Cremona war eine Stadt von nicht geringer Bedeutung, doch dem jungen Flavius sagte dieser Ort ebensowenig zu, wie der Grund seines unfreiwilligen Aufenthalts hier. Die Reitereskorte hatte ihn vor Wochen hierher verbracht, in die Gastfreundschaft eines ihm bekannten älteren Herrn, welcher ein Anwesen unweit des Padus bewohnte. Wiederholt hatte der Knabe verlangt, anstatt an einen ihm unbekannten Ort besser zum Versteck seiner Mutter transferiert zu werden, um zumindest an der Seite seiner verbliebenen Familie diese schweren Zeiten zu verleben, doch da weder Ursus noch er selbst Kenntnis von diesem Unterschlupf hatten, war man gezwungen, ihn isoliert zu verbergen, wozu sich eben jener Bekannte empfahl, da dieser im nahen Cremona ein adäquates Anwesen besaß und darüber hinaus als vertrauenswürdig galt. Aus diesem Grund nun hatte Manius Minor einen weiteren güldnen Käfig bezogen, dessen Tür zumindest ein wenig weiter geöffnet stand als er mantuanische, denn der gutmütige Unternehmer gestattete es seinem Gast zumindest, bisweilen das Haus zu verlassen, da es ihm abwegig erschien, dass irgendwer an diesem Ort den Spross einer patrizischen Familie identifizierte, solange dieser sich nicht als solcher auswies.
Und so erkundete der junge Flavius nun zum ersten Male in seinem Leben eine Stadt, welche nicht Rom war. Zwar hatten sie auf der Flucht ebenfalls manchen Ort durchwandert, doch hatte sein Vater damals abgelegenere Stationes präferiert und die Städte eilig hinter sich gelassen, während jene unendlich weit zurückzuliegen scheinenden sommerlichen Ausflüge aufs Land stets Villae Rusticae zum Ziel gehabt hatten. Obschon Cremona ein Zentrum des norditalischen Handels darstellte, erschien sie dem Knaben entsprechend, eher einem verlassenen Vogelnest gleich. Und in der Tat war ob des heraufziehenden Krieges der Verkehr von jenseits der Alpen völlig zum Erliegen gekommen. Als dann eines Morgens ein Blick aus dem Fenster eröffnete, dass der Padus sein Ufer verlassen hatte, wurde es noch stiller in der Stadt.
So verblieb Manius Minor neuerlich viel Zeit zum Spintisieren. Neuerlich musste er an seinen treulosen Vater sich erinnern, neuerlich Abscheu und Enttäuschung auf diesen projizieren. Hinzu kam Unsicherheit ob seiner eigenen Sekurität wie der seiner Familie, welche an einem geheimen Ort weilte, welcher möglicherweise unter jene zu zählen war, die sein Gastgeber in den langen Berichten über den Stand der Auseinandersetzungen erwähnte. Stets war der Knabe darüber im Bilde, wo die palmanischen und vescularischen Truppen sich befanden, obschon er die Karte, auf welcher ihm dies veranschaulicht wurde, ob seiner Fehlsicht nicht einzuordnen in der Lage war und lediglich nichtssagende Ortschaften blieben. Diese Insekurität, gepaart mit dem Umstand, dass er das einzige Kind im gesamten Haushalt zu sein schien, dass er nun auch getrennt von seinem Onkel Flaccus, seinen Bekanntschaften aus Mantua und überhaupt von jedem Vertrauten sein Dasein zu fristen in der Lage war, erweckte in ihm ein grässliches Verlangen nach Wärme, Geborgenheit und Heimat. Abend für Abend verbarg er sich in den Kissen und Decken seiner Bettstatt, um unter Beben stumme Tränen zu vergießen, Nacht um Nacht erwachte er schweißgebadet aus abscheulichen Träumen, in denen in düstersten Farben das deplorable Schicksal seiner selbst, seiner Familie und der gesamten Welt gezeichnet wurde, in denen man ihn mit Hohn und Spott ob seiner Abkunft übergoss und wie ein Tier jagte, um ihn den flavischen Löwen im Amphitheatrum Flavium, welches nun Vescularium genannt wurde, zum Fraß vorzuwerfen. So war wohl 'Mama' das häufigste Wort, welches er flehentlich die Nächte über in den Mund nahm, während er untätig und beschämt das Ende jenes unsäglichen Krieges erwartete.