Caupona Aluta

  • Als sie die Caupona des Disabithus endlich erreicht hatten, war der Sturm längst losgebrochen. Eisiger Schneeregen wurde vom Wind durch die Gassen gejagt, das vorher schon düstere Abendlicht war von den schwarzen Sturmwolken gänzlich verschluckt worden. Medis hatte Mühe gehabt, sich zurecht zu finden. Seit seiner Kindheit war er nicht mehr hier gewesen, Trans Tiberim hatte sich verändert. Einige der alten Häuser waren abgerissen und der Grund neu bebaut worden, andere hatten sich durch den bescheidenen Wohlstand der Besitzer in ansehnliche Insulae verwandelt. Die heulende Dunkelheit des Sturms hatte das ihre dazu getan, Medis die Orientierung zu erschweren. So waren sie zunächst an der Caupona Aluta vorbei getrabt. Erst am Ende der Gasse hatte er den Irrtum bemerkt und sein Pferd gewendet.


    Nun hämmerte Vitu energisch an die verschlossene Tür, während sich Medis das Gebäude betrachtete. Sein Onkel hatte aus dem einst windschiefen einstöckigen Schuppen wirklich etwas gemacht in den vergangenen Jahren. Zwei Stockwerke waren hinzu gekommen, die Fassade war sauber verputzt und zweifarbig getüncht worden, zur Gasse hin durchbrachen breite Fenster die Ziegelmauer. Faul war Disabithus nie gewesen. Nur leichtsinnig und undiszipliniert was die Rückzahlung seiner Darlehen betraf.


    Die Tür wurde aufgerissen. Vor ihnen stand ein grauhaariger Berg von einem Kerl. Narben im Gesicht und an den Armen, die kräftigen dunklen Finger bis zum ersten Glied mit Ringen besetzt. Ein schimmernder Reif zierte den muskulösen rechten Arm, um den breiten sehnigen Hals baumelte ein großer Schlüssel. Medis warf Vitu einen finsteren Blick zu. Das war nicht sein Onkel. Das war ein verdammter Grieche.


    „Wir wollen zu Disabithus!“ brüllte Vitu gegen den Orkan an.


    „Wer will zu ihm?“ brüllte der Grieche drohend zurück.


    Medis nahm fluchend den Stock vom Pferd. „Medis Aculeus!“ schrie er dem Griechen zu, während er auf ihn zu humpelte. „Ich werde erwartet! Das weißt du ganz genau! Nicht wahr?“


    Der graue Athlet musterte die späten Gäste mit deutlicher Abneigung im Blick, drehte sich dann aber widerwillig um und winkte ihnen zu, ihm zu folgen. Medis schlug ungehalten den Gehstock gegen den Türrahmen.


    „Einen Moment, Grieche! Du zeigst meinem Begleiter, wo er unsere Pferde unterstellen kann!"


    Der Grieche wirkte wenig begeistert, sich in den Sturm hinaus begeben zu müssen. Nach einem erneute Schlag gegen den Türrahmen fügte er sich aber. „Um die Ecke.“ brummte er Vitu zu und ging voraus. Vitu blickte Medis fragend an. Der nickte knapp und ging dann ins Haus.


    Die Caupona war spärlich beleuchtet und menschenleer. Nur an einem der hinteren Tische saß schweigend ein älterer Mann mit dünnem grauen Haar und zerfurchten Zügen. Medis hinkte müde auf den Tisch zu.


    „Chaire Onkel.“


    Disabithus erwiderte den Gruß nicht. Er sah nicht einmal von seinem Becher auf, den er mit beiden Händen umklammerte. Medis ließ sich auf einen Stuhl fallen, legte sein Bein auf einen anderen. Schwieg. Wartete ab. Nach einem tiefen Zug aus dem Becher blickte Disabithus seinen Neffen schließlich feindselig an. „Da bist du also ..“


    „Ja, da bin ich.“

  • Medis ließ seinem Onkel Zeit. Saß ihm mit tropfendem Mantel schweigend gegenüber. Hörte sich ohne Regung an, was er zu sagen hatte, und das war eine Menge. Von unermüdlichem Einsatz erzählte Disabithus, von all dem Geld und dem Herzblut, das er in das Geschäft gesteckt und all den Kontakten, die er angebahnt hatte. Mit bitterer Stimme berichtete der Wirt von regelmäßigen Bränden, Schlägereien, Razzien und allen möglichen anderen Katastrophen, die stets aufwändige Renovierungen nach sich zu ziehen pflegen. Über aufmüpfige Huren ereiferte sich Disabithus ebenso wie über den Undank der Familie. Das Bild, das er dabei von sich entwarf, entsprach einem grundehrlichen bescheidenen Menschen, dessen harte Arbeit vom Schicksal einzig mit Kummer und Not entlohnt worden war. Medis wusste es besser. Trotzdem hörte er zu, wenigstens so viel Respekt hatte der Bruder seines Vaters verdient. Mehr aber nicht. Wie zu erwarten gewesen war, redete sich Disabithus allmählich in Rage.


    „Hast du vergessen, wie es hier ausgesehen hat? Fünfzehn Jahre ist das her! Zehn davon waren nichts als Mühsal! Der Rest hat mich auch nicht reich gemacht! Dafür hab ich heute ein Dutzend Nutten und Bedienstete, die treu zu mir stehen und nochmal so viele Stammkunden, die sich blind auf meine Diskretion verlassen! Das Nest, mein Söhnchen, in das du dich setzten willst, habe ich aus meinen besten Jahren gebaut und gepolstert!“


    Die Tür ging auf und Vitu stolperte völlig durchnässt mit dem Gepäck in die Caupona. Medis nahm die Pause, die durch Vitus Erscheinen entstanden war zum Anlass, dem uneinsichtigen Gejammer seines Onkels ein Ende zu setzen.


