Der Bericht war erschütternd. Immer geringer wurde ihre Hoffnung, ihn lebend wiederzusehen. All die Bilder, die bei Jasims Erzählung in ihrem Kopf erschienen, die vielen Toten. Trotzdem blieb ein kleiner Funke Hoffnung, und als hätte Jasim ihre Gedanken erraten, bereitete er ihr die größte Freude an diesem Tag. Sie bewunderte das Feingefühl und die Beobachtungsgabe des Dolmetschers, man könnte meinen, er wäre selbst ein Bewohner der Wüste gewesen.
Während Jasim Abay zum Präfekten brachte, war Neriman längst schon auf dem Weg zu den fünf Palmen. Als sie jedoch dort ankam, war da nichts als ein leeres Lager. War er... ? Pfüfend berührte sie die Liege und atmete tief durch. Nein, war er nicht. Ihr Blick wanderte suchend durch die Reihen von Verwundeten. Nichts. Dann wollte sie sich wenigstens nützlich machen. Es waren immer noch einige darunter, die die Nacht, oder sogar den Tag, nicht überleben würden. Dort ging sie hin, hielt eine Hand, schloss einem anderen die Augen, betete für ihre Seelen und um Kraft für die, die noch eine Chance hatten. Es schmerzte fast körperlich, das viele Leid um sie herum zu sehen und auch zu hören. Und wie ein Fünkchen Licht in der Dunkelheit wehte der Wind Stimmen zu ihr herüber, die ihr vertraut waren. Massa und der andere, der ihn damals vor dem Zelt so böse angefahren hatte.
Sie erhob sich und ging darauf zu. Eine Art Zelt, ob sie einfach so hineingehen sollte? Mehr als hinauswerfen konnten sie sie auch nicht. Also trat sie zögernd ein und blieb wie versteinert stehen. Verwirrend war der Anblick, der sich ihr bot, die Hände der beiden ineinander, und Serapios Blick... Das sah nicht nach Soldat und Vorgesetztem aus. Neriman fasste sich schnell wieder - um zu gehen, war es zu spät. Ein kurzer Blick auf Massa, ihm schien es relativ gut zu gehen. Serapio mußte mehr abbekommen haben, er lag und machte einen sehr schwachen Eindruck. Neriman umrundete dessen Lager und erkannte den Grund im selben Moment. Der Arm sah schlimm aus, angeschwollen und verfärbt, aber fachmännisch versorgt. Sie berührte ihn vorsichtig, bemerkte sofort, wie schmerzhaft es für ihn sein musste. Ein verstohlener Blick zu Massa, während sie ihren Beutel von der Schulter nahm.
In den Tiefen fand sie, was scheinbar so dringend benötigt wurde. Ein kleines Säckchen gefüllt mit Weidenrinde zog sie hervor. Neri nahm ein Stück heraus, reichte es Massa und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, es Serapio zu geben. Noch eine Kaubewegung ihrer Zähne, zu der sie natürlich das Tuch vom Gesicht zog, um ihm zu zeigen, er solle es kauen. Dass es nicht sofort wirken, aber dann den Schmerz nehmen würde, dafür wußte sie kein Zeichen, das die beiden verstehen würden. Sie konnte nur hoffen, sie würden ihrem Wissen vertrauen. In der Wüste gab es keine Ärzte, da waren sie auf sich alleine gestellt und mußten sich selbst helfen können.
Neriman packte alles wieder ein und lächelte ihnen aufmunternd zu. Hier war getan, was ihr zu tun möglich war. Weiter stören wollte sie nicht, also ließ sie die beiden wieder alleine. Ihre Gedanken hingen weiter an genau jenem Moment, an dem sie die beiden so innig miteinander erlebt hatte. Nur schwer konnte sie sich auf die Verwundeten einlassen und wanderte eher ziellos durch die Reihen.