"Nosce te ipsum" - "Erkenne dich selbst" in Germania Libera

  • Immer näher kamen sie der Gestalt und als diese plötzlich aufsprang und sich den Kopf vom Kopf riss, befürchtete Othmar einen weiteren Überfall. nicht schon wieder, dachte er und griff zu seinem Dolch. Als ihm jedoch bewusst wurde, was die Gestalt da von sich gab, hielt er inne und stoppte die Esel. Hrothgar trat an seine Seite und Wolfhart blinzelte etwas. Als die Gestalt dann kurz vor dem Wagen war, erkannte Othmar Alpina, allerdings nicht sofort und auch erst auf den dritten Blick. Sie hatte eine Verletzung im Gesicht und hatte sich wohl die Haare abgeschnitten. Außerdem hatte sie ihre Frauenkleidung zugunsten eines Männeraufzugs abgelegt. Nicht dumm, das Mädchen, dachte Othmar, doch sofort gingen seine Gedanken auf ihre Verletzungen. Was war mit ihr passiert?


    Alpina.


    grüßte der Händler leicht krächzend und musterte sie dann.


    Dir haben sie aber auch zugesetzt...


    Etwas Sorge blitzte in seinem Augen auf. Fast dachte Othmar, er würde väterliche Gefühle für die junge Frau entwickeln, was allerdings vollkommen seinem sonstigen Naturell widersprach. Eigentlich war sie doch immer nur ein kleines Geschäft gewesen.

  • Am liebsten wäre Alpina den drei Männern um den Hals gefallen, so erleichtert war sie, sie wiedergefunden zu haben. Doch sie hielt sich zurück, blieb kurz vor Othmar stehen und sah den Pelzhändler lange an. Was und wieviel sollte er wissen, von dem was ihr widerfahren war?


    "Wie ich sehe, seid ihr auch nicht unverletzt? Seid ihr auch Opfer der wilden Horden dieser chattischen Norwiga geworden? Ich wurde in Novaesium von ihren Schergen aufgegriffen. Frag mich bitte nicht, welche Gräueltaten diese Tiere verübt haben. Wichtig ist eigentlich nur, dass ich es überlebt habe. Und, dass ich euch gefunden habe! Ich bin so froh! Erzähl du doch, was euch passiert ist!"


    Sie kramte in ihrer Rückentrage und zog die letzten Münzen hervor, die sie noch hatte.
    "Würdest du mich noch einmal ein Stück bis in die Provinz Germania Superior mitnehmen? Ab da schaffe ich es alleine, denke ich."
    Mit dieser Frage hielt sie dem Pelzhändler die Münzen hin.

  • Othmar verzog bei den Erzählungen Alpinas das Gesicht, schüttelte aber auf ihre Frage mit dem Kopf.


    Es war ein Hinterhalt. Die Chatten haben es nicht mehr nötig, aus dem Hinterhalt anzugreifen.


    stellte er verbittert fest. Nein, die Chatten würden wohl einfach nur Wegzoll nehmen oder Sondersteuern erheben oder Pflichtabgaben verlangen oder, oder, oder.


    Es hat vor allem Hrothgar schlimm erwischt. Ich weiß nicht, was mit seinem Arm ist, doch er muss dringend behandelt werden.


    Er blickte zu Hrothgar, der nur stoisch auf den Boden sah. Er hatte nicht einmal geblockt, sondern stöhnte nur manchmal unterdrückt auf, wenn er seinen Arm irgendwie belasten musste.


    Dann blickte er zu ihrer ausgestreckten Hand mit den Münzen. Er könnte jetzt ein Geschäft machen, schüttelte aber nur den Kopf.


    Wie du siehst, kann ich im Moment jede Hilfe gebrauchen, die ich bekommen kann. Allerdings wirst du wohl ein bisschen mehr gefordert sein, als auf dem Hinweg.