    „Das ist Vitu, Onkel. Mein Begleiter. Und nun zu deinen Ausführungen.“ Medis beugte sich etwas vor. „Du hast von Geld geredet. Das ist gut. Darum geht’s. Wessen Geld hast du hier investiert, wenn ich fragen darf? Deins? Nein. Wohin sind die Gewinne geflossen? In die Tilgung deiner Schulden? Nein. Hat mein Vater dir all das Geld überlassen, um es bei den Rennen zu riskieren? Sicher nicht! Du hast hier etwas geleistet, das ist nicht zu übersehen. Aber man hat dich nicht mit dem Aufbau dieses Geschäftes betraut, um dich und deine Kunden fett und dekadent werden zu lassen! Du Narr glaubst, deine Bediensteten stünden treu zu dir? Die stehen zu dem, der sie bezahlt, und das bist nicht länger du! Dir gehört hier kein einziger Dachbalken! Und seit wann stellen wir Griechen bei uns ein?“


    Disabithus war der Schweiß ausgebrochen. Gut möglich, dass er in blinder Wut aufgesprungen wäre, hätte ihn nicht Medis letzte Frage aus dem Konzept gebracht.
    „Iraklis? Na und? Ein besserer Mann findet sich weit und breit nicht. Er kann mit den Büchern umgehen und hat vermutlich schon mehr Kämpfe gewonnen als du und dein seltsamer Begleiter zusammen!“

    Medis lehnte sich müde wieder zurück. Dieser Tag wollte einfach kein Ende nehmen.
    „So? Meinst du? Nun, seinen letzten scheint er allerdings verloren zu haben. Oder, Vitu?“

    Vitu warf die nassen Bündel ab, kam langsam zum Tisch herüber und kramte unter seinem Mantel herum. „Haushoch.“ Breit grinsend brachte er die Halskette mit dem großen Schlüssel zum Vorschein und legte sie vor Medis auf den Tisch. Disabithus starrte entsetzt zur Ladentür, dann auf Vitu und schließlich zu seinem Neffen. Medis nahm den Schlüssel gelassen an sich. „Du kannst deinen natürlich behalten, Onkel. Wo ist übrigens deine Frau? Ich hatte noch nicht die Ehre. Ist sie nicht auch Griechin?“


    Aus Disabithus Gesicht wich alle Farbe. Kraftlos und grau sank er in seinem Stuhl zusammen. Medis dagegen stemmte sich zufrieden auf die Beine.
    „Ich sehe, das Wesentliche ist geklärt. Wir öffnen morgen früh zur üblichen Zeit. Über dein künftiges Gehalt reden wir, nachdem du mir alles gezeigt hast, Onkel Disabithus. Wenn du uns jetzt zu unseren Zimmer führen könntest, wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns.“

  • Medis und Vitu gönnten sich ein ausgedehntes Lentaculum. Das erste mal seit Tagen. Die Übernahme der Caupona war so gut wie reibungslos von statten gegangen, sie hatten allen Grund, sich endlich etwas zurück zu lehnen. Die Geschäftsbücher waren abgearbeitet, erste Änderungen in der Organisation erfolgreich durchgeführt und die Bediensteten auf Kurs gebracht worden. Ausgesprochen zufrieden wanderte Medis Blick über die voll besetzten Tische. Der Laden lief. Es hatte sich über die Jahre offensichtlich herumgesprochen, dass die Gäste der Caupona Aluta nicht wie andernorts verdünnter Tresterbrei und angegammelte Speisen erwarteten, sondern frisch gelieferte Ware, die obendrein mit zuvorkommender Freundlichkeit serviert wurde. Sogar die vergleichsweise gehobenen Preise schienen der zahlreichen Stammkundschaft den Genuss nicht verderben zu können.


    Sein Onkel hatte hier einmal gute Arbeit geleistet. Bedauerlich, dass ihm nach und nach der Sinn für das Hauptgeschäft abhanden gekommen war. Medis wäre grundsätzlich nicht abgeneigt gewesen, den erfahrenen Wirt mehr in den Betriebsablauf einzubeziehen, aber seit der Übernahme durch den Neffen verbrachte Disabithus seine Tage vorzugsweise damit, schweigend in der Küche zu sitzen und kaum verdünnten Rotwein in sich hinein zu schütten. Schade. Loukia, Disabithus junge Frau verhielt sich da schon kooperativer. Ein genießerisches Schmunzeln entspannte Medis Züge. Oh ja, weit kooperativer. Unter diesen Umständen war er sogar bereit, großzügig über Loukias griechische Herkunft hinweg zu sehen, einstweilen zumindest. Tja, die Griechen ..


    „Wo hast du eigentlich den Kadaver dieses Iraklis entsorgt?“ fragte Medis den kauenden Vitu ohne wirkliches Interesse. Vitu erledigte seine Aufgaben immer zuverlässig und ohne viel Aufhebens davon zu machen.
    „Das willst du gar nicht wissen, Dekurio.“ entgegnete der schmatzende Bär denn auch knapp.
    „Nein, nicht wirklich. Ist da noch Platz für mehr?“
    „Aber sicher.“ grinste Vitu breit während er sich ein paar Käsewürfel einverleibte. „Übrigens, wann gehts ans Frischfleisch?“
    „Sobald ihr den Umbau der Cella abgeschlossen habt. Wie stehts da unten?"
    „Fast fertig. Zanus ist ein verdammt geschickter Handwerker, nur Dula kann rein gar nichts. Muss ständig in den Arsch getreten werden.“
    Medis nickte wissend. Da musste alsbald Abhilfe geschaffen werden. „Ist mir auch schon aufgefallen. Bei der Auswahl des Peronals hatte Disabithus kein sehr geschicktes Händchen. Aber gut, eins nach dem anderen. Wenn wir fertig gegessen haben, werden wir mal in Ruhe das Angebot von Trans Tiberim sondieren. Was hältst du davon?“ Statt zu antworten schlang Vitu die Reste seines von Honig tropfenden Fadenbrotes hinunter, stürzte einen halben Krug Milch hinterher und rülpste zustimmend. „Also, ich bin satt. Von mir aus kanns losgehn.“

