Libertate immoderata ac Licentia contionum

  • Mitnichten hatte der junge Flavius es sich nehmen lassen, seine civilen Obliegenheiten, obschon sie ihm nicht originär, sondern gleichsam seiner naturalen Nationalität adjungiert worden waren, auch in jenem Exil, welches ja womöglich den Rest seines so jungen Lebens würde umfassen, zu erfüllen. Neben der Folgsamkeit gegen die Mahnungen des Gymnasiarchos war es indessen insonderheit seinem Vorwitz geschuldet, jene Persistenz aufzubringen, seinen Gastgeber Sulpicius zur Teilnahme an der Ekklesia zu persuadieren, obschon jener doch augenscheinlich ein nicht geringes Interesse an der alexandrinischen Politik bei diversen Gastmählern hatte offenbart.


    Dessenungeachtet hatte der Jüngling seinen Willen bekommen und somit saßen sie endlich in den Reihen des Theatrums inmitten einer bunten Schar an Politen, deren Treiben mehr an den originären Zweck jenes Bauwerks, die Lustbarkeiten der Musenwelt, gewahren ließen denn an die ernste Angelegenheit der Staatenlenkung, welche hier auf so kuriose Weise wurde praktiziert. Noch immer erschien es dem jungen Aristokraten nämlich gänzlich uneinsichtig, wie jene gewaltige Schar an Menschen, derer man im Rund des Theatrons umso bewusster wurde, in völliger Gleichheit der Stimme und des Wortes zu einer weisen Dezission mochte gelangen, zumal er nicht wenige unter den Alexandrinern erspähte, die augenscheinlich sich glücklich konnten schätzen, den Chiton auf ihrem Leibe ihr Eigen zu nennen. Jedem Narren auf den Straßen Roms indessen war wohlbewusst, dass die Menschen ungleich waren, sobald sie das Licht der Welt erblickten, und ungleich blieben, bis wiederum die Welt ihre höchst differenten Grabmäler an den Ausfallstraßen der Städte erblicken mochte. Jener Inäqualität hingegen war es gleichsam inhärent, dass auch die Weisheit und Eignung zur Beurteilung des Kosmos nicht jedem gleichermaßen war gegeben, weshalb es lediglich rational war, den besten, welche die Quiriten als Optimati, die Hellenen als Aristoi zu titulieren pflegten, die Bürde der Politik aufzulasten, während das Talent der Plebs weitaus gewinnbringender war zu gebrauchen, wenn diese unterdessen der Produktion von Gütern oder anderweitiger tumber Handarbeit sich zuwandten.


