbst gemachter Mann. Wobei er aber alle Vermutungen, er könnte ein Homo Novus sein, mit einem knappen Verweis auf seine Verwandtschaft abblocken konnte. Herrje, die Flavier waren Nobilitas! Sie stammten von den Kaisern ab (oder so wollten die Flavier es den anderen zumindest glauben machen)! Und kein anderes Geschlecht brachte so wundervolle Ästheten und Schöngeister hervor – man musste dazu nur auf Piso schauen. Und vielleicht, mit der selben Lenkung und dem einen oder anderen Hinweis, könnte man auch Minimus auf eine solche Bahn bringen...
    Doch zunächst galt es sich hinzusetzen. Der junge Flavier hielt schon eine Frage bereit, und Piso musste erst einmal nachdenken. Die Diffizilität war nicht die Antwort auf diese Frage, nein, sie war, wie er sie verpacken konnte gegenüber einem Kind, welches noch nicht einmal 10 war. Ein Minimus würde sicher nicht über denselben ausgeprägten Wortschatz verfügen wie, sagen wir, ein Piso, der schon über mehr als genug fachspezifische Worte in seinen Studien gestolpert war.
    Piso holte tief Atem und begann dann, während Minimus schon fast wie auf Nadeln auf eine Antwort wartete. “Nun, weil das Gesetz sagt, dass er es darf“, begann er langsam. “Vielleicht weißt du, dass die wichtigsten Gesetze in zwei Codices niedergeschrieben sind, und zwar dem Codex Universalis und dem Codex Iuridicalis. Der Codex Iuridicalis dreht sich vor allem um das Verfassungs- und Handelsrecht. Aber wenn wir uns den Codex Iuridicalis anschauen... warte...“ Er kippelte mit dem Stuhl nach hinten und holte mit einer nonchalanten Bewegung eine Ausgabe des Codex zielrichtig aus dem Regal – hahaha, es war schön, nicht zu verfehlen! – und ließ dann seinen Stuhl wieder am Boden aufkommen, den Schwung nach vorne nützend, um sich zu Minimus zu beugen und mit einer theatralischen Bewegung die Schriftrolle aufzumachen. “Sooo... hier. Codex Universalis. Pars Prima, Strafprozessordnung, Subpars Tertia, Iuuuuuuudeeeeex.“, machte er, das Wort besonders betonend. Er schob die Schriftrolle noch etwas näher an Minimus ran, sodass dieser sie sehen konnte. “Paragraph 9, Formalien zum Iudex. Lesen wir das mal durch.
    (1) Ein Iudex muss den senatorischen Rang bekleiden und von hoher Integrität sein.
    (2) Das Amt basiert auf Freiwilligkeit, kann vom Imperator Caesar Augustus aber auch angeordnet werden.
    (3) Ein Iudex wird für jedes Verfahren neu vom Iudex Prior – bei uns, Minimus, war dies der der Praetor Urbanus Annaeus Modestus – nominiert.
    (4) Zum Iudex nominiert werden dürfen nur Bürger, die den Cursus Iuris an der Schola Atheniensis Phoebi Apollonis Divinis bestanden haben.
    (5) Der Grundsatz des Senatorenstandes und dieser des zu bestehenden Cursus ist nur zu brechen wenn unter diesen Voraussetzungen kein Iudex benennbar ist.“

    Weise, ein wenig altklug vielleicht, blickte er seinen Neffen onkelhaft an. “Als Jurist ist es enorm wichtig, Gesetzestexte Stück für Stück durchzugehen. Was ist das allererste Stück vom Text, der dir hier auffällt?“

  • Mitnichten hatte der Knabe eine vollständige, systematische Lektion, die legale Kulisse, vor der die Selektion seines Vaters vonstatten gegangen war, nahezu vollständig erfassend, erwartet, sondern vielmehr eine knappe, sentenzenhafte Schilderung des Auswahlverfahrens. Indessen hatte sein Onkel Piso augenscheinlich differente Ansichten betrefflich dieser Zusammenkunft, weswegen der junge Flavius sich in diese klaglos zu integrieren genötigt fühlte in der Annahme, die Motive Pisos verhielten sich similär zu denen seines geliebten Vaters. Zumindest war ihm die Division des Rechts in universales und iuridicales in der Theorie ein Begriff, obschon er sich wenig darunter vorzustellen vermochte, sodass er anfänglich folgen konnte.