  • Loukia wurde geweckt durch einen nächtliche Schrei. Sie riss die Augen auf. Lauschte. Aber da war nichts. Sie lauschte weiter mit angehaltenem Atem. Nichts. Nur die üblichen leisen Geräusche der letzten Nachtstunden. Das Knacken der Glut aus der Coquina nebenan, gedämpftes Gemurmel einer Patrouille Vigiles von der Straße, das rasselnde Schnarchen ihres Ehemannes im winzigen Nebenraum. Sonst nichts. Der Mann neben ihr schnarchte nicht. Nie. Manchmal atmete er so leise, dass sie sich zu ihm hinüberbeugte und trotzdem nichts hörte. Vielleicht atmete er nachts einfach nicht, gepasst hätte es zu ihm.


    Und nun? Sollte sie schon aufstehen? Nur wegen eines seltsamen Schreis, den sie bestimmt bloß geträumt hatte? Nicht des Schreies wegen stand Loukia schließlich auf, sondern weil es kalt war neben ihm. Er war kalt. Versonnen blickte sie durch den düsteren Nachtschimmer auf ihn hinab. Wenn sie jetzt ein Messer aus der Küche holte? Wenn sie ihm damit den Kehle durchschnitt? Würde er bluten? Würde er es überhaupt merken?


    Sie konnte den Blick nicht von ihm lassen. Nicht während sie sich die Haare zurückband, nicht während sie die Palla überwarf, nicht einmal während sie den Nachttopf benutzte. Er hatte die Augen weit offen, sah sie aber nicht an. Vielleicht schloss er die Augen einfach nie, auch das hätte zu ihm gepasst. Vielleicht hatte er geschrien? Nein. Er nicht.
    „Aculeus?“ fragte sie das kalte starrende Gesicht, das nicht atmen wollte. „Bist du wach?“

  • Ob er wach war? Naive kleine Griechin. Als ob Medis sich jemals auch nur eine Minute Schlaf gestattet hätte solange fremde Menschen um ihn waren. „Mach Wasser heiß.“ sagte er unbewegt ins Dunkel.
    Wach? Seine Sinne waren angespannt wie ein Skythenbogen. Entfernten sich die Vigiles draußen? Es hörte sich so an. Also hatten sie den Schrei nicht gehört, und das bedeutete, dass er nicht aus dem Durchgang zum Pferdestall gekommen war, sondern aus dem Haus. Höchstwahrscheinlich aus dem Abgang zur Cella.


    Reglos registrierte er das Quietschen der Tür zur Coquina. Als Loukia weg war, schwang er sich wütend aus dem Bett und massierte sein Bein. Einer der heimkehrenden Männer hatte also Mist gebaut. Ohne Zweifel dieser hirnlose Dula. Ware ins Haus zu schleppen, während die Vigiles durch die Gasse patrouillierten, nicht zu fassen! Fluchend griff Medis nach seine Kleidern. Vitu würde sich drum kümmern müssen. Er trug die Verantwortung.


    Das lauter werdende Rumoren in der Coquina ließ das Geschnarche im Nebenraum verstummen. Medis Onkel war erwacht. Sicher durstig wie immer. Vitu würde sich auch um Disabithus kümmern müssen, wenn der sich nicht endlich zusammenriss. Was für ein weicher weibischer Römer doch aus dem einst so stolzen Daker geworden war. Frau und Geschäft waren ihm weggenommen worden, na und? Medis hatte man weit mehr genommen als das.


    Als er die Tür zur Coquina öffnete, drangen ihm dichte Schwaden von Gemüse, Marinaden und Soßen entgegen. Einzig mit seiner Gattin hatte Disabithus einen guten Griff getan. Loukia war eine göttliche Köchin, und nicht nur das. Bei weitem nicht nur das.


    „Hol Vitu her.“ seufzte Medis müde und ließ sich auf einem Hocker nieder. „Er soll mich rasieren.“

  • „Sofort. Willst du etwas essen?“ fragte Loukia im Hinausgehen. Warum fragte sie ihn überhaupt? Aculeus würde schon sagen, wenn er etwas wollte. Unmissverständlich. Das tat er immer. Leise öffnete sie sie Seitentür, sah zum Stall hinüber. Dort brannte Licht. Vitu war also ebenfalls schon wach. Fröstelnd ging sie ein par Schritte. „Vitu! Aculeus will dich sehen!“ Damit hatte sie ihre Pflicht getan und konnte in die warme Coquina zurückkehren. Vitu schlief bei den Pferden, Aculeus schlief gar nicht. Diese Daker! Jeder Gaul war ihnen mehr wert als eine Frau.


    Zurück am Herd fühlte sie seine Blicke im Rücken. Er begehrte sie. Das war gut, mehr als das, es war überlebenswichtig. Aculeus war jetzt Herr im Haus, und so lange sie es fertigbrachte, den eisigen Fels allnächtlich in einen bebenden Vulkan zu verwandeln, war sie sicher. Auch sie begehrte ihn. Aber nicht so. Sein vernarbter sehniger Körper, seine zerfurchten energischen Züge, seine Grabeskälte, all das faszinierte sie zutiefst. Er brauchte sie, um die Caupona am Laufen zu halten, und sie brauchte ihn, um die Caupona nicht zu verlieren. Nahm er ihr die Caupona, nahm sie ihm das Leben. So einfach war das.