  • Entsetzt lauschte Alpina Othmars Ausführungen. Sie waren also in einen Hinterhalt geraten und hatten sich offenbar tapfer gewehrt. Die Blessuren, die sie davongetragen hatten, behinderten die Händler nun. Deshalb kamen sie nur langsam voran. Othmars Ankündigung, dass er statt des Geldes lieber ihre Mithilfe haben wollte, freute Alpina und sich machte sich auch sofort daran, ihren Beitrag zu leisten. Sie trat an Hrothgar heran und bat ihn, ihr seinen Arm zu zeigen.


    Der rechte Unterarm des stummen Mannes war in der Nähe des Ellbogens dick angeschwollen. Alpina versuchte zu tasten, ob der Arm gebrochen war. Obwohl die Tastuntersuchung offensichtlich sehr schmerzhaft war, konnte Alpina keine Bruchstelle tasten. Als sie aber versuchte, den nach innen gedreht gehaltenen Arm zu drehen, ließ Hrothgar einen unterdrückten Schrei hören. Nun hatte Alpina einen Verdacht. Sie hatte einmal erlebt, wie ihre Mutter eine solche Verletzung bei einem etwa dreijährigen Kind behandelt hatte. Die Mutter hatte erklärt, dass es sich um eine Form von Ausrenken des Köpfchens des Speichenknochens handelte, die durch einen unvorbereiteten Zug am Unterarm hervorgerufen worden war. Man konnte diese Fehlstellung reponieren. Bei einem Kleinkind kein Problem, aber Hrothgar war groß und kräftig. Alpina würde die Hilfe eines der Männer brauchen.


    "Ich denke, ich kann Hrothgar helfen. Einer der Kerle, der euch angegriffen hat, hat Hrothgar den Speichenknochen am Ellbogen ausgerenkt. Ich kann ihn zurückschieben, wenn einer von euch mir hilft und den Arm unter Zug nimmt. Es wird kurz sehr weh tun, danach aber lässt der Schmerz schnell nach und er kann den Arm bald wieder gut bewegen und belasten. Mit ein paar Beinwellumschlägen heute Abend in Mattiacum wird er schnell wieder fit sein. Wer von euch möchte mir helfen?"


    Sie sah erwartungsvoll von Othmar zu Wolfhart.

  • Othmar hatte in dem ganzen Stress gar nicht bedacht, dass auch Alpina medizinische Kenntnisse hatte. Daher beobachtete er, wie sie Hrothgar untersuchte unf offenbar sofort wusste, was ihm fehlte und wie das behandelt werden könnte. Danach trat er nun nach vorne, während Wolfhart bei den Tieren blieb und wartete auf Anweisungen der jungen Frau.

  • Alpina nickte Hrothgar aufmunternd zu und begann Othmar einzuweisen. Sie positionierte ihn direkt vor Hrothgar und zeigte ihm, wie er seine Rechte von der Daumenseite her um den Unterarm des stummen Mannes legen sollte. Sie selbst stellte sich neben Hrothgar und legte ihren Daumen von außen an die Stelle des Unterarms die geschwollen und schmerzhaft war.
    "Wenn ich das Kommando gebe, ziehst du mit Kraft an Hrothgars Unterarm und drehst ihn gleichzeitig nach außen. Ich schiebe hier von der Seite das Speichenköpfchen wieder in seine Postion. Es wird weh tun und Hrothgar wird schreien. Lass dich davon nicht irritieren. Kurz darauf wird der Schmerz vorbei sein."


    Sie lächelte Hrothgar zuversichtlich an und zählte bis drei. Dann rief sie. "Jetzt!"
    Othmar zog und drehte dann mit wohldosierter Kraft Hrothgars Unterarm nach außen. Der stumme Mann brüllte los:
    "AHHHHHH!!!" kam ein kehliger Laut aus seinem Rachen.
    Im selben Moment schob Alpina mit ihrem rechten Daumen das knöcherne Ende der Speiche wieder in seine ursprüngliche Position.


