Cubiculum | Littera ad matrem

  • Nach dem Trubel der Liberalia, im Rahmen derer Manius Minor mehrfach seine Mutter schmerzlich vermisst hatte, war einige Zeit ins Land gegangen, in welcher der Knabe die Anfertigung eines Briefes an eben jene Mutter mit diversen Explikationen prokrastiniert hatte.


    An diesem Tage aber hatte der Grammaticus mit ihm das Deklamieren exerziert, welches zwar für gewöhnlich und in voller Ausformung erst dem Rhetoren vorbehalten war, das indessen in diesen Tagen nicht selten bereits in die Lehrzeit beim Grammaticus eingestreut wurde, um die Sprösslinge edler Häuser rasch adäquat für das folgende Studium zu präparieren. Dabei hatte man mit den Mahnungen der Veturia an ihren Sohn, den abtrünnigen Coriolanus, von einer Attacke gegen seine Heimatstadt abzusehen, ein überaus gebräuchliches Sujet gewählt, welches indessen den Zögling seiner noch ihm obliegenden Pflicht erinnert hatte, weswegen er im Anschluss prompt Patrokolos zu sich ins Cubiculum zitierte, wo er sich auf sein Bett warf und, die unscharf konturierte Kassettendecke fixierend, über eine adäquate Formulierung zu spintisieren.
    "Manius Minor sagt seiner Mutter Grüße."
    , initiierte er endlich sein Diktat, welches selbstredend Patrokolos in die Tabula zu ritzen hatte, da der Knabe zur Anfertigung längerer Texte nicht nur ob seiner Fehlsicht, sondern auch der daraus resultierenden Ermangelung an Übung außerstande war. Doch kaum hatte er die Worte gesprochen, erschienen sie ihm doch inadäquat, vernahm er im Geiste doch noch deutlich jene Titulatur, welcher sich trotz sämtlicher Widerstande sein Vater als auch seine Mutter bedienten, gegen die er bisweilen rebelliert hatte und welcher er in publico aufs Tiefste verabscheute, da sie ihn doch in einer Weise als infantil darstellte, welche seines Alters, gänzlich zu schweigen von seiner nunmehrig staatlich beglaubigten Adoleszenz unangemessen war: Minimus. Für gewöhnlich titulierte er selbst sich zu keiner Zeit auf derartige Weise. Und doch war es in diesem speziellen Falle ihm durchaus konvenierlich, sich jenes Diminutivs zu bedienen, denn mochte dieser auf der einen Seite ihn als den Knaben benennen, der er nach dem parentalen Verdikt wie in Relation zu Titus und Flamma nicht mehr war, so vermittelte eben dieser aber auch eine Vertrautheit, der selbst das familiare 'Manius' nicht zu bieten vermochte, da es doch eben eine Spezifizität der intimen Beziehung zwischen dem ältesten der Gracchi und seinen Eltern darstellte.
    "Nein, schreibe: 'Minimus grüßt seine geliebte Mutter'."
    , folgerte er somit und vernahm das kratzende Geräusch, welches Patrokolos' Stylus (im Übrigen nicht der güldene, welchen Onkel Furianus und Tante Catilina ihm zum Geschenk gemacht hatten, sondern ein überaus simples, dank seiner ebenhölzerne Materialität aber nicht minder edles Produkt) bei der Extinktion der anfänglichen Adresse vermelden ließ.
    Noch zahlreiche Korrekturen folgten jener, während der Knabe immer fort weitere Worte und Wendungen aneinander knüpfte, stets eingedenk, die so schmerzlich vermisste Intimität gegen eine seinem Alter adäquate Distanziertheit abzuwägen.
    Geraume Zeit später, nachdem das Schreiben nicht nur ins Reine kopiert und auf Papyrus aufgetragen, sondern auch nochmals verlesen war, fand der Opus endlich das Placet des jungen Flavius. Persönlich ergriff er nun die Feder, tauchte sie sorgsam in die Tinte und vollführte unter der Kontrolle seiner Linken, deren Daumen und Zeigefinger als Begrenzung seiner Zeilen diente, jene ungelenken Linien, die die Authentizität jenes privaten Schreibens verbürgen würden:

    Ad CLAUDIA ANTONIA


    Minimus suae matri carae salutem.


    Ich bitte dich um Verzeihung so lange Zeit keinen Brief an dich geschickt zu haben, obschon ich doch schon seit meiner Rückkehr nach Rom vor mehr als einem Monat über deinen Aufenthaltsort informiert bin und du zweifellos dich schon lange nach einer Nachricht bezüglich meines Wohlbefinden sehnst.