  • Nach der Rasur winkte Medis Vitu hinter sich her in den noch menschenleeren Schankraum.
    „Bring uns ein paar Früchte und heißen Gewürzwein.“ wies er Loukia beiläufig an. Kaum dass sich die beiden Daker an ihren Tisch gesetzt hatten, schlurfte Bredica die stumme Küchenhilfe verschlafen durch die Vordertür, nickte den Männer am Tisch verschüchtert zu und verschwand eilig in der Coquina.


    „Augenringe wie Karrenräder.“ stellte Medis mit einem tadelnden Blick auf Vitu fest. „Du solltest ihr mal ein Nacht Verschnaufpause gönnen, sonst klappt sie uns demnächst zusammen. Loukia hält große Stücke auf sie, also reiß dich zusammen.“ Vitu grunzte gehorsam. „Und wenn wir gerade dabei sind ..“ Ungehalten schlug Medis den Gehstock gegen ein Tischbein. „Was war das vorhin für eine verdammte Sauerei? Das Gequieke war bis ins Cubiculum zu hören! Hab ich einen Profi vor mir oder einen Vollidioten?“


    Vitu wand sich brummend auf seinem Stuhl. „Wir .. dachten, sie ist ohnmächtig .. und es wäre nicht nötig, sie zu ..“ „IHR dachtet?“ schnitt Medis ihm wütend das Wort ab. „Der einzige, der von euch zu denken hat, bist du! Und du hast offensichtlich gar nichts gedacht!“
    „Nein, Decurio.“ gab Vitu kleinlaut zu. Bredica brachte das frugale Lentaculum herbei und flüchtete sofort wieder nach hinten.
    „Na gut.“ knurrte Medis mit kaltem Funkeln im Blick. „Ich weiß, dass sowas nie wieder vorkommen wird. Das weiß ich doch, oder?“
    „Ja, Decurio.“


    Fast lautlos kamen die beiden Frauen herein, öffneten die Läden und begannen, die polierten Vertiefungen der Theke mit Wein und Gemüse zu befüllen. Draußen wurde es hell. Bald würden die ersten Gäste in die Caupona drängen.
    „Iss jetzt! Und dann geh runter und kümmert dich um unsere Schützlinge.“
    „Ja, Decurio.“

  • Erstaunlich. Entgegen Antias’ Verdacht, der dunkle Reisende habe ihm nur irgendeine Mär aufgetischt, gab es die Caupona Aluta also wirklich. Noch dazu schien der Laden kein dunkles vergammeltes Loch zu sein, sondern eine gepflegte geräumige Taberna. „So kann man sich täuschen.“ murmelte Antias beeindruckt vor sich hin und winkte Ferox hinter sich her in die Taverne.


    Götter, welch ein Duft! Eigentlich waren sie ja hergekommen, damit sein Bruder endlich etwas zwischen die Zähne bekam, aber schon allein beim Anblick der wohlgefüllten Behältnisse an der Theke begann nun auch Antias’ Magen gierig zu knurren. Nein, nein, sie würden sich an diesem denkwürdigen Tag nicht mit einem eiligen Imbiss zufrieden geben. Kam gar nicht in Frage! Ein Tisch, ein Krug, ein Mahl, das selbst Konsul Lucullus zufrieden gestellt hätte, nichts geringeres hatten sie sich verdient. Wozu sonst schleppte er die ganzen Sesterzen mit sich rum? Den Rest konnte er dann ja immer noch in den Fluss werfen.


    Ein einladend polierter Tisch schien ihnen geradezu zuzuzwinkern. Die Brüder steuerten zielsicher darauf zu und ließen sich schließlich erwartungsvoll schnuppernd daran nieder. „So, mein Guter.“ grinste Antias über die Tischplatte. „Da wären wir. Wenn du hier hungrig wieder raus gehst, bist du selber schuld.“

  • Ferox rieb sein schmerzendes Ohr. Antias hatte einen ziemlichen Griff drauf, wahrscheinlich vom Waffentraining. „Uns schluchzend in die Arme fallen? Die Leute würden denken, wir wären besoffen! Da siehst du es, ich muss zu den Urbanern, sonst überschwemmen wir vor lauter Wiedersehensfreude jedes Mal die ganze Stadt, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen.“ Lachend klopfte er Antias auf die Schulter.


    Er ließ sich von ihm durch die Stadt schleifen. Götter, es wurde immer verwinkelter! Als sie die großen Hauptstraßen verließen und in irgendwelche Nebengassen einbogen, verlor Ferox den letzte Rest seiner Orientierung. Als sie die Taberna erreichten, hatte er keine Ahnung, wo er sich befand.


    Das Innere der Taberna war verhältnismäßig einladend. Auf dem Boden waren keine größeren Verunreinigungen zu sehen und die Gäste wirkten auf den ersten Blick nicht, als würde hier einer gezielt Ärger suchen. Ferox bestellte sich gebratene Eier und Brot, eine extra große Portion. Die Gemüsebeilage ließ er gegen Käse tauschen, Grünzeug hatte er auf der Reise mehr als genug selbst gesammelt und verzehrt. Er überlegte kurz, ob er sich zum Nachspülen etwas Wein gönnen sollte, entschied sich dann aber doch für Wasser. An einem sentimentalen Tag wie diesem würde er sonst wahrscheinlich heulend und lallend von Antias nach Hause geschleift werden müssen, während er unablässig irgendwelche Peinlichkeiten verkündete.