    Aufgrund seiner fehlenden weitergehenden Kenntnisse verfolgte er jedoch mit Erstaunen die kurze akrobatische Einlage seines Lehrers, ehe er sich schweigend über die Rolle beugte, auf der die Regularien betreffs des Fortgangs judikativer Prozesse verzeichnet waren. Augenscheinlich war eine knappe Formulierung jedwedem Gesetze zueigen, ebenso stachen Manius Minor geradezu singuläre mirakulöse Worte ins Auge, von denen die Evidenz eines Gesetzestextes abzuhängen schien. Ob diesem überaus infamiliären Ductus war es dem Knaben indessen schwerlich möglich, das Gesetz zu erfassen, weshalb sich ihm zahllose Fragen ergeben, ehe er überhaupt in die Debatte einzusteigen vermochte. Daher fasste er letztendlich den Beschluss, mit dem ersten problematischen Wort zu beginnen:
    "Integrität! Was heißt das?"

  • Piso war gegen Pfusch und Murks. Es war so unästhetisch. Nein, was der Junge brauchte, das war, ins kalte Wasser der Juristerei geworfen zu werden. In 10 Jahren würde er seinem Onkel Piso dafür dankbar sein! Aber nun hieß es, knallhart dieses Wissen eintrichtern – denn nie früh genug konnte man damit anfangen. Und außerdem wollte Piso es Gracchus recht machen. Sein Vetter würde sich sicherlich nicht mit einer Larifari-Erklärung zufrieden geben.
    Als er schließlich den Text ausgebreitet hatte von Minimus, und als dieser grübelnd darüber hockte, hoffte Piso zutiefst, dass er noch nicht den Faden verloren hatte. Wobei es Piso noch gar nicht momentan noch wichtig erschien, dass er begriff, worum es ging. Nein, aber er sollte am Ende der Stunde hoffentlich wissen, was hierbei gemeint war – denn im echten Leben bekam man Gesetzestexte nicht vorgekaut, man musste sie selber durchgehen. Und tatsächlich schien Klein-Manius zumindest das grobe Prinzip begriffen zu haben, auch wenn er nicht dort anfing, wo Piso gerne gehabt hätte, dass er anfing, nämlich beim senatorischen Rang – wobei diese Voraussetzung eh einfach zu definieren war – sondern bei einer härteren Nuss, nämlich der Integrität.
    “Ah ja. Integrität, was bedeutet das.“ Er überlegte kurz. “Wenn ein Mann integer ist, dann ist er ein guter Mann. Er ist respektabel. Man denkt gut über ihn. Er ist angesehen. Man glaubt nicht, dass er Böses im Sinn hat.“ Er räusperte sich. “Das Problem ist natürlich – nicht jeder denkt von jedem das selbe. Vielleicht gibt es jemanden, der von einen Mann, den andere als integer ansehen, denkt, er wäre ein Schuft. Du siehst, diese Voraussetzung hier ist nicht so einfach wie die Voraussetzung des senatorischen Ranges. Dein Vater ist auf jeden Fall senatorischen Ranges. Aber ist er integer? Ich glaube schon. Aber das hatte wohl am Ende der Praetor zu bestimmen, nach eigenem Gutdünken, nach eigenem Wissen und Gewissen – man nennt das subjektiv. Und der Praetor dachte offenbar auch, dass dein Vater ein integrer Mann ist.“ Er nickte bedeutsam.
    “Tja, was sehen wir aus dem ersten Paragraph? Ein Iudex muss Senator sein. Und er muss integer sein... was letzten Endes heißt, der Iudex Prior, in unserem Fall der Praetor, muss denken, dass er integer ist.“ Er beugte sich vor. “Was fällt dir sonst noch auf an diesem Text?“

  • Der Sprachcode seines Onkels war nicht minder elaboriert als der seines Vaters, sodass sämtliche Attention des Knaben auf die Worte gerichtet zu sein hatte, wollte er ihren Sinn erfassen. Mit andachtsvollem Blick begann er daher über diesen zu spintisieren: Integrität, so wurde nun offenbar, war keine klar zu definierende Zuschreibung, sondern lag vielmehr im Ermessen des Iudex Prior. Nach welchen Maßstäben eine solches Urteil zu fallen hatte, vermochte er indessen kaum zu ermessen, reichte sein infantiler Horizont doch kaum über die präkonventionelle Ebene moralischer Entwicklung hinaus. Demgemäß zog er die inkorrekte Konsequenz, sein Vater habe sich dem Praetor gegenüber freundlich verhalten, sodass dieser ihn als 'guten Mann' kategorisierte.
    Uneingedenk dieses Irrtums richtete der junge Flavius seinen Blick im Anschluss erneut hinab zu dem Text und las den folgenden Abschnitt:
    "'Das Amt basiert auf Freiwilligkeit, kann vom Imperator Caesar Augustus aber auch angeordnet werden.' Heißt dies, der Kaiser fragt und mein Papa macht dann mit oder nicht, wie er will?"
    Mit gewisser Insekurität ob der Korrektheit seiner Interpretation blickte er auf zu seinem Onkel.