    Eine Novität erbot sich dem Jüngling jedoch recht baldig nach der Eröffnung der Sitzung, welche mit einem stupenden Maß an Lobpreisungen des Basileus initiiert wurden und somit einen amüsanten Kontrast zu den Bekräftigungen der Necessität schrankenlos Demokratie bildete, welchen zu thematisieren der junge Gracchus sich inmitten der lautstarken Hymnen und Applaudisements endlich doch geneigt fühlte:
    "Ich hörte, die Alexandriner seien ein überaus renitentes Völkchen, Sulpicius. Handelt es sich hier doch nur Lippenbekenntnisse?"
    "Keineswegs. Die Alexandriner lieben ihren Basileus heiß und innig. Nur das Steuernzahlen und die Ordnung lieben sie weniger."
    , replizierte Cornutus mit süffisantem Lächeln, was auch dem jungen Flavius einleuchtete, da selbst sein Vater bisweilen das Ende der Steuerbefreiungen des Patriziats hatte beklagt, obschon er seiner Natur entsprechend einem Revolutionär so ferne lag wie ein Kreis der Quadratur seiner selbst. Nur schemenhaft noch war Manius Minor jener paternale Dialog gewahr, in welchem Manius Maior sich selbst der Präparation einer Verschwörung hatte bezichtigt, was bisweilen den Jüngling bedächtig hinsichtlich seiner Sekuritäten gegen seinen Erzeuger stimmte, obschon letztlich stets die Einsicht obsiegte, dass jenes Geständnis lediglich Produkt seines Wahnes konnte gewesen sein, dem damalig der ältere Gracchus zweifelsohne war anheim gefallen. Insofern blieb auch dessen Antithese, nämlich das Zusammenfallens eines rebellischen Geistes mit geringer Neigung zum Beitrag für das Wohl des Imperiums, doch Treue zum Kaiserhause, pensabel.
    "Das heißt, sie rebellieren eher gegen den Praefectus und unsere Legionen?"
    , setzte Manius Minor somit nach einigem Spintisieren aufs Neue an, den Blick weiter auf die in der Tiefe liegende Skené gerichtet, wo sein Augenlicht ihm bessere Dienste erwies und ohnehin ein kurioses Prozedere sich entfaltete, welches die Ouverture jeder politischen Dezission in jenem Gemeinwesen darstellte.
    "Der Kaiser ist für die Alexandriner eine Gottheit. Es ist sinnlos, gegen die Götter zu rebellieren. Mit ihren Ratschlüssen zu hadern ist dagegen eine andere Geschichte. Kennst du die Geschichte von Claudius Pulcher und den capitolinischen Hühnern?"
    Den Historien seiner maternalen Ahnen hatte der claudisch-flavische Jüngling stets voller Inbrunst gelauscht, doch eine spezifische Relation jenes Consuln ohne Fortune aus den Zeiten der Punischen Kriege zu den augurischen Künsten war ihm unbekannt, sodass er letztlich vorwitzig das Haupt dem Sulpicius doch mehr zuwandte:
    "Nein, was meinst du?"
    "Man erzählt sich, er habe vor der Schlacht von Drepana die Heiligen Hühner von Bord geworfen, weil sie nicht fressen wollten. 'Wenn sie nicht fressen, sollen sie trinken!', soll er gesagt haben. Schlechte Nachricht ist eben ein schlechter Gast, wie der Volksmund sagt. Das gilt auch in Bezug auf den Kaiser.und seine Boten!"
    In der Tat war jene Anekdote dem flavischen Jüngling verschwiegen worden, womöglich um ihn nicht zu unklugen Despektierlichkeiten gegen die unsterblichen Götter zu motivieren, doch amüsierte jener krude Ratschluss des Claudius ihn in nicht geringem Maße, weshalb in juvenilem Übermut er gar sich mühte, jene Ironie durch eine Absurdität zu ergänzen:
    "Dann lasst uns hoffen, dass der Beschluss der Ekklesia heute nicht lautet, ihre rhomäischen Freunde der See zu übergeben!"
    "Da sei unbesorgt, junger Flavius. Die Alexandriner haben lange genug philosophiert, um so dumm nicht zu sein."
    , replizierte Cornutus somit und wandte seine Appetenz wieder dem Eponminatographos zu, welcher den ersten Tagesordnungspunkt verkündete.

  • Ob der vollendeten Akustik jenes Monumentes, das das Geplauder des Publikums minimierte, die Lautstärke der auf der Skené befindlichen Akteure hingegen potenzierte, vernahm der junge Flavius in größter Klarität die getragene Stimme des obersten Verwalters jener Polis, welcher proklamierte, dass zum Entrée die Frage der Wasserversorgung des Delta-Quartiers zur Disputation stand.


    Und sogleich wurde der Jüngling eines Mangels der Ochlokratie ansichtig, welchen er bisherig niemals hatte bedacht, da er doch eine derartig umfangreiche Kongregation an stimmberechtigten Gleichen niemals hatte erblickt, welche nunmehr sich samt und sonders in ein hitziges Wortgefecht stürzte. So ergriff erstlich der Ethniarchos der Iudaeer das Wort und verkündete in herzzerreißender Manier die Missstände seines Volkes, was Manius Minor indessen kaum zu vernehmen imstande war, da sogleich ein abscheuliches Geschrei und wütendes Pfeifen sich erhob, welches trotz sämtlicher Akustik die Stimme des augenscheinlich in freier Rede nicht unexerzierten Greisen übertönte. Mit einiger Verwunderung registrierte der Jüngling die Qualität jenes Hasses, deren Grund ihm gänzlich uneinsichtig war, obschon ihm selbstredend bekannt war, dass seit dem Bellum Iudaicum vor einigen Jahren, an welchem seine göttlichen Ahnen, Divus Vespasianus und Divus Titus federführend involviert gewesen waren, Alexandria die heimliche Metropole des Hebräertums darstellte und jene Vernichtung ihres Tempels (soweit er sich erinnerte, lagerte in den Schatzkammern der Villa Flavia Felix noch immer eine güldener, siebenarmiger Leuchter, welcher zum privaten Erbstück der Gens Flavia war erkoren worden) nicht grundlos mochte geschehen sein. Doch waren die Juden in dieser Stadt ohnehin von sämtlichen Bürgerrechten exkludiert und innerhalb jenes Moloches an Völkern, Religionen und Sitten mochte ein dem jungen Flavius eher verschlossener, wenn auch humorvoller Volksstamm, doch keineswegs als Bedrohung interpretabel erscheinen.