    „Dass die Urbaner mich in der Castra gleich dort behalten, wundert mich. Ich dachte, man kann wenigstens noch sein Gepäck holen. Aber auch nicht schlecht, da penne ich noch eine Nacht in der Casa Germanica, ehe ich mit Sack und Pack beladen bei den Cohortes aufkreuze. Da fällt mir ein … kann ich Vespa mitnehmen? Also das Maultier. Oder muss ich sie in der Casa lassen?“


    Er zerrupfte das Brot und verteilte es auf den gebratenen Eiern, rührte das Ganze mit dem Zeigefinger um und begann dann Bröckchen herauszupicken und sich in den Mund zu stopfen. Er hatte zu seiner Mahlzeit keinen Löffel bekommen und war nicht sicher, ob das hier so üblich war oder man es einfach vergessen hatte. Aber es war ihm eigentlich auch egal, er hatte Hunger und würde nicht noch länger mit dem Essen warten!

  • Eifrig zwischen den Schmausenden hin und her huschend sah Loukia immer wieder auf Tische und Teller. Es schmeckte. Allen. Was gab es schöneres. Sogar zwei neue Gäste waren gekommen. Nun hieß es, Stammgäste aus ihnen zu machen.


    Mit einer Portion Eier ließ sich das allerdings nur schwer erreichen. Auch wenn ihre Eier ganz sicher knuspriger und würziger waren als bei der lieblosen Konkurrenz. Schade war nur, dass der junge Mann nicht wirklich wusste, wie mit dem Gericht umzugehen war. Aufgerollt und mit etwas der bereit stehenden Kräuterpaste bestrichen, hätten ihre Eier nochmal so gut geschmeckt. Na ja. Banausen eben.


    Aber wenn es glückliche und satte Banausen waren, die sie hier bediente, war alles wie es sein sollte. Der andere aß gar nichts. Das war schade. Nein, nicht schade, das war eine Beleidigung! Da musste sie noch einmal nachfühlen. Vielleicht war er nur unentschlossen. Was Wunder, bei ihrem Angebot.


    Mit einem strahlenden Lächeln ging sie zu den jungen Männern und sprach den größeren von beiden freundlich an.
    „Nun, werter Herr? Vielleicht darf ich dir eine kleine Auswahl an Gerichten näher ans Herz legen. Wir bieten sehr viel mehr als nur Eier.“

  • Zutiefst entspannt sah Antias seinem hungrigen Bruder beim Essen zu. Er selbst war noch gar nicht dazu gekommen, sich näher mit den dargebotenen Speisen zu beschäftigen. Zuallererst galt es mal, Ferox satt zu bekommen. Dem schien es zu munden und das war die Hauptsache. Antias schnüffelte sich zwar den Mund wässrig, wusste aber noch immer nicht, was er bestellen sollte. Oliven? Früchtebrot? Egal, alles nur keine erlesene Früchte vom Südhang des Vesuvs. Die Erinnerung an diesen wurmbefallenen Schlonz in Rufo’s Elysium brachte noch heute seinen Schlund zum zucken. Irgendein Gericht würde ihm schon noch in den Sinn kommen. Zunächst aber würde er erst einmal Ferox' Fragen beantworten.


    „Klar behalten die einen gleich dort.“ begann er schluckend. „Besucher, Neugierige und nur mal so vorbei Schnupperer können die Rekrutierungsoffiziere überhaupt nicht leiden. Die erwarten von einem Bewerber, dass er sich vorher mit seinem Entschluss auseinander gesetzt hat und weiß, was er tut.“ Und das war auch gut so. Einen solchen Schritt tat man am besten zügig, ohne viel Zaudern und Abwägen.


    „Ach ja ..Vespa, die Gute .. mein Wappentier ..“ Nachdenklich kratze er sich am Kinn auf dem schon wieder die Stoppeln knisterten. „Hm .. es gibt natürlich Stallungen in der Castra. Wie den Legionären ist auch den Urbaniciani eine gewisse Zahl an Packtieren zugeteilt. Idealerweise eines pro Contubernium. Nur dürfte der momentane Bestand weit unter der Sollmenge liegen. Die CU rücken eben nur sehr selten unter Fernmarschbedingungen aus.“ Wenn er Avianus bitten würde? Könnte der es wohl irgendwie deichseln, dass Vespa gleich mit rekrutiert wurde? Ferox musste sehr an seinem treuen Langohr hängen, hatte es ihn doch den Rhenus hinauf, über die Berge und Ebenen hinweg bis hierher begleitet. „Nimm sie mit.“ beschloss Antias kurzerhand. „Ich werd’ sehen, was ich tun kann. Sollte sie doch nicht bei uns unterkommen, kann sie immer noch ein dienstbarer Geist in's Stabulum der Casa zurückbringen.“


    So, nun hatte er aber verdammt nochmal einen Riesenhunger. Nach einem aufmunternden Lächeln zu Ferox wandte Antias den Kopf, um die hübsche Wirtin herbei zu rufen, die allerdings stand bereits neben ihm. Verdattert rekonstruierte er ihre fast überhörten Sätze. Kleine Auswahl? An’s Herz legen? „Äh .. ach so .. ich hätte wohl ein paar Oliven .. aber gut, gerne .. sicher, bitteschön.“

  • Bei jedem Wort des Gastes wurde Loukias Lächeln liebenswürdiger. Oliven! Ein paar Oliven! Die gab es vorne am Tresen. Auf die Hand. Wozu brutzelte und rührte und kostete und würzte sie den ganzen Tag, wenn ihre Gäste dann doch nur Oliven verlangten? Banausen. Stammgästen wäre es nie eingefallen, nach Oliven zu fragen.


    Leider, war die Caupona längst noch nicht so bekannt wie sie es hätte sein müssen. Umso mehr legte sie sich ins Zeug. Es konnte nicht angehen, dass ein Gast der einmal hier gegessen hatte, auch nur auf den Gedanken kam, seinen Fuß jemals wieder in eine andere Taberna zu setzten. Die sollten hier überschnappen vor Verzückung. Irgendwann würde Loukia das auch hinbekommen. Oliven.