  • Konnte Minor ihm folgen? Der Kleine sagte nichts, was in eine andere Richtung deutete. Wiewohl Piso wusste, dass es auch sein konnte, dass der Junge zu schüchtern war, um seinen Onkel etwas zu fragen. Ja, vielleicht war dies der Fall. Dennoch ließ sich Minimus nicht beirren und setzte eine Frage nach. Piso nickte. “Ah ja. Das ist auch sehr wichtig. Was es heißt, ist, dass dein Papa das nicht machen muss, wenn man ihn fragt – außer, der Kaiser sagt ihm, dass er das machen muss. Dein Papa hat diese Aufgabe also übernommen, nicht, weil er es musste, sondern weil er es wollte. Es war seine Pflicht als Römer, es zu tun!“ Piso nickte bedeutsam, sich wünschend, auch noch einen zweiten Keks mitgenommen zu haben – nicht für sich Minimus, sondern gegenteilig ganz für sich alleine! Hungrig war er ja nicht, noch nicht, aber das konnte sich ändern... “Das heißt, man kann niemanden dazu zwingen. Aber wenn es jemand ablehnt, das zu machen, dann kommt das auch nicht so gut an“, fügte er hinzu. Es war nicht nur das reine Ehrgefühl, welches Römer dazu führte, das zu machen... äh, das Amt eines Iudex auf frewilliger Basis zu bekleiden.
    “Gut. Was denkst du über den dritten Absatz?“ Jener war auch kurz gehalten, aber natürlich in einer komplizierten Sprache gehalten, mit einem Spezialbegriff, den Piso sich bemüssigt sehen hatte, für diesen einen Fall, zu spezifizieren.

  • Aus den Ausführungen seines Onkels resultierten für den Knaben in diesem Casus mitnichten wahrhafte Präsumptionen das Recht betreffend. Vielmehr evozierten sie neuerliche Konfusion, war es doch augenscheinlich weder der Fall, dass sein Vater frei über seine Teilnahme an einem Verfahren als Iudex entscheiden konnte, ebensowenig jedoch eine Tatsache, dass das Gesetz seine Teilnahme schlichtweg auferlegte!
    In der Annahme gleichwohl, dieser mangelhaften Durchdringung der Rechtslage lägen nicht die insatisfizierenden Darlegungen Pisos, sondern lediglich sein individuelles Unvermögen zugrunde, verzichtete der junge Flavius auf weitere Interrogationen und rezitierte gehorsam den folgenden Absatz:
    "'Ein Iudex wird für jedes Verfahren neu vom Iudex Prior nominiert.'"
    Einen Augenschlag lang mochte es dem unbedarften Beobachter erscheinen, der Knabe spintisiere über den eben verlesenen neuerlichen Passus, dann aber öffnete sich sein Mund zu einer nicht antizipierten Frage:
    "Aber musste Papa jetzt Iudex sein oder nicht?"
    Schlussendlich war Manius Minor zu der Einsicht gelangt, dass er im Falle einer Prüfung seiner Lernerfolge sein defizitäres Verständnis der Zusammenhänge offenbaren hätte müssen, was seiner Mutter zweifelsohne Kummer bereitet hätte, den er geneigt war ihr zu ersparen. So erschien es doch adäquater, seinen Onkel zu desillusionieren, ehe er gezwungen war, den Stolz seiner Mutter zu zerbrechen.