    Mit einem erleichterten Seufzen atmeten alle drei aus. Alpina und Othmar weil die Anspannung vorüber war, Hrothgar weil der Schmerz nachließ. Um zu überprüfen, ob sie erfolgreich waren, tastete Alpina den Unterarm ab und drehte ihn zeitgleich nach außen. Diesmal kam kein Schmerzenslaut aus Hrothgars Kehle. Ganz im Gegenteil - er grinste und nickte Alpina zu. Sie lächelte zufrieden.
    "Siehst du! Es hat funktioniert. Wir sollten trotzdem heute noch Umschläge gegen die Schwellung machen. Ich habe im Wald schon einige Vorkommen von Beinwell gesehen. Auf dem Weg nach Mattiacum grabe ich ein paar der Wurzeln aus. Zerkleinert ergeben sie einen Brei der wundheilend und abschwellend wirkt."


    Dann übernahm Alpina Hrothgars Funktion und führte die Esel, die sie zuvor noch mit ihrem letzten Stückchen Brot bestach. Es war notwendig, dass sie vorwärts kamen, wenn sie nicht in die Dunkelheit geraten wollten. Wo auch immer Alpina Beinwellpflanzen sah, entnahm sie dem Boden eine der Wurzeln. Bald hatte sie genug beisammen, dass es für einen Umschlag reichen würde.

  • Othmar tat, wie ihm geheißen, zuckte dann aber doch zusammen, als der laute, kehlige Schrei seines Begleiters ertönte. Danach schaute er besorgt zu Hrothgar. Als dieser jedoch schon wieder ein Grinsen im Gesicht hatte, war der Händler erleichter. Für den weiteren Weg übergab er Alpina die Führung der Esel und ging selbst zur linken des Wagens. Hrothgar sollte sich zur rechten etwas schonen und Wolfhart bildete, wie immer, das Schlusslicht der kleinen Gruppe.


    Hier, kurz vor der Sieldung Mattiacum, nahmen dann auch endlich die Wegmarken zu, die sich Othmar gemerkt hatte: Dort der massive Findling, der dort lag, als sei er dort von einem Gott oder Riesen persönlich liegen gelassen worden, links eine verwitterte Mauer, die offenbar die Reste eines Hofgrenze markierte. Jedoch gab es Othmar zu denken, dass ihnen auch hier noch kaum Händler entgegenkamen. Erneut runzelte er die Stirn. Offenbar würde der Rückweg deutlich komplizierter werden. Bestätigt wurde das, als die Schneise im Erdwall der Siedlung Mattiacum in Sicht kam und dort ganze vier Wächter standen, von denen zwei schon an ihrer Kleidung als Fremde zu erkennen waren. Als jener ältere Wächter, der die Gruppe auch schon beim Hinweg eingelassen hatte, Othmar sah, löste er sich aus der Gruppe und rief seltsam laut


    Die übbernehmich!


    und kam der Gruppe bereits entgegen. Außerhalb der Hörweite der beiden Fremden umschritt er den Wagen und musterte die Händlergruppe, flüsterte ihnen dabei aber immer leise etwas zu.


    Scheiße, Othmar. Ganz schlechter Zeitpunkt. Kurz nach deiner Abreise sind die Chatten bei uns eingefalln. Sie haben zwanzig Krieger hiergelassen, die alles beobachten. Und Ranulf hat nichts mehr zu sagen. Wennes also nich unbedingt sein muss, solltes du weiterziehn.


    Er klopfte den Wagen ab und untersuchte die drei Männer und die junge Frau intensiver als gewohnt.


    Othmar wandte sein Gesicht ab, um seine schlechte Laune zu verbergen: Wie kamen die Chatten bis hier her? Doch brauchten sie Hildruns Heilkünste, auch wenn sie hier ihre Vorräte nicht aufstocken könnten.


    Es muss sein...


    flüsterte Othmar zurück. Der Krieger nahm ihre Dolche an sich und klopfte dann dem Händler leicht auf die Schulter bevor er sie zur Schneise führte.


    Diese Händlergruppe zieht morgen nach Norden weiter, benötigt aber Hilfe von unserer Kräuterfrau.