    „Nun, Herr, wenn du gerne etwas deftiges genießen möchtest, da hätte ich scharfes Wurzelgemüse mit Ochsenstreifen und Eiern, Fenchelbrasse im Rosinenbrotmantel, geschmorter Siebenschläfer mit geriebenem Raphanus oder wenn es etwas süßer sein soll, Honigpuls mit eingelegten Feigen. Dazu natürlich verschiedene Weine, Bier oder Würzwasser.“

  • "Oliven?" Zweifelnd verzog Ferox die Augenbrauen, als Antias seine Bestellung aufgab. Zum Glück hatte die Schankmaid den selben Gedanken wie er und zählte ein paar deftige Speisen auf. Ferox nickte zufrieden."Mädel, bring meinem Bruder bloß was ordentliches, sonst bricht er mir zusammen, wenn er das nächste mal die Rüstung überzieht. Die Oliven kannst du als Beilage machen."


    Sein Blick fiel auf ein Schälchen mit einer undefinierbaren Masse, die ihm zusammen mit den Eiern serviert worden war und die er sich nicht traute zu essen. Stattdessen fummelte er einen Brocken mit viel Eigelb aus seinem Teller und verzehrte ihn.


    "Das wär` ja klasse, wenn ich Vespa mitnehmen könnte", sprach er an Antias gewandt. "Sie ist das treuste Viech, was mir jemals untergekommen ist ... die Kraft eines Pferdes, die Robustheit eines Esels und die Dummheit eines Ochsen. Einen besseren Gefährten kann man sich nicht wünschen! Falls sie doch nicht mit kann, muss ich unbedingt jemanden bitten, eine Pflegeanleitung für die Sklaven der Germanici zu schreiben, damit es ihr an nichts mangelt. Immerhin muss sie durchhalten bis du deine Gens gründest. Aber sie ist noch jung, knapp drei Jahre, da wird das schon."


    Einmal mehr beäugte er die Paste. So etwas hatte er noch nie gegessen, sah aus wie Popel. Er nahm sich lieber ein weiteres Stück Ei.
    "Gibt es noch irgendwas, dass ich für die Rekrutierung wissen muss? Irgendwelche Fallstricke, Leute, mit denen nicht gut Kirschen essen ist oder so was?"

  • „Öhöm ..“ Antias war so hungrig wie überfordert. Er kannte bislang nur Variationen von ägyptischem Getreide: Puls mit was drin oder Puls ohne was drin. Je nachdem, wie viel Zeit seit der letzten Zuteilung schon vergangen war. Einigermaßen ratlos starrte er von der strahlenden Wirtin auf den schmunzelnden Ferox. Was war so falsch an Oliven? Kannte er. Mochte er. Bestellte er aber nicht. „Ja nun .. fein .. dann nehme ich den Siebenschläfer.“ Was immer das auch sein mochte. „Und einen Krug Bier.“ In der Hoffnung, Ferox samt Wirtin damit nachhaltig befriedigt zu haben, konzentrierte er sich wieder auf die Fragen seines Bruders.


    „Ach was. Der Rekrutierung wegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du beantwortest einfache Fragen, turnst ein bisschen rum, liest ein paar Zahlen ab, erträgst vielleicht ein paar blöde Sprüche, je nachdem, an wen du da gerätst, mehr ist es nicht. Sieh mal, die haben sogar mich genommen.“ Nein, darüber brauchte Ferox sich wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Fallstricke lauerten woanders. In den Unterkünften, auf dem Exerzierplatz, im Außeneinsatz. Aber diese Erfahrungen musste jeder Tiro selbst machen, da konnte Antias seinem Bruder nur ein paar grundsätzliche Ratschläge mit auf den Weg geben, die sich vielleicht anhören mochten wie abgestandene Binsenweisheiten. Wahr waren sie trotzdem.


    „Wenn’s dann an die Grundausbildung geht, sperr einfach Augen und Ohren auf. Es gibt immer wieder Tirones, die vorgeben, alles schon zu wissen und zu können. So nassforsche Mischungen aus Gladiator und Feldherr. Begegne diesen Pfeifen immer mit Anstand aber nimm sie dir nicht zum Vorbild, sei lieber selbst eins. Wenn sie sich in den Vordergrund drängen, lass sie einfach. Jeder einigermaßen taugliche Ausbilder kennt die jeweiligen Stärken seiner Männer. Halt deinen Krempel in Ordnung. Versuch’, jeden Fehler nur einmal zu machen. Vergiss nie, wer du bist. Vor allem aber: Lern’, dich auf dein Contubernium zu verlassen und zeig deinen Kameraden, dass sie sich auf dich verlassen können.“ Eindringlich blickte er über den Tisch, fühlte ein dünnes Lächeln um seine Mundwinkel zucken, das sich schnell zum wissenden Grinsen auswuchs. „Und geh nicht mit nassen Haaren aus dem Haus.“ Von wegen Binsenweisheiten, fast hätte er sich zu einer epischen Moralpredigt hinreißen lassen, aber nur fast. „Schon gut Ferox..“ lachte er glucksend auf. „Ende des Vortrags.“ Wo blieb sein Siebenschläfer?

  • Zufrieden registrierte Ferox, dass sein Bruder sich doch noch etwas Normales zu Essen bestellte. Oliven ohne alles! Wie viele hätte Antias davon essen müssen, um einigermaßen satt zu werden? Doch Ferox` Zufriedenheit verwandelte sich in Unbehagen, als Antias ihm über die Rekrutierung und das Leben bei den Stadtkohorten berichtete.


    "Zahlen ablesen? Schöne Scheiße. Reicht das, wenn ich dem Kerl sage, wie die Zahlen aussehen oder muss ich sie benennen?"