  • Piso nickte, als der Bursche weiterlas, vollkommen der Tatsache, dass seine Weisheiten dem Kleinen wie böhmische Dörfer vorkamen, uneingedenk, da nicht bewusst, genau bis zu jenem Punkt, als Minimus ihn etwas fragte, was ihn ziemlich verwirrte. Wieso kam der Kleine jetzt noch einmal auf den vorherigen Punkt zurück? Hatte Piso den so schlecht erklärt? Unmöglich! Wobei er sich auch nicht vorstellen konnte, dass Minimus dumm war. Nein, es mussten Kommunikationsprobleme vorlegen... was wiederum für ein schlechtes Erklären sprechen würde. Aber wie simpel sollte Piso es dem Jungen denn noch darlegen? Er atmete unbewusst tief durch. Dann schüttelte er den Kopf. Es war am Einfachsten so.
    “Nein. Er musste es nicht sein.“ Denn das stimmte im Grunde. Niemand hatte Gracchus befohlen, den Posten anzunehmen. Und selbst wenn er ihn abgelehnt hätte, hätte das sicher nicht zur Minderung seiner Integrität und seines Ansehens beigetragen, wiewohl nicht jeder wissen konnte, was Piso wusste... nämlich das, was ihm Gracchus erzählt hatte über sich selber. Unter welchen Syndromen er litt. Was er sich alles herbeifantasierte. Was sein Hirn mit ihm anstellte.
    Piso litt mit seinem Vetter irgendwie mit. Es musste schlimm sein, so zu leiden. Was würde wohl Piso tun, würde er solch ein Wrack seiner selbst werden? Wobei, zwischenzeitlich... tja... die Tode in seiner nächsten Umgebung hatten ihn sehr mitgenommen. Aber nun, nun würde Prisca in sein Leben treten. Er war sich da ganz sicher. Sie würde neues Leben in die Villa bringen. Ihr Lachen würde das von Vera vielleicht vergessen machen.
    Er blinzelte, als seine Gedanken wieder in die Wirklichkeit eintraten und sich durch gesammelten Ernst in seinen Augen ausdrückten.
    “Machen wir weiter?“ Er wartete die Antwort nicht recht ab. “Was du gerade gesagt hast, heißt, dass der Iudex Prior sich für jedes Verfahren neue Iudices aussuchen muss.“ Sein Augenmerk schweifte von Gracchus Minor ab und bohrte sich in die Tischplatte, bevor er wieder aufmerkte. “Wenn du etwas nicht verstehst, dann sagst du es mir doch... oder?“, machte er mit einem ganz innen drin leicht erschütterten Selbstbewusstsein.

  • In Wahrheit hatte lediglich die Konsideration der gesamten sozialen und politischen Konsequenzen einer richterlichen Berufung jene Konfusion evoziert, unter der der Knabe nunmehr litt. Jene überaus lakonische, nun in weitaus geringerem Maße nachsichtige Replik Pisos veranlasste ihn indessen dazu, seine offenbar asininen Fragen einzustellen und sich schlussendlich mit den bisherigen Situationen zufrieden zu geben. Selbstredend gehorchte er, seiner devoten Gewohnheit gehorchend, den Expektationen seines Onkels und antwortete dementsprechend mit einem knappen
    "Ja, Onkel."
    Dennoch sah er sich anschließend genötigt, zur Bestätigung seiner Masquerade des veständigen Lehrlings einen kompendierenden Kommentar zu letzterer Belehrung abzugeben. Fortuna und den Vätern des Codex Iuridicialis war es indessen zu verdanken, dass ausgerechnet jene Passage seinem Dafürhalten nach kaum die Gefahr einer fehlerhaften Interpretation barg, womit er unintentional in eine neuerliche Falle juristischer Formulierungspraxis tappte.
    "Es kann also niemand zweimal Iudex sein."

  • Pisos Schweigen entwickelte sich zu einem Summen, das klang wie „Hmm“. Dann schüttelte er den Kopf langsam, während ihm langsam, aber enervierend, die Einsicht ins Gehirn tröpfelte, dass er wohl kein geborener Lehrer war. Er spürte Schweißperlen auf seiner Stirn, die er sich mit einer lässigen Handbewgung abwischte. Das war alles viel schwieriger, als er es sich gedacht hatte! Iuppiter noch eins! “Nein, man kann mehr als zweimal Iudex sein. Man kann so viele Male Iudex sein, wie der Iudex Maior es will. Man...“ Er unterbrach sich in seinem legalistischen Geschwafele, denn eine Idee war ihm gekommen. Er würde einfach Beispiele geben! Vielleicht konnte mit denen Minimus besser einsehen, was der Stand des Rechtes war.
    “Also. Weißt du was? Wir machen es anders. Sagen wir, Lucius ist Iudex Maior. Gaius und Marcus sind zwei Senatoren mit dem Cursus Iuris. Klar soweit? Sagen wir, Gaius wird von Lucius zum Iudex für einen Fall gemacht. Wenn der Fall zu Ende ist, ist auch Gaius kein Iudex mehr – denn er hört auf, Iudex zu sein, wenn der Fall zu Ende ist. Aber sagen wir, eine Woche gibt es einen anderen Fall. Lucius kann dann wieder Gaius zum Iudex machen. Einmal, solange, wie der Fall dauert.“ Er nickte suggestiv. Jetzt konnte er auch was anderes erklären.
    “Sagen wir, Gaius stiehlt gleich nachdem er Iudex war einer alten Frau ihr Geld und wird erwischt. Meinst du, Lucius sollte Gaius in Zukunft dann noch einmal zum Iudex machen?“ Neugierig blickte er Minimus an, hoffend, dass seine Erklärung des Wortes Integrität hatte gegriffen.