    Die Stimme des Wächters war lauernd und erst als die beiden Fremden nickten führte er sie hinein und direkt zum Haus Hildruns. Danach machte er sich auf den Weg zum neuen Haus des Ranulf, der nicht mehr im großen Gebäude im Dorfzentrum wohnte, sondern sich deutlich verkleinern musste.

  • Endlich erreichten sie Mattiacum. Doch etwas war anders. VIer Wächter standen am Eingang zu der Siedlung. Einer von ihnen beeilte sich, ihnen entgegen zu kommen. Er überprüfte den Wagen und die Händler, natürlich auch Alpina. Sie spürte, wie ihr Herz zu rasen anfing. Die Erinnerungen an die Grausamkeiten der Chatten in Novaesium kamen wieder hoch. Der Wächter flüsterte mit Othmar, doch Alpina konnte nicht verstehen, was sie sprachen. Ihr Unbehagen wuchs, vor allem als sie ihre Dolche abgeben mussten. Doch wenigstens war sie diesmal in Begleitung der wehrhaften Pelzhändler.


    Sie steuerten zunächst das Haus der Heilerin Hildrun an. Nachdem man sich herzlich gegrüßt hatte, erzählte Hildrun vom Überfall der Chatten und den Repressalien, denen die Dorfbevölkerung nun ausgesetzt war. Alpina wurde mulmig. Es klang fast genuso wie es in Novaesium gewesen war. Alpina konnte die Angst nur mühsam unterdrücken. Um sich abzulenken erklärte sie der germanischen Heilerin von Hrothgars Verletzung und ihren Maßnahmen. Hildrun nickte. Dann brachte Alpina die Beinwellwurzeln ins Haus und schlug vor, dass sie gemeinsam einen Brei daraus herstellen könnten. Hildrun war begeistert. Sie selbst kannte und nutzte die Beinwellwurzel auch häufig. Und so waren beide Frauen in Kürze damit beschäftigt, die Wurzeln zu zerkleinern und einen sämigen Brei daraus herzustellen. Dick auf den geschwollenen Arm aufgetragen und mit Binden fixiert, sollte er die Schwellung und den Entzündungszustand lindern. Othmar war inzwischen zu Ranulf gegangen. DIe Gefährten warteten auf seine Rückkehr.

  • Sie waren bereits eine Stunde in der Hütte Hildruns als das Dorfoberhaupt Ranulf erschien. Er wirkte seit ihrem letzten Zusammentreffen vor wenigen Wochen deutlich älter und verhärmter. Es schien ein tiefer Schleier auf seinem Gesicht zu hängen, doch versuchte er, so engagiert wie früher zu wirken. Als er die Hütte betrat, begrüßte er erst Hildrun, die ebenfalls ziemlich bedrückt schien, auch wenn sie seit der Ankunft Othmars und seiner Begleiter etwas aufblühte, dann Othmar und seine Begleiter, die ebenfalls ein schlechtes Bild abgaben.


    Die Zeiten ändern sich.


    sagte er, ebenso entschuldigend, wie bedrückt und erzählte dann nochmal aus seiner Perspektive die Geschichte von der Übernahme des Dorfes durch die Chatten und damit auch von seiner eigenen Entmachtung. Er stellte klar, dass er praktisch nichts mehr zu sagen hatte und einer der Chatten nun das Dorf organisierte. Besonders der Handel mit den römischen Provinzen litt darunter, da dieser komplett untersagt wurde, was von den Chatten vor Ort mit aller Härte durchgesetzt würde.