    Der Rest hörte sich machbar an. Auch wenn Ferox ahnte, dass Ausbilder unter 'Ordnung' etwas anderes verstanden, als er bisher in seiner Waldhütte gewohnt war, aber das ließ sich ja lernen. Andere schafften das schließlich auch, also konnte es so schwer nicht sein. Das Lesen allerdings war ein ernstes Problem ... Ferox hoffte inständig, dass dies kein Ausschlusskriterium war und er noch einen Schnellkurs in Buchstabenkunde absolvieren musste, ehe er bei den Cohortes Urbanae antanzen konnte.

  • Einige Augenblicke lang schweiften Antias Gedanken zu dem eben bestellten Essen ab. Was da wohl auf seinem Teller landen würde? Die Wirtin wusste doch hoffentlich, was sie tat? Gerade als er den Hals strecken und nach ihr Ausschau halten wollte, machte ihn Ferox’ nächste Frage stutzig. Dem Kerl sagen, wie Zahlen aussehen? „Wie? Naja, benennen wäre schon ganz hilfreich .. siehst du da ein Problem?“ Antias schlug die Stirn in Falten und blickte seinem Bruder forschend in die braunen Augen. Konnte das sein? Hatte Varus seine Pflichten wirklich dermaßen vernachlässigt? „Du kannst nicht lesen, oder?“


    In dem Moment als er die Frage stellte, kannte er bereits die Antwort. Von einem siedenden Zorn gepackt schlug Antias die Hand auf die Tischplatte. Das war nicht gerecht! Das war verflucht noch eins nicht gerecht! Sein ach so hochanständiger Vater hatte in Wirklichkeit keinen Funken Verantwortungsgefühl besessen! Wie konnte er nur! Wie konnte Varus dem einen Sohn sein ganzes Wissen vermitteln und es dem anderen vorenthalten? Verdammte Schafsscheiße! Wo war überhaupt sein Essen? Wütende Blicke durch die Caupona schleudernd, versuchte Antias sich wieder zu beruhigen. Es half ja nichts. Varus war tot. Aber seine Söhne lebten noch, beide. Wenn Ferox von seinem Vater nicht die nötige Zuwendung erhalten hatte, würde er sie eben von seinem Bruder bekommen.


    „Entschuldige Ferox.“ sagte Antias schließlich traurig. „Es ist nicht deinetwegen, du bist der letzte, der etwas dafür kann. Varus hat seine Pflichten dir gegenüber völlig vergessen. Tut mir leid, sehr. Es ist doch so? Du kannst nicht lesen?“ Natürlich war es so. Und wie sollte es nun weitergehen’? Selbstverständlich würde Antias seinem Bruder das Lesen beibringen. Abends, nach Dienstschluss. Die ganze Nacht, wenn es sein musste. Aber zunächst mal hieß es improvisieren. Wann und wo es im täglichen Dienstablauf wirklich nötig war, lesen zu können, darüber konnte er sich später noch den Kopf zerbrechen. Allem voran stand die Eignungsprüfung.


    „Wenn ich wenigstens wüsste, welcher Optio Valetudinarii gerade Dienst hat.“ seufzte er matt. „Aber wir kriegen das hin, Ferox. Ich muss nur mal eben drüber nachdenken.“ Grübelnd starrte er durch den Raum. Den Siebenschläfer konnten sie von ihm aus schlafen lassen, aber wo blieb sein Bier?

  • Ferox rieb sich verlegen den Hinterkopf. "Nun ja ... bisher habe ich es nie gebraucht und Vater hat das wohl genauso gesehen. Was hätte ich denn im Wald aufschreiben oder lesen sollen? Den Verkauf der Pelze, das hat hauptsächlich Großvater gemacht, aber der hat auch nur im Kopf gerechnet. Das kann er ziemlich gut, also ..."


    Es half nichts, die Wahrheit musste früher oder später raus! Er räusperte sich.


    "Nein, ich kann nicht lesen. Weder Zahlen noch Buchstaben."


    Seine Wangen glühten. Er fühlte sich, als hätte er eben gebeichtet, dass er Damenunterwäsche trug. Ferox aß noch ein paar Brocken Ei, um einen Grund zu haben, Antias nicht ins Gesicht zu schauen.


    Der wartete indes immer noch auf seinen Siebenschläfer, der wahrscheinlich erst sieben Mal geweckt, betäubt, getötet und gehäutet werden musste, so lange wie das hier dauerte. Normaler Weise hätte Ferox sein Ei mit Antias geteilt, aber nachdem er mit dem Finger darin herumgerührt hatte, konnte er ihm das unmöglich anbieten. Er schob ihm dafür die grüne Paste hin.


    "Hier, falls du magst ... vielleicht erbarmen sie sich und bringen dir wenigstens etwas Brot."

  • Mit einem seligen Lächeln blies sich Loukia eine schwarze Strähne aus der Stirn. Allen schmeckte es. Alle waren glücklich und zufrieden. Alle bis auf einen. Aber aus dem würde sie auch noch einen Stammgast machen. Auch wenn er es ihr nicht gerade leicht machte. Gerade deswegen! Sie schlüpfte in ihr betörendstes Lächeln und schwebte mit Krug und Teller zu dem ungeduldigen Olivenliebhaber an den Tisch. Erst konnte man sich nicht entscheiden. Dann ging es nicht schnell genug. Banause! Bier zum Siebenschläfer! Da lag noch viel Arbeit vor ihr.


    „Bitte, werter Herr. Deine Speisen. Geschmorter Siebenschläfer, geriebener Raphanus und – Bier.“


    Brot gab es obendrein. Garum stand auf dem Tisch. Für die Knochen stand eine kleine Holzschale bereit. Sollte sie ihn darauf hinweisen? Nein. Er war ja nicht blind. Nur unbeholfen. Fast so unbeholfen wie sein Freund.