    Nichtsdestotrotz folgten dem Ethniarchen zahllose Philippicae gegen die Bewohner des nördlichsten und zugleich periphärsten Viertels der Stadt, welche die Juden diverser, dem unbedarften Auditoren überaus absurd erscheinender Verbrechen bezichtigten, respektive ihre Gier und Illoyalität hervorhoben und gar die Weisheit des Divus Vespasianus bemühten, welcher ja nicht ohne Grund ihren Tempel hatte vernichtet, woraus der Redner deduzierte, dass die Polis gut daran täte, selbiges gegen die Große Synagoge der Stadt zu iterieren. Dessenungeachtet setzte auch eine Minorität von Antragstellern zur Defension der Hebräer an, worunter der junge Flavius mit einigem Erstaunen erkannte, dass es sich bei selbigen augenscheinlich um einige seiner Lehrer am Museion handelte, was er sogleich Sulpicius zu eröffnen hatte:
    "Sieh, ist das nicht Iulius Aristeas, der am Museion Philologie lehrt?"
    "In der Tat."
    , erwiderte Cornutus und nickte.
    "Er ist bekannt als großer Freund der Juden. Man munkelt, er hätte ihnen sogar bei der Übersetzung ihres heiligen Buches in Griechische geholfen."
    "Er beherrscht die Sprache der Juden?"
    "Er ist nicht der einzige am Museion. Sind dir die vielen Juden dort noch nicht aufgefallen?"
    Einen Augenblick musste der Jüngling seine Impressionen reflektieren, doch dann musste er in der Tat konzidieren, dass ihm jene Menge an Lehrern und Schülern mit hebräischem Einschlag in ihre Koiné durchaus bereits aufgefallen waren, ja er sogar einmal in eine Lektion war gestolpert, in welcher ein Greis mit bizarrer Frisur eine Schar, teils similär frisierter Jünglinge hatte belehrt, wobei er über den Gott der Juden, welcher augenscheinlich inäquabel mit anderen Gottheiten und Mächten war und wohl den Namen Adonai trug, doziert hatte. Für eine Weile hatte der junge Flavius in der Tat sich bemüht, jenen überaus infamiliaren Gedanken zu folgen, musste indessen schlussendlich in einiger Konfusion sich möglichst ungehört retirieren.
    Konträr zum andächtigen Lauschen der Akroaten des Museions hob hier jedoch neuerlich ein Brüllen und Schimpfen des gemeinen Pöbels an, um selbst jedes winzige Wort zugunsten des verhassten Volkes zu übertönen.

  • Dies also schien der wahre Mangel der Ochlokratie zu sein, nämlich das Recht jedes Narren, am politischen Diskurs zu partizipieren. Rede reihte sich an Rede, eine absurder und irrationaler denn der vorherige, das Ziel der Disputation schien mit jedem Wort stärker aus dem Fokus zu geraten, um lediglich die Kulisse zu bieten für eine neue Assekuration des Hasses aller Hellenen gegen die hebräischen Bewohner der Stadt.
    "Wozu bemüht man sich überhaupt, diesen Antrag hier zu platzieren? Die Probabilität ihres Erfolges ist derartig niedrig, dass man sich dieses Theatrum besser hätte ersparen können."
    Sulpicius schien unterdessen das Interesse an den Invektiven und Defensionen gänzlich verloren zu haben, sondern hatte sich auf irrekonstruable Weise eine Schale mit Rosinen organisiert, um nun den frequenten Konsum zu suspendieren und mit wissender, doch dem jungen Flavius inidentifikabler Miene, auf die Szenerie zu deuten und zu erklären:
    "Achte auf die Abstimmung, junger Flavius!"
    Jene mirakulöse Divulgation nunmehr befeuerte, abseits der Ennuyanz zahlloser Deklamationen mit identer Thematik und bar jedweder Novitäten, die Unrast, endlich zum Finale dieses Sujets zu gelangen, was indessen noch eine Weile der Geduld prädisponierte.


    Als dann der Eponminathographos endlich zur Abgabe der Voten bat, hatte der junge Flavius, welcher ja bereits diverse Debatten des römischen Senates hatte hospitiert (obschon selbstverständlich von den Schranken an der Porta der Curia Iulia aus), bereits den Beschluss gefasst, vorzeitig jene Kongregation hinter sich zu lassen, die seine pretiose Zeit in derartig ineffektiver Manier konsumierten.