    Othmar hörte angespannt zu. Es gefiel ihm natürlich überhaupt nicht, weil dadurch nicht weniger als seine wirtschaftliche Existenz in Frage gestellt wurde. Er entschied für sich, dass er so schnell wie möglich in die benachbarte römische Provinz Germania Superior zurückkehren wollte, um sich den chattischen Despoten zu entziehen, was er in der kleinen Runde auch deutlich sagte. Ranulf nickte verstehend. Auch er hätte mehrfach darüber nachgedacht, aber letztlich entschieden, dass sein Platz in seinem Dorf sei. Othmar blickte zu seinen Begleitern, sowohl Hrothgar, als auch Wolfhart stimmten ihm nickend zu und Alpina wollte ja ohnehin wieder zurück nach Mogontiacum. Überrascht wurde er jedoch, als Hildrun das Wort ergriff. Ihre Rede schien lang geplant und wohl durchdacht. Jedes Wort war genau gewählt und liefen letztlich darauf hinaus, dass sie gemeinsam mit dem in die römische Provinz fliehen wolle. Sie habe sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, doch könne sie unter diesen Tieren nicht mehr vernünftig ihrer Arbeit nachgehen.


    Othmar blickte die Kräuterfrau ungläubig an. Lange brachte er kein Wort heraus, bis er schließlich ganz einfach nickte. Letztlich kam es also so, wie sie beide es sich eigentlich gewünscht hatten. Ranulf hingegen stimmte nur widerwillig zu, zumal das Verschwinden der Kräuterfrau wohl sehr schnell auffallen würde. Doch es blieb die Frage nach dem Wie. Der Wächter hatte gesagt, dass sie nach Norden weiterziehen würde, allerdings hielt Othmar das für ausgeschlossen, wenn sie nun zwei Frauen dabeihatten, von denen eine auch letztlich gesucht werden würde. Sie müssten das chattischen Einflussbereich so schnell wie möglich verlassen, am besten über die Limeskastelle im Süden, wo sie dann auch gleich auf die chattische Bedrohung aufmerksam machen könnten. Der Weg dorthin war nicht weit, aber dennoch gefährlich genug.

  • Die Gefährten übernachteten bei Hildrun im Haus. Am kommenden Morgen half Alpina der Kräuterfrau die notwendigsten Sachen für ihre gemeinsame Flucht zusammenzusuchen und einzupacken. Die angespannte Situation schlug sich auf die Stimmung der Händler. Sie wussten nicht, ob sie sich und ihre Ware in die nahegelegene römische Provinz retten konnten. Wenn sie aufgegriffen wurden, würden sie ihre Ware abgeben und damit herbe Verluste hinnehmen müssen.


    Dass die Entscheidung ihre Heimat zu verlassen gerade Hildrun sehr schwer fiel, war Alpina bewusst. Lange sprach sie mit ihr über ihren Neuanfang in Mogontiacum, über Heimweh nach Mutter und Schwester und über geplatzte Träume. Sie bestärkte sie aber dennoch in ihrem Entschluss, und die Schilderung ihrer Erlebnisse in Novaesium, zumindestens soweit sich Alpina daran erinnerte, ließen keine wirkliche Alternative zu.


    Sie brachen früh auf. Ohne größere Diskussionen händigten die Wächter ihnen die Dolche aus. Um ihre Aussage vom Vortag nicht als Lüge zu offenbaren, schlugen sie zunächst den Weg nach Norden ein. Doch sobald sie außer Sichtweite der chattischen Wächter waren, bog Othmar auf einen schmalen Pfad ein, der die Siedlung umging und sie nach Süden auf die Befestigungsanlagen des Limes zuführte. Schweigend und zügig marschierten sie voran. Sie wollten so schnell wie möglich hinter den schützenden Limes gelangen.

  • Auch wenn das Tempo hoch war, ließ es sich doch nicht vermeiden, dass sie wegen der Gruppengröße nicht so schnell vorankamen, wie es sich der Händler vielleicht gewünscht hätte. Vor allem Hildrun hatte Schwierigkeiten, das hohe Tempo mitzugehen, weshalb Othmar irgendwann mit Hrothgar wechselte und gemeinsam mit ihr hinter dem Wagen gingen, während Hrothgar vorne neben Alpina die Spitze bildete. Sein Arm war noch bandagiert und er hatte strikte Order, sich zu schonen, doch hatte auch er, so wie Othmar, einen hervorragenen Orientierungssinn und konnte die Gruppe daher auch gut um das Dorf herum und schließlich auf den Pfad gen Süden. Nichtdestotrotz wussten sie alle, dass sie schnell sein mussten, um nicht möglichen chattischen Patrouillen zu begegnen und bald den Limes überschritten.