    „Falls sonst noch etwas gewünscht wird, ein Wink genügt. Bene vobis sapiat.“

  • Antias empfand höchsten Respekt für Ferox, es musste ihn einiges an Überwindung gekostet haben, damit rauszurücken. „He, Ferox.“ drang er mitfühlend auf seinen Bruder ein. „Du brauchst dich nicht dafür zu schämen. Es ist bloß .. etwas ungewöhnlich .. das ist alles.“ In der Tat. Die Bürger Roms waren zum überwiegenden Teil des Lesens mächtig, was nicht automatisch bedeutete, dass sie auch schreibkundig waren. Wie auch immer, beides musste erst erlernt werden, wenn nicht früher dann eben später. Alles hing zunächst mal an der Tauglichkeitsprüfung. Wenn Ferox alle anderen Anforderungen ohne Abstriche erfüllte, konnte es an einem temporären Defizit doch nicht scheitern. Das Problem lag wohl weniger darin, dass Ferox noch nicht lesen konnte, sondern vielmehr in der Notwendigkeit, sein Sehvermögen zuverlässig testen zu können, und das ging auch anders. Ohne Zahlen. Mit Punkten und Strichen beispielsweise. Wenn er sich einfach für Ferox verbürgte? Sich verbindlich bereit erklärte, ihm bis zum Ende der Grundausbildung das Lesen beizubringen? Tief in Gedanken versunken nahm er nur am Rande wahr, dass jemand auf ihn einsäuselte.


    Sein Essen war doch nicht etwa eingeschwebt? Zerstreut blickte er zur Wirtin auf, sah aus wie eine Griechin, dann auf seinen Teller hinab, sah aus wie ein Iltis. „Danke .. wir .. melden uns schon.“ Mit spitzen Fingern angelte er sich eine der feinen Rippen voll dunkelroten Fleisches. Es roch köstlich. „Also, Ferox. Wir machen das folgendermaßen ...“ Behutsam begann er das zarte würzige Fleisch von den Knochen zu knabbern. Schmeckte nicht wie Ilstis. Eher wie Eichhörnchen. „.. du sagst dem Optio Valetudinarii einfach die Wahrheit und schlägst vor ..“ Da musste Garum drauf! „.. dein Sehvermögen mit alternativen Symbolen zu testen. Darüber hinaus ..“ Heftiges Schütteln der Garumflasche, pittoreskes Endergebnis. „.. sagst du ihm, dass dein Bruder Miles Germanicus Antias von der Zwölften sich verpflichtet, dir das Lesen beizubringen, noch bevor deine Grundausbildung zu Ende ist.“ Jetzt schmeckte es wie Fischotter. Antias kaute fasziniert weiter, schob einen Batzen Rhapanus hinterher und lächelte Ferox verschmitzt zu. „Falls du das überhaupt möchtest, natürlich.“

  • Ferox beobachtete gespannt, wie sein Bruder das Essen nachwürzte und dann zum Mund führte. Antias` Gesicht verzog sich und das nicht gerade zu einem Lächeln. Die Soße schien so widerlich zu schmecken wie die von Ferox aussah. Zum Glück hatte er sie noch nicht mal gekostet, sonst dürfte er den Rest des Tages womöglich auf der Latrine verbringen.


    Als Antias ihm anbot, ihm das Lesen beizubringen, erhellte sich sein Gesicht für einen Moment bei dem Gedanken, nun einen Grund zu haben, regelmäßig Zeit mit ihm zu verbringen. Dann verfinsterte es sich wieder. Allein bei der Vorstellung, dass er diese kryptischen Zeichen, die man verharmlosend Buchstaben nannte, lernen musste zu deuten.


    Er erinnerte sich daran, wie Varus ihm versucht hatte, wenigstens das Schreiben seines Namens beizubringen. 'Jede littera steht für einen Laut', hatte er erklärt und Ferox war daran verzweifelt. F-E-R-O-K-S. Egal wie oft er zählte, er kam immer auf einen Laut zu viel. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass es Ausnahmen gäbe und manche Buchstaben zwei Laute zu einem zusammenfasste und auf das kreuzförmige Symbol am Ende gewiesen. 'Hier zum Beispiel, das ist ein X. Das steht für K und S.'


    I-K-S. Drei Laute. Ferox hatte zuerst das Kreuz, dann ihn verständnislos angestarrt und das war das letzte Mal gewesen, dass Varus sich mit einer Wachstafel zu seinem Sohn gesetzt hatte.


    Ferox rieb sich die Schläfe, hinter der es schmerzhaft pulsierte. „Ich … würde mich darüber freuen das zu lernen.“ Das war gelogen. „Ähm, freuen, wenn du es mir beibringen würdest.“ Jetzt war es zumindest keine Lüge mehr. Über die Zeit mit Antias freute er sich wirklich. Die Frage war nur, wie lange Antias Freude bei dem Versuch haben würde, die litterae in den Schädel seines Bruders zu kriegen. Allein bei der Vorstellung von Buchstaben bekam Ferox Kopfschmerzen!


    „In Ordnung, ich werde dem Kerl das dort so sagen, wie du gesagt hast. Und hoffen, dass man mich dafür nicht gleich wieder hochkant rausschmeißt und mir 'Versager!' hinterherbrüllt. Man hört ja manchmal so lustige Dinge über den Ton beim Militär. Bin schon gespannt, ob es wirklich so ist, dass man dann in einer Reihe steht, während der Vorgesetzte auf und ab schreitet und einen für jedes Staubkörnchen und jeden vergessenen Bartstoppel zusammenbrüllt.“


    Das Ei war alle. Ferox hob den Teller vor sein Gesicht und leckte ihn sauber.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!