  • Die exemplarische Darlegung die Zulassung zum Iudex betreffend vermochte letztendlich dem Knaben ein höheres Verständnis der wahrhaftigen Intention des Gesetzestextes zu schenken. Als hätte der Abfall jener sprichwörtlichen Schuppen seine Augen entblößt und ihm eine weitaus klarere Erkenntnis geschenkt, erfolgte nun seine Replik mit größerem Selbstbewusstsein:
    "Nein, ein Dieb ist kein guter Iudex!"
    Diese Assumption fußte allerdings, was sich der Kenntnis seines Lehrers entziehen musste, weniger auf dem Verständnis des Gesetzestextes denn auf seine normative Imagination, ein Iudex habe über jedweden Zweifel Erhabenheit zu bewahren, die durch das Begehen eines Verbrechens selbstredend zerstört wurde, was aber wohl durchaus auch der Intention der Regularien die Iudices betreffend entsprach.

  • Ha, es hatte gezündet! Die Sache funktionierte! Pisos Lippen formten sich zu einem Lächeln. Er sah, wie des Knaben Lust am Lernen wieder vervorkam. Ja, Beispiele waren gut. Piso prägte sich das tief in seinem Inneren ein. Vergiss die Abstraktionen, konzentriere dich aufs echte Leben – aber, hach, wie schwer war dies einem Künstler und Individualisten, der der Avantgarde schillernde Lichtfigur war. Aber es war notweindig. Er atmete tief ein, um an Konzentration zu gewinnen.
    “Nein, das stimmt. Ein Dieb ist kein guter Richter. Aber das kannst du nicht einfach so sagen, ohne dass was im Gesetzestext dazu steht. Sagen wir mal, Marcus versucht Lucius zu überzeugen, dass Gaius Iudex sein soll. Auf welches Wort in unserem Text muss Lucius, unser Iudex Maior, deuten, um Marcus zu beweisen, dass er Gaius, den Dieb, nicht zum Iudex ernennen darf?“ Wie zufällig strich sein rechter Zeigefinger über das Wort „Integrität“, über welches Piso und Minimus vor Kurzem gestolpert waren.

  • Jene novitäre Offenbahrung des Onkels stürzte den Knaben in neuerliche Konfusion, die er durch die Korrektheit seiner intuitiven Erwiderung überwunden zu haben geglaubt hatte. Voller Irritation fixierte er den Gesetzestext, nicht Notiz nehmend von jenem Fingerzeig, den sein Onkel ihm darbot. Stattdessen streifte sein Blick unaufhörlich über die Zeichen, welche er bereits wenige Augenschläge zuvor verbalisiert hatte. Doch nun erschienen sie ihm bar jedweder Relevanz betrefflich seiner Problematik.
    "Ähm..."
    Wieder und wieder repetierte er den Leseakt, doch vermochte er dem Text keine neuerlichen Informationen zu entnehmen, was die Befangenheit des jungen Flavius parallel kontinuierlich zu steigern geeignet war.


    Dann, gleich einem Blitz, erreichte ihn plötzlich jener rettende Gedanke, der ihm eine Alternative offerierte, deren Simplizität geradezu erstaunlich war: Anstatt auf konvulsive Art und Weise den Text zu analysieren, konnte er ebenso das Ausschlussprinzip anwenden, nach dem augenscheinlich diverse Passagen ausscheiden mussten. So mochte etwa selbst in den Augen des Knaben die Possibilität bestehen, dass ein Senator zu stehlen fähig war. Ebenso mochten Freiwilligkeit, Bürgerrecht und Verfahrensfragen keinen Konnex mit dem Diebesstand aufzuweisen. Folglich...
    "Ich denke...der hier!"
    Sein kindlicher Finger markierte den zweiten Teil der ersten Passage. Mit Fortunas Hilfe mochte es sich hierbei um die korrekte Replik handeln!