    Dass sich Othmar ein bisschen Sorgen darum machte, dass sein Verhältnis mit Hildrun offenkundig werden würde, musste er sich zurückhalten, ihr nicht allzu große Freiheiten einzuräumen. Inwieweit das aber fruchtete - oder das Verhältnis ohnehin schon bekannt war - interessierte ihn im Moment nur wenig, solange sie nur bald den Limes zu Gesicht bekämen. Doch der Weg zog sich. Aus Sicherheitsgründen vermieden sie die breit ausgebauten Pfade und nahmen Schleichwege, wodurch der Wagen immer wieder abgebremst wurde. Als die Sonne dann ihren Zenit überschritten hatte, sahen sie die breite Schneise vor sich, die das Grenzgebiet markierte. Hildrun griff nach Othmars Hand und er hielt die ihre fest, während sie den Wald verließen und das nächste Tor ansteuerten. Es stand offen und es standen mehreren schwer bewaffnete Wachen dort, woraus Othmar schloss, dass auch ihnen die Veränderungen im "freien" Germanien nicht verborgen geblieben waren. Inwieweit sie dem aber tatsächlich Bedeutung zumaßen wusste der Händler natürlich nicht.


    Als sie das Tor erreichten kamen sofort mehrere Wächter auf sie zu. Othmar stellte sich und seine Begleiter vor, nannte ihr Ziel und seine übliche Handelsroute und einige Bürgen aus den Reihen der Grenzkohorten. Die Wächter nickten, durchsuchten den Wagen und ließen die Gruppe passieren. Das "freie" Germanien, oder - wie manche wohl sagen mochten - die "chattische Föderation" lag hinter ihnen und vor ihnen die römische Provinz Germania Superior, die von genug Soldaten beschützt wurden, um die Chatten fernhalten zu können.


    In dem zugehörigen Grenzkastell lag nun direkt ihr erster Haltepunkt. Wie immer verkaufte Othmar bereits hier die ersten Pelze und als jener Soldat, der sie auf dem Hinweg verabschiedet hatte, erfuhr, dass er wieder hier war, holte er sich auch seine zwei versprochenen Pelze ab.

  • Erleichtert sah Alpina das Tor im Schutzwall, das das "freie Germanien" vom Imperium Romanum trennte. Nur noch wenige Schritte, dann wären sie in Sicherheit.
    Überrascht sah Alpina, wie Hildrun Othmars Hand nahm. Sie hatte bereits festgestellt, dass die beiden eine gewisse Vertrautheit zeigten. Das Händchenhalten offenbarte jedoch, dass sie wohl mehr als Freundschaft verband. Um so verständlicher, dass Hildrun nicht in dem von den Chatten kontrollierten Dorf bleiben wollte. Sie wäre wohl über kurz oder lang das Opfer gewalttätiger Übergriffe der Besatzer geworden. Alpina lächelte still. Sie freute sich für den oft etwas mürrischen Othmar, dass er eine passende Partnerin gefunden hatte. Hildruns Anwesenheit würde ihm sicher guttun.


    Zum Glück nahmen die Wachen die Kontrollen nicht allzu gründlich vor und ließen die Händler passieren. Alpina konnte ein allgemeines Aufatmen der Gefährten wahrnehmen. Nun war es nicht mehr weit bis zu ihrer ersten Station dem Grenzkastell und auch eine adäquate Unterkunft war ihnen sicher.
    Der einzige Wehmutstropfen, den Alpina verspürte, war die Gewissheit, dass bald für sie der Tag der Wahrheit kommen würde. Nach Mogontiacum war es nun nicht mehr weit. Dort würde sie sich den bohrenden Fragen der helvetischen Brüder stellen müssen. Und sie würde diesmal nicht einfach fliehen können. Sie musste sich offenbaren.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!