    Sei unbesorgt: Ich bin wohlbehalten nach Rom zurückgekehrt und habe den Krieg unbeschadet überstanden. Vater, Onkel Flaccus und mir gelang unsere Flucht und wir erreichten unbehelligt Mantua und das Castellum der Legio I. Dort nahm Aurelius uns herzlich auf und ich durfte Freundschaft mit seinem Sohn Durus schließen. Dort ließ Vater mich zurück und ich ließ mich zu einer Insubordination hinreißen, die ich dir besser persönlich verrate als dass du von anderer Stelle davon erfahren musst: Begierig meinen Anteil am Krieg gegen den Usurpator zu leisten, schlich ich mich in den Tross der Legion, als diese zum Kriegszug gegen die Truppen Salinators aufbrach. Allerdings wurde ich entdeckt und Aurelius sandte mich zu seinem Klienten Vindex nach Cremona. Auch dort erging es mir sehr gut, mein Gastgeber erwies sich als überaus freundlich und leutselig. Weiters gewährte er mir Einblicke in das Kriegswesen und erweckte in mir den Wunsch, eines Tages selbst meinen Kriegsdienst zu leisten. Ich hoffe inständig, dass dies trotz meiner Unzulänglichkeiten möglich ist. Außerdem machte er mir zum Abschied einen Sklaven zum Geschenk. Er heißt Patrokolos und stammt aus Patavium, wo du ja jetzt ebenfalls residierst. Er kommt aus dem Haushalt des Marcus Percennius Varisidianus Bambalio, der während der Plünderung durch die vescularischen Truppen ermordet wurde. Vielleicht hast du ja von ihm gehört. Jetzt ist er mir eine große Hilfe, denn er ist ein formidabler Vorleser und dient mir besonders angesichts meiner Unzulänglichkeiten als unverzichtbare Stütze. Ich hoffe, dass du ihn bald kennen lernen kannst, wenn du wieder nach Hause kommst.


    Weiters hat Vater sich entschieden, dass ich meine Bulla ablege. Dies wurde vor einigen Tagen vollzogen und ich bin nun ein vollwertiger römischer Bürger, eingetragen in den Tribus Velina und mit allem, was dazuzählt. Bei der Feier habe ich dich sehr vermisst, obschon es recht fröhlich war und alle Bewohner der Villa Flavia Felix mich reich beschenkt haben. Im Übrigen sind die Söhne des Milo hier eingetroffen und leisten mir bisweilen Gesellschaft. Titus ist auch wohlbehalten hier angekommen, ebenso Tante Domitilla. Sie war während des Krieges in den Alpen verborgen, wo sie nach einem Unfall bei Hirten leben musste. Auch sie ist aber wohlauf, ebenso Onkel Furianus, Tante Claudia und alle anderen.
    Ich werde nun bald Unterricht bei einem Rhetor nehmen, damit ich eines Tages in Vaters Fußstapfen treten kann. Ich bin bereits äußerst enthusiastisch und exerziere das Deklamieren bei meinem neuen Grammaticus mit größtem Eifer.


    Dennoch bedrückt es mich, dass du nicht hier sein kannst. Ich weiß, dass es auf den Straßen recht gefährlich ist für dich und Flamma, aber dies vermag es nicht, meine Sehnsucht nach euch beiden hier zu stillen. Du musst dir keine Sorgen machen, denn Tante Claudia und Tante Domitilla führen den Haushalt sehr ordentlich, doch möchte ich dich doch bald wieder in die Arme schließen. Weiters drängt es mich zu erfahren, wie es euch beiden ergangen ist und ob ihr wohlauf seid.


    Bitte schreibe mir, sobald du es einrichten kannst.


    Dein dich von Herzen liebender
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    "Dies ist adäquat."
    , resümmierte Manius Minor endlich und hielt mit zusammengekniffenen Augen den Brief von sich, um zumindest den Gesamteindruck des Schriftbildes beurteilen zu können. Recht ebenmäßig schien Patrokolos in der Tat seine Worte gesetzt zu haben, lediglich die übergroße Signatur am Ende wich von jener Schönheit ab. Doch war dies wohl immutabel, weswegen er die folgenden Instruktionen gab:
    "Lasse dies zum Cursus Publicus bringen. Es soll schnellstmöglich nach Patavium gesandt werden. Wo Mutter und Flamma wohnen, wird Sciurius dir verraten."
    Nun, da keine Gefahr mehr drohte, dürfte es wohl keinerlei Anlass mehr geben, das Versteck seiner Mutter, in welchem sie mit Flamma und Titus ausgeharrt hatte, geheim zu halten. Und da Sciurius ja persönlich veranlasst hatte, dass jener Teil der Familie wohlbehalten dorthin gelangte, war er zweifelsohne bestens informiert.

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