  • Ähm? Ja, das stimme, ähm fürwahr. Jetzt hatte Piso ihn wohl erwischt. Mit wohlwollendem Gesichtsausdruck schaute er dabei zu, wie Minimus dachte. Zu sagen, jemanden beim Denken zusehen, mag wohl befremdlich wirken, bei minimus war es aber die Wahrheit – man konnte förmlich erspähen, wie es in seinem Kopf ratterte. Lauter legalistische Gedanken sonder Zweifel! Piso kamen die Zweifel, ob er den Begriff der Integrität richtig erklärt hatte. Aber nein, Minimus kam selber drauf!
    Voller Lehrerstolz grinste Piso, als Minimus die richtige Antwort gab. “Ganz genau! Integrität! Ein Dieb ist nicht integer. Integer ist einer, dem man vertrauen kann. Integer ist jemand, der ein guter Kerl ist. Wenn jemand fies ist, ein Verbrecher, einer, dem man nicht trauen kann, dann ist der nicht integer! Und weil ein Dieb nicht integer ist, kann man ihn nicht als Iudex erwählen“, simplifizierte er für seinen Neffen.
    “Dein Vater aber ist kein Dieb. Er ist ein guter Mensch. Man kann ihm trauen. Man weiß, dass er immer das Beste will. Er ist absolut integer. Deshalb hat man ihn genommen als Iudex. Ist jetzt alles ein wenig klarer?“, fragte er nach, besorgt ob des Gedanken, dass nichts von seinem Unterricht gegriffen haben könnte, aber nun um ein bisschen Erfahrung und vor allem Lehrerfahrung reicher. Das könnte vielleicht mal nützlich sein.

  • Der Knabe kam zu dem Schluss, dass Integrität schlichtweg mit einem positivem Verhalten zu äqualisieren war, was zweifelsohne für eine infantile Imaginationskraft eine überaus adäquate Definition darstellte. Dass dieses Faktum indessen dazu geeignet war, den Paragraphen oder gar den vollständigen Codex Iuridicialis in seine Gänze zu erfassen, war selbstredend ein Irrtum, dessen Wahrhaftigkeit sich für einen kurzen Augenblick im Antlitz des jungen Flavius manifestierte. Dennoch gelang es ihm im sofortigen Anschluss eine saturiert wirkende Miene aufzusetzen, während er, bemüht die Erwartungen seines Onkels zu erfüllen, mit fester Stimme ein
    "Ja!"
    artikulierte.

  • Piso strahlte übers ganze Gesicht. Er strahlte, als ob er bei irgendeiner doofen Wette in einer abgelutschten Kneipe eine Million Sesterzen gewonnen hätte. Er schien seinem Neffen etwas beigebracht zu haben! Richtig beigebracht! Das war großartig. Er war doch der Beste! Anders konnte man sich das einfach nicht erklären.
    Sein Grinsen verebbte, als er seine Lippen wieder dazu zwang, in eine normale Form zurückzugleiten, sodass er mit ihnen wieder Worte formen konnte.
    “Gut gemacht, Minimus, sehr gut gemacht. Ich bin stolz auf dich!“, machte Piso, während er dabei – natürlich, sich selbst bestätigend nickte. Er erhob seine Hand, aber nicht drohend, um Minimus eine zu wischen, sondern, um ihn auf den Kopf zu tätscheln wie einen kleinen Hund, der gerade ein Holzstück apportiert hat.
    “Und nun, Minimus, was machen wir nun? Willst du etwas darüber wissen, wie...“ Er hielt inne und dachte kurz nach. Es musste doch ein kinderfreundlicheres Thema geben als Mord! Und Körperverletzung! Und Hochverrat! Diebstahl wäre lustig. Aber das konnte man doch auch nur im Kontext anderer Verbrechen erklären! Womit also beginnen, wenn nicht mit Strafrecht? Mit Familienrecht? Nun, warum nicht? War weniger dröge als Vertragsrecht.
    “Minimus... du weißt ja, dass du bald eine neue Tante bekommen wirst? Ich werde heiraten. Jaja... willst du wissen, wie?“ Er grinste Minimus zum erneuerten Mal an.

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