    Stupenderweise indessen kehrte mit einem Male eine relative Ruhe ein, während augenscheinlich eine ganze Schar an Wahlberechtigten sich organisierte. Vorwitzig spähte Manius Minor um sich, registrierte ein Tuscheln und Um-sich-Blicken der Politen. Cornutus hingegen schien geradezu relaxiert in seinen Sitz zu sinken, um mit einem Male einen Hellenen zwei Reihen vor ihm zu fixieren und selbigem zuzunicken. Der flavische Blick folgte selbigem Signale, welches deutlich vernehmlich mit hektischer Betriebsamkeit in die Reihen diffundierte und mit nicht geringem Interesse wurde rezipiert. Als sodann der Archiprytanes das Votum erbat, geschah das Erstaunliche:


    Denn obschon soeben noch eine gänzlich konträre Stimmung hatte vorgeherrscht, war der affirmierende Jubel zur Reparatur des deltaischen Aquädukts derartig vernehmlich (neuerlich eine Partikularität der alexandrinischen Volksherrschaft, die nicht mit Stimmen oder Umfrage, sondern dem plumpen Jubilieren des Pöbels wurde gemessen), dass eine Refutation gänzlich inimaginabel erschien und in der Tat durch die Gegenprobe wurde konfirmiert. Fassungslos blickte der junge Flavius zu Sulpicius, dessen triumphierendes Lächeln derartig breit ausfiel, dass es selbst dem hypermetropischen Jüngling ersichtlich war:
    "Lektion Nummer eins in alexandrinischer Politik: Nichts ist, wie es scheint!"
    Jene Plattitüde indessen vermochte keineswegs, Manius Minor zu saturieren, sodass sogleich er zur Frage ansetze:
    "Aber sie hassen die Juden? Du vernahmst es doch mit eigenen Ohren?"
    "Sie mögen die Juden hassen. Aber die alexandrinischen Kaufleute unterhalten hervorragende Geschäftsbeziehungen zu ihren jüdischen Kollegen. Kurz gesagt: So schlecht sind die Beziehungen nicht, wie es aussieht."
    "Ist Alexandria nicht eine Demokratie? Stellen die Kaufleute etwa eine Majorität jener Versammlung?"
    "Nein, natürlich nicht. Aber sie bringen das Geld in die Stadt, von dem auch der Pöbel lebt. Keine Demokratie überlebt, ohne dass diejenigen mit Verstand sie lenken. Im Grunde unterscheidet sich dieses System nicht grundsätzlich von dem, was in Rom zu Zeiten Ciceros geschah. Alle stimmen ab, und am Ende gewinnt der Adel!"
    Ratlos blickte der junge Flavius in die Menge, die noch immer mit nahezu similärer Inbrunst wie bei den vorherig ablehnenden Äußerungen nunmehr ihrer Zustimmung Stimme verliehen. Mochte dies similär zu jenen Reflexionen sein, die sie im Kontext von Ciceros Schriften hatten disputiert, als der Kauf von Stimmen und das Kalkulieren mit aristokratischen Klientelen zur Tagesordnung waren zu zählen gewesen, auch das Substrat des äußerlichen Sprechen von Demokratie und Äqualität jeder Stimme sein?
    "Das heißt, die Stimmen werden gekauft?"
    Rhetorische Verwindungen schienen hiesig noch in weitaus geringerem Maße gebräuchlich zu sein als in den Schriften der Republikaner, denn die simple Replik des Suplicius war:
    "Das kann man so sagen, ja."
    Mit jener Explikation erschien die Ekklesia in einem gänzlich neuem Licht. Einem Licht, welches es dem Jüngling gestattete, die impliziten Dynamiken der Entscheidungsfindung mit neuen Augen zu rekonstruieren, die unmerklichen Blickwechsel seiner Sitznachbarn, deren Zentrum augenscheinlich gleich einer Spinne im Netz der selbstgefällig sich lagernde Cornutus bildete und welches mit einer Präzision funktionierte, die jede der folgenden Tagesordnungspunkte der Agende im Sinne der besitzenden Klassen beschied, zu studieren. Wahrhaftig ließ sich hier manches erkunden, was den Informationen Manius Maiors zufolge durchaus auch in den Hallen des Senates zugute kommen mochte!

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